MitarbeiterInnen von Ärzte ohne Grenzen (MSF) berichten über die verzweifelte Lage im Norden des Gazastreifens, wo die israelischen Streitkräfte die Belagerung fortsetzen, während der Winter naht.
3. Dezember 2024
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
„Ich bin jetzt in Beit Lahia in den Baracken rund um das Kamal Adwan Krankenhaus untergebracht. Ich bin hier mit zehn Mitgliedern meiner Familie, darunter meine Söhne und Enkelkinder.
Ich bin seit dem 5. November hier. Davor war ich im Al-Yemen Al-Saeed Krankenhaus untergebracht, aber [die israelischen Streitkräfte] haben uns aufgefordert zu fliehen. Also kamen wir hierher.
Meine Frau ist an rheumatischer Arthritis erkrankt und kann sich nicht bewegen. Sie bräuchte eine Operation, um die Gelenke in ihren Beinen und Händen zu ersetzen. Vor dem Krieg hatten wir eine Überweisung nach Ägypten oder ins Westjordanland, um sie behandeln zu lassen. Sie leidet, und wir haben keine Lösungen. Ich habe nicht einmal einen Rollstuhl, in dem ich sie bewegen kann.
Wir haben einmal versucht, aus Beit Lahia zu flüchten, aber sie hatte Mühe zu gehen. Es war sehr schwierig. Unterwegs trafen wir einige Leute, die zurück nach Beit Lahia kamen. Sie sagten uns, dass die [israelischen] Soldaten am Kontrollpunkt niemanden weitergehen ließen, also beschlossen wir, wieder umzukehren.
Die Bombardierung hört nicht auf. Man kann den Beschuss und die Angriffe Tag und Nacht hören. Manchmal ist es weniger, manchmal ist es mehr. Es ist überhaupt nicht sicher.
Ich versuche mein Bestes, um vor der Familie und den Kindern stark zu sein, aber die Wahrheit ist, dass ich Angst habe. Es ist eine echte Angst. Ich erwarte jeden Moment den Tod. Ich frage mich, welche Art von Tod mich und meine Kinder ereilen wird. Ich weiß es nicht.“
Haydar, Fahrer für Ärzte ohne Grenzen, Beit Lahia, 3. Dezember 2024
Seit über 45 Tagen wüten die Angriffe im nördlichen Gazastreifen, wo die im Oktober begonnene Operation der israelischen Streitkräfte zu einigen der schrecklichsten und gewalttätigsten Angriffe geführt hat.
MitarbeiterInnen von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) sind in diesem Teil des Gazastreifens vor Ort, um während der anhaltenden Angriffe Schutz zu bieten und lebenswichtige medizinische Versorgung zu leisten. Zu ihnen gehörte Caroline Seguin, eine MSF-Notfallkoordinatorin, die vor kurzem abgereist ist. Im Folgenden schildern sie die apokalyptische Situation, mit der sie konfrontiert sind.
Seit dem 6. Oktober 2024 wird die Region Nord-Gaza ständig von den israelischen Streitkräften angegriffen. Es ist Ihnen gelungen, Gaza-Stadt zu erreichen. Wie ist die Lage vor Ort?
SEGUIN: Es ist sehr schwierig und gefährlich, in den nördlichen Gazastreifen zu gelangen. Man muss den Netzarim-Korridor überqueren, eine Linie, die den nördlichen und den südlichen Gazastreifen trennt. Dieser Korridor, der zu Beginn des Krieges eine einfache Straße war, ist jetzt 8 Kilometer lang und wird von den israelischen Streitkräften kontrolliert. Obwohl die Hilfsorganisationen ihre Bewegungen mit den israelischen Streitkräften abstimmen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, kommt es häufig zu Zwischenfällen, und in letzter Zeit wurden Fahrzeuge von Hilfsorganisationen innerhalb des Korridors angegriffen.
Sobald man den Korridor verlassen hat, kommt man in Gaza-Stadt an. Es ist, als käme man in eine Geisterstadt: überall Zerstörung, alles plattgemacht, kein einziges Gebäude steht mehr. Es gibt weite Gebiete, in denen niemand mehr lebt, abgesehen von ein paar umherziehenden BewohnerInnen, die versuchen, die Reste der zerstörten Häuser zu bewohnen.
In der Nacht zum 28. November, gegen ein Uhr nachts, wurde das Gebäude 70 Meter von unserer Klinik entfernt bombardiert. Granatsplitter trafen das Klinikgebäude, glücklicherweise ohne jemanden zu verletzen. In der Umgebung der Klinik von Ärzte ohne Grenzen leben etwa 25 000 Vertriebene, und seit ihrer Ankunft im Oktober nach den zerstörerischen Angriffe der israelischen Streitkräfte auf den nördlichen Gazastreifen haben sich die medizinischen Aktivitäten verdoppelt. Die Kämpfe sind in vollem Gange, und die Situation ist apokalyptisch, mit Angriffen von Drohnen, Quadcoptern und Bombardierungen. Zwei unserer Kollegen sind immer noch in Beit Lahia und Jabalia eingeschlossen, und wir konnten sie nicht evakuieren. Am 21. November wurde das Krankenhaus Kamal Adwan erneut bombardiert, wobei medizinisches Personal verletzt wurde.
