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Über die gewaltsame Belagerung in Jenin

Die israelische Armee zerstört die zivile Infrastruktur, blockiert den Zugang zu medizinischer Versorgung und führt im Rahmen ihrer größten Operation im Westjordanland seit Jahren Massenverhaftungen durch.


Von Mariam Barghouti, 972Mag, 4. September 2024

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Am 28. August startete Israel die „Operation Sommerlager“, die größte Militärinvasion im nördlichen Westjordanland seit über zwei Jahrzehnten. In Jenin rückten die israelischen Streitkräfte zunächst in die Stadt ein, bevor sie das Flüchtlingslager innerhalb weniger Stunden vollständig belagerten; gleichzeitig führte die Armee Operationen in Tubas, Nablus, Ramallah und Tulkarem durch.


Seit 2021 hat das israelische Militär unter dem Vorwand, bewaffnete Widerstandsgruppen zu bekämpfen, wiederholt das Flüchtlingslager Jenin angegriffen. Die meisten Opfer dieser Angriffe waren nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) nicht-kämpfende palästinensische ZivilistInnen und Minderjährige.


Nach Angaben von palästinensischen AnwohnerInnen und JournalistInnen handelt es sich bei den derzeitigen Angriffen um die heftigsten und gewalttätigsten seit Jahren, bei denen mindestens 19 Palästinenser in Jenin getötet wurden, darunter auch Minderjährige. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer dramatischen Zunahme der israelischen Militäroperationen und Siedlergewalt im gesamten Westjordanland nach dem 7. Oktober, bei denen fast 700 PalästinenserInnen in dem Gebiet - 185 allein in Jenin - auf brutale Weise getötet wurden.


Vor kurzem wurde auch berichtet, dass die Armee am 30. September den 83-jährigen Tawfiq Qandeel im Lager in Jenin erschossen und ihn auf der Straße zurückgelassen hat, wo er ohne Zugang zu medizinischer Versorgung starb. Zwei Tage später wurde in den sozialen Medien ein Video veröffentlicht, das zeigt, wie israelische Militärfahrzeuge über die Leiche von Qandeel fahren.


Bomben, Bulldozer, Kugeln

Während die israelische Armee behauptet, die Jenin-Brigaden und andere palästinensische Widerstandsbewegungen zu bekämpfen, hat die derzeitige Operation große Teile der zivilen Infrastruktur im Flüchtlingslager verwüstet, was eindeutig eine Form der kollektiven Bestrafung darstellt.

„Sie haben unser Haus in die Luft gesprengt, sie haben es in die Luft gesprengt!“ so die 72-jährige Khayriyeh Khrayneh gegenüber +972, kurz nachdem sie gezwungen worden war, aus ihrem Haus in der Nähe des östlichen Viertels des Flüchtlingslagers Jenin zu fliehen.


Vier Tage nach Beginn der Operation war die Stadt Jenin weitgehend zu einer Geisterstadt geworden, während sich das Flüchtlingslager in ein Schlachtfeld verwandelte. Die palästinensische Bevölkerung war gezwungen, in ihren Häusern zu bleiben, während israelische Soldaten Gebäude in Militärstützpunkte umwandelten und Scharfschützen auf verschiedenen Dächern postierten. ZivilistInnen, darunter Kinder, ältere Menschen und chronisch Kranke, wurde im Zuge der vollständigen Belagerung des Flüchtlingslagers der Zugang zu Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten verwehrt.


„Wir durften nicht einmal ein Glas Wasser trinken“, weinte Khrayneh, als sie zwischen Bomben, Bulldozern und scharfer Munition gefangen waren. Khrayneh und ihre Tochter wurden mit Waffengewalt zur Flucht aus ihrem Haus gezwungen, wobei sie nur eine kleine schwarze Handtasche mit ihren Ausweisen und Pässen mitnehmen konnte.


Ihre drei Söhne (der jüngste von ihnen ist 16 Jahre alt) und ihr Ehemann wurden alle von der israelischen Armee mitgenommen - Teil einer Kampagne von Massenverhaftungen, die sich gegen die Männer und Buben von Jenin richtete, wie AugenzeugInnen im Lager berichten. Khraynehs Ehemann ist an Diabetes erkrankt und braucht ständige medizinische Betreuung; ihr ältester Sohn, 41, kämpft gegen Krebs.

„Er hatte gerade eine Chemotherapie hinter sich“, erzählt Khrayneh, die ihre Tränen zurückhält, als der Rauch über den Trümmern ihres Hauses nur wenige Meter entfernt aufsteigt.


