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„Überall liegen Leichen“ im Flüchtlingslager Jabalia im Norden von Gaza, das von der israelischen Armee belagert wird

Nachdem Israel eine neue Militäroperation gestartet hat, sind die Bewohnerinnen und Bewohner des nördlichen Gazastreifens in ihren Häusern gefangen. Krankenhäuser werden unter Beschuss genommen, ebenso wie fliehende Bewohnerinnen und Bewohner.


Von Ibrahim Mohammad und Mahmoud Mushtaha, 972 Mag, 10. Oktober 2024

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Die israelische Armee hat eine neue Großoffensive im Norden des Gazastreifens gestartet und dabei die drei nördlichsten Städte des Gazastreifens und ihre Umgebung eingeschlossen. Am frühen Sonntagmorgen wies die Armee die rund 400.000 im Norden des Streifens verbliebenen BewohnerInnen an, im Vorfeld einer neuen Militäroperation in das so genannte „humanitäre Gebiet“ im Süden zu ziehen. Viele weigerten sich, ihre Häuser zu verlassen, und die BewohnerInnen von Jabalia, Beit Hanoun und Beit Lahiya stehen seit Sonntagnachmittag unter heftigem Bombardement und sind von Gaza-Stadt im Süden abgeschnitten, während Panzer und Drohnen auf Menschen schießen, die zu fliehen versuchen.


Seit Beginn der jüngsten Operation wurden bereits über 120 PalästinenserInnen in dem Gebiet durch Luftangriffe, Artilleriebeschuss und Schüsse israelischer Soldaten und Quadcopter-Drohnen getötet. In die belagerten Gebiete gelangt keine humanitäre Hilfe, und Israel hat die letzte funktionierende Bäckerei in Jabalia bombardiert [und zerstört, Anm.].


Die israelische Armee hat außerdem die Evakuierung des gesamten medizinischen Personals und der PatientInnen aus den drei wichtigsten medizinischen Einrichtungen in dem Gebiet angeordnet: Das Kamal Adwan Krankenhaus und das indonesische Krankenhaus in Beit Lahiya sowie das Al-Awda Krankenhaus in Jabalia. BewohnerInnen des Flüchtlingslagers Jabalia, dem Hauptort der derzeitigen Bodeninvasion der Armee, berichten, dass Leichen auf den Straßen verstreut liegen und von Krankenwagen nicht geborgen werden können.


„Quadcopter-Drohnen schweben tief über den Straßen und schießen auf alles, was sich bewegt“, berichtet Mohammed Shehab, ein 27-jähriger Bewohner, dem Magazin +972 aus dem Lager. „Scharfschützen sind auf den Dächern positioniert und zielen auf jeden und jede, der nach draußen geht. Gleichzeitig sind Soldaten und Panzer in das Lager eingedrungen, haben Häuser demoliert und Straßen und Felder mit Bulldozern geräumt.“


Die israelische Armee, die sich (in der Vergangenheit) mit den Hamas-Truppen in dem Gebiet einen Schusswechsel lieferte und zahlreiche Opfer zu beklagen hatte, erklärte, die neue Operation diene dazu, die Versuche der Gruppe zu unterbinden, ihre operativen Fähigkeiten im Norden des Streifens wieder aufzubauen. Die Offensive erfolgt jedoch nur wenige Wochen nach Berichten, wonach Premierminister Benjamin Netanjahu einen als „Plan der Generäle“ [oder auch „Eiland-Plan“, Anm.] bekannten Vorschlag zur ethnischen Säuberung des gesamten nördlichen Gazastreifens durch eine Kampagne des Aushungerns und der Ausrottung in Betracht zieht. Daher gibt es weit verbreitete Befürchtungen - auch unter den BewohnerInnen von Gaza, die mit +972 sprachen - dass Israel diesen Plan nun in die Tat umsetzen könnte.