Obwohl der Presse der Zugang zum Lager verwehrt wurde, hallten die Geräusche von Explosionen und Maschinengewehrfeuer durch ganz Jenin. Zahlreiche israelische D-9 Bulldozer, gepanzerte Mannschaftstransporter und gepanzerte Jeeps bewegten sich durch die Straßen der Stadt. Am Himmel über Jenin schwirrten Drohnen, wobei unklar war, ob es sich um Überwachungsdrohnen oder um die tödlichen Quadcopter handelte, die Israel sowohl in Gaza als auch im Westjordanland häufig einsetzt.

Einigen PalästinenserInnen ist es gelungen, aus dem Lager zu fliehen - meist Frauen und Kinder, die oft mit vorgehaltener Waffe von israelischen Soldaten vertrieben wurden, die in ihre Häuser eingedrungen waren und die Männer und Jungen der Familien festhielten.


Diejenigen, die geflohen sind, beschrieben die Brutalität der israelischen Militärtaktik in der vergangenen Woche: Panzerabwehrgranaten, die die zivile Infrastruktur zerstören, Kampfhunde, die auf Familien gehetzt werden, palästinensische Gefangene, die als menschliche Schutzschilde benutzt werden, und scharfe Munition, die unkontrolliert und rücksichtslos abgefeuert wird.


Blockade von Krankenhäusern und Krankenwagen


Während die Militäroperation innerhalb des Flüchtlingslagers wütete, blieben die BewohnerInnen der Stadt und ihrer Umgebung von den Auswirkungen der Belagerung nicht verschont. Während die Armee durch die Straßen zog und auf Autos schoss, wurde für die PalästinenserInnen in Jenin eine strikte Ausgangssperre verhängt und der Zugang zur Stadt von außen stark eingeschränkt.


„Wir sind seit Tagen in unseren Häusern eingeschlossen“, so Saed Souki aus der Stadt Al-Batal, etwas außerhalb des Stadtzentrums von Jenin, gegenüber +972. „Wir haben seit Tagen keinen Zugang zu den grundlegendsten Dingen, wie Mehl und Babynahrung. Jeder Versuch, die Belagerung zu umgehen, wurde mit brutaler Gewalt beantwortet: Am 1. September bombardierte und tötete das israelische Militär drei palästinensische Kinder aus Seela Harthiya, westlich von Jenin, als sie auf ihrer Vespa fuhren, nachdem sie Brot an EinwohnerInnen von Jenin geliefert hatten.1 


Nicht einmal Krankenwagen konnten die Stadt durchqueren, um das Flüchtlingslager zu erreichen. Nach Angaben des Leiters des Palästinensischen Roten Halbmonds in Jenin, Mahmoud Al-Saadi, „wurde auf die Krankenwagen geschossen und den Sanitätern die Einfahrt nach Jenin verweigert, auch nicht um die Leichen der getöteten Palästinenser zu bergen, obwohl sie in Abstimmung mit der israelischen Armee Genehmigungen erhalten hatten.“


Zu Beginn der Operation verhängte das Militär auch eine vollständige Abriegelung des Krankenhauses von Jenin, des einzigen öffentlichen Allgemeinkrankenhauses in der Stadt. Die israelische Grenzpolizei (Magav) wurde mit der Kontrolle der Ein- und Ausgänge des Krankenhauses beauftragt und erklärte die unmittelbare Umgebung zu einer „geschlossenen Zone auf militärischen Befehl“.


Das Allgemeinkrankenhaus nimmt weiterhin PatientInnen in Krankenwagen auf, allerdings erst, nachdem sie von Magav-Beamten angehalten und kontrolliert wurden, PatientInnen wurden mitunter gezwungen, ihre Ausweise zu zeigen.


Außerhalb der Stadt ist der Weg nach Jenin von Kontrollpunkten und Straßensperren der Armee gesäumt, die nicht nur PalästinenserInnen, sondern auch JournalistInnen und medizinisches Personal an der Fortbewegung hindern. Und mit der Ausweitung der israelischen Operationen im gesamten Westjordanland wird es genauso gefährlich, Jenin zu verlassen, wie in der Stadt zu bleiben.


„Ich bin seit vier Tagen hier und konnte wegen der anhaltenden Ereignisse nicht nach Hause gehen“, so Huda Badran, Krankenschwester im Al-Amal-Krankenhaus, das an das Flüchtlingslager Jenin angrenzt, gegenüber +972. Badran, die aus Tulkarem - 60 km südwestlich von Jenin - stammt, sagt, dies sei das erste Mal in den 18 Jahren, in denen sie in der Klinik arbeite, dass sie fast eine Woche lang nicht nach Hause konnte.