„Am Sonntagnachmittag begannen plötzlich schwere Bombardierungen“, erzählt Shehab. Er war zu dieser Zeit mit seinem Freund Abdel Rahman Bahr und Bahrs Bruder Mohammed zu Hause. „Abdel Rahman ging hinaus, um zu nachzuschauen, was passiert war - er dachte, sie hätten vielleicht eine Schule oder einen Wohnblock bombardiert. Er kam nicht zurück.“

„Stunden später gingen Mohammed und ich hinaus, um nach ihm zu suchen“, so Shehab weiter. „Plötzlich fingen Drohnen an, auf uns zu schießen. Mohammed wurde getroffen, und ich konnte entkommen. Ich weiß immer noch nicht, was mit Mohammed oder Abdel Rahman passiert ist.“


Die israelischen Streitkräfte haben auch palästinensische Journalisten angegriffen, die über den Einmarsch der Armee in Jabalia berichteten. Am Mittwoch wurden bei einem Luftangriff der Al-Aqsa-TV-Journalist Mohammad Al-Tanani getötet und sein Kollege Tamer Lubbad verwundet. Ein israelischer Scharfschütze schoss dem Al-Jazeera-Fotojournalisten Fadi Al-Wahidi in den Nacken; seinen Kollegen gelang es, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, wo er sich weiterhin in kritischem Zustand befindet. Nur wenige Tage zuvor wurde ein weiterer Journalist, der 19-jährige Hassan Hamad, bei einem Luftangriff auf sein Haus im Flüchtlingslager Jabalia getötet. Damit stieg die Zahl der seit dem 7. Oktober im Gazastreifen getöteten JournalistInnen nach Angaben des Palästinensischen Journalistenverbands auf 168.


„Sie wollen, dass wir in den Süden gehen, aber gibt es dort wirklich Sicherheit?“ fragt Shehab. „Mein Bruder wurde bei dem israelischen Angriff auf Al-Mawasi – wohin die Vertriebenen aus dem Norden fliehen sollen – getötet. Der gesamte Gazastreifen ist ein einziges Schlachtfeld.“

 

Ich weiß nicht, ob wir überleben werden


Zum dritten Mal seit Beginn der israelischen Bodeninvasion in Gaza Ende Oktober 2023 rücken die israelischen Streitkräfte in das Flüchtlingslager Jabalia vor. Sie rücken vom Osten her vor, auch an den Kreisverkehren Al-Tawam und Abu Sharkh im Westen sind Panzer stationiert, so dass die BewohnerInnen in ihren Häusern eingeschlossen sind. Ein Journalist, der sich im Lager aufhält, berichtet, dass die Bewohner Abu Sharkh inzwischen als „Kreuzung des Todes“ bezeichnen, da die israelischen Streitkräfte auf jeden schießen, der sich in diesem Gebiet aufhält.


„Wir sind in unserer Wohnung umzingelt“, erzählt Madah Abu Warda, 55, am Dienstag gegenüber +972. „Auf den Straßen liegen Leichen, und das Geräusch der Panzer ist ganz nah. Wir haben uns seit Beginn des Krieges geweigert, unsere Wohnung zu verlassen. Wie können wir jetzt gehen, nach all dem Grauen, das wir gesehen haben? Ich bin hier mit sieben Familienmitgliedern, und ich weiß nicht, ob wir überleben werden.“


In einem verzweifelten Versuch, sich in Sicherheit zu bringen, haben einige BewohnerInnen versucht, den eindringenden israelischen Streitkräften zu entkommen. Mohammed Shehada, ein 29-Jähriger Mann aus Jabalia, versuchte, mit seiner Familie in das Viertel Al-Rimal in Gaza-Stadt zu fliehen, aber auf dem Weg dorthin gerieten sie unter Beschuss. „Um uns herum fielen Schüsse“, berichtet er. „Meiner jüngste Schwester Aya, sie ist erst 12 Jahre alt, wurde von einer Drohne ins Bein geschossen. Die Krankenwagen waren weit weg, weil die Gefahr bestand, dass auch sie angegriffen werden, und ich wusste, dass sie uns nicht erreichen können, also trug ich meine Schwester zur nächsten medizinischen Einrichtung“, so Shehada weiter. „Je näher wir kamen, desto mehr Angst überkam mich, aber ich konnte sie nicht zurücklassen. Mein Herz raste vor Angst, während ich versuchte, ihr Leben zu retten.“

Shehada gelang es schließlich, Aya in das Al-Ahli Krankenhaus in Gaza-Stadt zu bringen, wo sie behandelt wurde.