„Man weiß nicht, was passieren wird“, erklärt sie, und angesichts der gleichzeitigen Militäroperation in Tulkarem „ist nicht nur von hier weg-, sondern auch zuhause anzukommen mit Risiken verbunden‘.

Die israelische Armee gibt an, dass palästinensische Widerstandsgruppen das Hauptziel des Angriffs auf Tulkarem waren; zu den in den letzten Tagen Getöteten gehören ein Mitbegründer der Tulkarem-Brigade, Mohammad „Abu Shuja“ Jaber, sowie die Kämpfer Majd Daoud und Dousom Srouji.


Doch wie in Jenin wurden auch die Flüchtlingslager von Nour Shams und Tulkarem mit ihren BewohnerInnen abgeriegelt, so dass weder Medien noch medizinisches Personal Zutritt hatten. Als sich das israelische Militär am 30. August aus den Lagern in Tulkarem zurückzog, hinterließ es eine Spur der Verwüstung, bei der mindestens drei Menschen getötet und Dutzende verletzt wurden.


Die Armee griff die beiden Lager am 2. September erneut an, wobei mindestens ein Minderjähriger, der 14-jährige Mohammad Kanaan, getötet und sein Vater durch einen Schuss in die Taille verletzt wurde. Diesmal behinderte die israelische Armee nicht nur den Zugang für JournalistInnen, sondern ging auch direkt gegen MedienvertreterInnen vor.


Es ist das nächste Gaza


Es ist noch unklar, wie lange das israelische Militär die Operation „Sommerlager“ fortzusetzen gedenkt. Der Bürgermeister von Jenin, Kamal Abu Al-Rub, versuchte Berichten zufolge, eine Waffenruhe mit der Armee zu vereinbaren, um dringende Hilfsgüter in das Flüchtlingslager zu bringen, doch seine Bemühungen wurden abgelehnt.


Nachdem die Jenin-Brigaden am vierten Tag der Belagerung in einem gemeinsamen Hinterhalt einen israelischen Soldaten getötet hatten, verstärkten die Israelis ihre Operationen. „Wir haben nicht die geringste Absicht, zuzulassen, dass der Terrorismus ... sein Haupt erhebt“, so Israels Armeechef Herzi Halevi in einer Erklärung. „Deshalb geht die Operation von Stadt zu Stadt, von Flüchtlingslager zu Flüchtlingslager.“


Jedoch haben solche israelischen Militärangriffe nur dazu beigetragen, den Unmut unter der palästinensischen Zivilbevölkerung - die die Hauptlast der Angriffe trägt - zu vergrößern und die Rekrutierung von Widerstandsgruppen voranzutreiben.


„Was glauben Sie, was sie tun? Sie drängen auf eine Eskalation, damit sie uns vollständig vertreiben können“, so A., ein 30-jähriger Bewohner von Jenin, der aus Angst vor den israelischen Massenverhaftungen anonym bleiben möchte. „Sie machen das Leben für uns unerträglich“, erklärte A.. „Das treibt uns natürlich zur Konfrontation, und wenn wir das tun, verschärft das israelische Militär seine Misshandlungen weiter.“


Als A. mit +972 sprach, hatten die israelischen Streitkräfte den Obst- und Gemüsemarkt von Jenin in Brand gesetzt, mindestens 70 Prozent der Straßen im Lager und in den umliegenden Gebieten mit Bulldozern zerstört und die Wasserversorgung des Lagers und von 80 Prozent von Jenin komplett abgestellt. Und da Israel Berichten zufolge plant, das gesamte Westjordanland zur „Kampfzone“ zu erklären, warnen israelische Regierungsvertreter, dass „die Operation in Jenin erst der Anfang ist“.


„Wissen Sie, was Jenin ist? Es ist ein weiteres Gaza, und Gaza ist Palästina“, bekräftigte A.. „Wir können sie nicht weiter voneinander trennen, denn die Angriffe haben es auf uns PalästinenserInnen abgesehen und hier wie dort wird die gleiche Argumentation verwendet, um die palästinensische Bevölkerung von ihrem Land zu vertreiben.“

 

Die IDF hat bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht auf die Bitten von +972 um eine Stellungnahme geantwortet; ihre Erklärungen werden hinzugefügt, sobald sie eingegangen sind.

 

Mariam Barghouti ist eine palästinensisch-amerikanische Journalistin und Schriftstellerin mit Sitz in Ramallah.

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1) Siehe dazu auch: Israeli forces kill three Palestinian boys in Jenin, 2. September 2024 https://www.dci-palestine.org/israeli_forces_kill_three_palestinian_boys_in_jenin_september_2



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