Ein anderer Bewohner des Lagers, der 22-jährige Hamza Salha, musste mit ansehen, wie sein Großvater an einer Schrapnellwunde starb, nachdem Israel am Montag mit der „wahllosen Bombardierung“ der Gegend um sein Haus begonnen hatte. „Er starb direkt vor unseren Augen“, sagte Salha. „Sein toter Körper lag den ganzen Tag auf dem Boden, weil wir zu viel Angst hatten, uns zu ihm zu bewegen [für den Fall, dass israelische Soldaten sie entdecken und das Feuer eröffnen würden]. Als die Soldaten schließlich in ein anderes Gebiet weiterzogen, konnten wir ihn im Haus begraben. Es war ein Moment unbeschreiblichen Schmerzes und der Hilflosigkeit“.

Danach nutzte Salha einen kurzen Moment der Ruhe, um aus dem Lager zu fliehen. Der Rest seiner Familie plante, ihm zu folgen - aber sie kamen nicht. „Ich bin allein geflohen und habe keine Ahnung, wo meine Familie ist“, sagte er.


Selbst angesichts dieser Gefahren bestehen viele BewohnerInnen darauf, in ihren Häusern zu bleiben. Ahmed Nasser, 43, ist mit seiner Familie seit Sonntag im Lager eingeschlossen, ohne Zugang zu Nahrung oder Wasser. „Ich werde nicht gehen“, sagt er gegenüber +972. „Ich werde mein Zuhause oder das Lager, in dem ich aufgewachsen bin, nicht verlassen, trotz der Verwüstung und der Hungersnot um uns herum.“


Nasser beschreibt die Situation im Lager folgend: „Überall liegen Leichen, und die Verwundeten liegen auf der Straße, ohne dass ihnen jemand helfen kann. Es ist schwierig, sich fortzubewegen, da das Lager mit den Trümmern zerstörter Häuser und Autos übersät ist und israelische Scharfschützen auf hohen Gebäuden postiert sind.“


Dennoch sagte er: „Ich weigere mich, den Tod für noch mehr Tod zu verlassen. Es gibt keinen sicheren Ort, nicht im Norden und nicht im Süden. Die Besatzer versuchen, ihren Plan zur vollständigen Räumung des nördlichen Gazastreifens in die Tat umzusetzen und ihn in eine Militärzone zu verwandeln. Unsere Standhaftigkeit wird sie daran hindern.“


Abir Madi, 51, hat ihre beiden Söhne verloren, als ihr Haus im Lager am 14. Mai beschossen wurde, und auch sie weigert sich, das Lager zu räumen. „Warum sollten wir unser Lager verlassen und in den Süden gehen, wie es die Besatzung will? Dies ist unser Land; ich werde nur in den Himmel gehen“, sagt sie. „Es macht keinen Sinn, mein Zuhause zu verlassen, nur um in einem Zelt im Süden getötet zu werden. Die Besatzung schert sich nicht um das Leben von Zivilisten; sie zielt überall auf sie.“


„Wiederholt nicht den Fehler derer, die früher geflohen sind“, ruft sie ihre MitbürgerInnen auf. „Geht nicht weg. Bleibt im nördlichen Gazastreifen und sterbt dort.“

 

Ein Todesurteil für Tausende von PatientInnen


Am Dienstagabend meldete das Gesundheitsministerium des Gazastreifens, dass die israelische Armee die Evakuierung des Kamal Adwan Krankenhauses, des Indonesischen Krankenhauses und des Al-Awda Krankenhauses angeordnet hat. Ein weiteres Krankenhaus in Jabalia, Al-Yemen Al-Saeed, war das Ziel von Luftangriffen, bei denen mindestens 16 Menschen, die in Zelten Zuflucht gesucht hatten, getötet wurden.


Am Mittwoch begann das Personal des Kamal Adwan mit der Evakuierung von Frühgeborenen und anderen PatientInnen, als sich israelische Panzer und Soldaten näherten und drohten, das Krankenhaus zu zerstören. Hussam Abu Safiya, der Generaldirektor des Krankenhauses, warnte heute in einem Update vor den katastrophalen Bedingungen in der Einrichtung, da es an medizinischem Personal, Vorräten und Treibstoff fehle.


Dr. Marwan Al-Sultan, der Generaldirektor des indonesischen Krankenhauses in Beit Lahiya, erklärte am Mittwoch gegenüber +972, dass die Entscheidung der Armee, die Krankenhäuser im nördlichen Gazastreifen zwangsweise zu evakuieren, „einem Todesurteil für Tausende von PatientInnen und Verwundeten gleichkommt, die eine kontinuierliche medizinische Versorgung benötigen“.


Al-Sultan betonte, dass „das Krankenhaus noch immer PatientInnen und Verwundete versorgt, wir haben es noch nicht evakuiert. Es werden 28 PatientInnen behandelt, darunter zwei auf der Intensivstation, die von 17 medizinischen MitarbeiterInnen begleitet werden. Wir wissen jedoch nicht, was die nächsten Stunden bringen werden, und wir könnten jederzeit gezwungen sein, das Krankenhaus zu evakuieren“. Er rief dazu auf, dringend Druck auf Israel auszuüben, um den Evakuierungsbefehl rückgängig zu machen, die Versorgung des Nordens mit Treibstoff und Lebensmitteln zu gewährleisten und die Krankenhäuser und das medizinische Personal zu schützen.


Auch Dr. Mohamed Salha, Direktor des Al-Awda-Krankenhauses in Jabalia, bestätigte am Mittwoch gegenüber +972, dass „das Krankenhaus trotz der israelischen Drohungen seinen Betrieb fortsetzen wird und wir es unter keinen Umständen evakuieren werden. Das Krankenhaus ist überfüllt mit Verwundeten und Frauen, die entbinden und einen Kaiserschnitt vornehmen müssen. Achtundvierzig verletzte PatientInnen werden noch immer im Krankenhaus behandelt und benötigen ständige medizinische Betreuung. Die Verletzten, die wir erhalten, übersteigen die Kapazität des Krankenhauses“.


Obeida Al-Shawa, ein Beamter des Gesundheitsministeriums, äußerte seine dringende Besorgnis über die sich verschlechternde Situation im Kamal Adwan Krankenhaus. „Am Dienstagabend stellte die israelische Armee der Krankenhausleitung ein striktes Ultimatum von 24 Stunden, um das Krankenhaus vollständig zu evakuieren“, erklärte er. „Dies ist eine erschreckende Maßnahme, die das gesamte Gesundheitssystem im Norden, das bereits an den Rand des Abgrunds gedrängt wurde, zum Einsturz zu bringen droht.“


„Die Evakuierung des Kamal Adwan Krankenhauses ist unter der israelischen Belagerung unmöglich, da sie alles angreifen, was sich bewegt“, so Al-Shawa weiter. „Wir haben Anrufe von KollegInnen erhalten, die uns berichteten, dass die Armee sich bisher geweigert hat, eine sichere Durchfahrt für Krankenwagen zu koordinieren, um die Verwundeten zu evakuieren und in ein anderes Krankenhaus zu bringen.“


Für Al-Shawa unterstreicht die verzweifelte Lage der in Jabalia eingeschlossenen Menschen die Notwendigkeit, dass die Krankenhäuser weiter funktionieren. „Wir haben Zeugenaussagen von Überlebenden der Belagerung erhalten, die darauf hinweisen, dass Dutzende von Leichen auf dem Boden [im Lager] liegen. Medizinisches Personal konnte diese Personen nicht erreichen, da das Gebiet vollständig umzingelt und belagert ist.“

 

In einer Erklärung an +972 behauptete ein Sprecher der israelischen Armee, dass „die IDF ihre Angriffe nur auf militärische Ziele und Militärangehörige richtet und nicht auf zivile Objekte und ZivilistInnen, einschließlich Medienorganisationen und JournalistInnen, abzielt“ und dass sie daran arbeitet, die sichere Evakuierung von medizinischem Personal und PatientInnen aus Krankenhäusern im nördlichen Gazastreifen zu ermöglichen. Hochrangige israelische Verteidigungsbeamte und Armeekommandeure erklärten jedoch gegenüber Haaretz, dass es keine nachrichtendienstlichen Erkenntnisse gebe, die den aktuellen Angriff auf Jabalia rechtfertigten, dass die Truppen beim Betreten des Lagers nicht auf Hamas-Aktivisten gestoßen seien und dass die Operation offenbar darauf abziele, den nördlichen Gazastreifen von Palästinensern zu säubern und damit einen Schritt in Richtung Annexion des Gebiets zu machen.


Ibrahim Mohammad ist ein unabhängiger palästinensischer Journalist aus Gaza-Stadt, der über humanitäre und soziale Themen berichtet. Er hat einen BA-Abschluss in Journalismus und Medien der Al-Aqsa-Universität.

Mahmoud Mushtaha ist ein Journalist und Menschenrechtsaktivist aus Gaza. Er absolviert derzeit einen MA-Studiengang in Globalen Medien und Kommunikation an der Universität Leicester, UK.




 

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