Was sind die Folgen der israelischen Blockade der humanitären Hilfe für den Gazastreifen?
Wir dachten, das Schlimmste läge hinter uns, aber ich glaube, das Schlimmste kommt erst noch. Heute stehen wir vor mehreren großen Problemen, von denen das erste die Lieferung von humanitärer Hilfe in den Gazastreifen ist. Wir haben immer wieder Probleme mit der Validierung durch COGAT [israelische Koordinierungsbehörde], um humanitäre Hilfe, wie zum Beispiel alle medizinischen Geräte, Medikamente, Lebensmittel usw., die per Lastwagen transportiert und von den israelischen Behörden systematisch kontrolliert wird, einzuführen. Dieses bewusst komplexe System physischer und bürokratischer Hindernisse wurde von Israel geschaffen, um den Zustrom von Hilfsgütern nach Gaza zu behindern.
Die wenigen Lastwagen, die es schaffen, in den Gazastreifen zu gelangen, werden fast systematisch von Banden an den Grenzübergängen Kerem Shalom und Kissoufim geplündert. Am 16. November wurden von den 109 Lastwagen des Welternährungsprogramms (WFP), die in den Gazastreifen kamen, 98 geplündert. Am 30. November versuchte auch das UNRWA, Lebensmittel-LKW über Kerem Shalom hineinzubringen, und sie wurden alle geplündert.
Neben den Nahrungsmitteln gibt es auch Probleme mit Treibstoff. Kürzlich konnten die Vereinten Nationen einige Lastwagen heranschaffen, aber die Lage ist weiterhin sehr angespannt. Vor zehn Tagen waren wir gezwungen, die Verteilung von Trinkwasser um die Hälfte zu reduzieren, weil es nicht genug Treibstoff für die Verteilungs-Lastwagen gab. Ärzte ohne Grenzen gehört derzeit zu den größten humanitären Wasserlieferanten im Gazastreifen, aber der Bedarf ist enorm, und wir können nicht alle Bedürfnisse stillen.
Das Verbot des UNRWA und seiner Aktivitäten durch ein am 28. Oktober vom israelischen Parlament verabschiedetes Gesetz ist ein verheerender Schlag und gibt Anlass zu großer Sorge. Das UNRWA ist eine wichtige Stütze für die PalästinenserInnen und der größte Anbieter von Gesundheitsdiensten im Gazastreifen. Das UNRWA ist auch für fast die gesamte Verteilung der Hilfsgüter der Vereinten Nationen verantwortlich. Wir wissen also nicht, wie wir ohne sie auskommen sollen. Die Folgen wären katastrophal für die ohnehin schon katastrophale humanitäre Lage in Gaza.
Ärzte ohne Grenzen ist auch im südlichen Gazastreifen tätig, wo sich über 1,7 Millionen Menschen aufhalten. Wie sehen die Lebensbedingungen bei Wintereinbruch aus?
Im südlichen Gazastreifen sind 1,7 Millionen Menschen im Regen und im Schlamm aufeinander gestapelt, mit Hunger im Bauch und Bomben, die auf sie fallen. Die Lage ist katastrophal.
Der Winter kam schnell und die Unterkünfte sind nach einem Jahr, in dem sie Sonne, Wind und Regen ausgesetzt waren, nicht mehr einsatzbereit. Sie sind überhaupt nicht an die Kälte oder die sintflutartigen Regenfälle angepasst, die wir in den letzten Wochen in Gaza erlebt haben. Einige Gebiete wurden vollständig überflutet, und auch die Zelte am Meer wurden teilweise überschwemmt.
Da die israelischen Behörden die Lieferung von humanitärer Hilfe und kommerziellen Lastwagen behindern, kommt es zu Engpässen, insbesondere bei Lebensmitteln. Die Märkte beginnen sich zu leeren, die Bäckereien schließen, und die Preise steigen. Ein kleiner Fladen Brot, der vor einigen Wochen noch ein paar Cent kostete, kostet jetzt 5 Schekel, etwas mehr als 1 Euro. In diesem Zusammenhang ist die Unterernährung wirklich ein wachsendes Problem.
Die gesamte Situation führt zu sehr starken Spannungen innerhalb der Gemeinden und Familien, die manchmal in Gewalt enden. Die Menschen sind äußerst angespannt.
Die Teams versuchen, den medizinischen Bedarf zu decken, insbesondere im Nasser-Krankenhaus in Khan Younis, das ständig überfüllt ist. Außerdem haben wir das Feldkrankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Deir al-Balah im Zentrum des Gazastreifens, wo die Teams pädiatrische Versorgung, reproduktive Gesundheitsfürsorge für schwangere Frauen, Physiotherapie und allgemeine medizinische Beratung anbieten. Derzeit laufen Vorbereitungen, um die Zahl der Betten zu erhöhen, da die Zahl der kranken Kinder aufgrund des kalten Wetters und der Lebensbedingungen zunehmen wird.
Gaza bedeutet heute Kälte, Hunger und Bomben. Wir brauchen unbedingt einen Waffenstillstand und einen massiven und uneingeschränkten Zustrom von Hilfsgütern, um das Leiden von Tausenden von Menschen zu beenden, von denen die meisten Frauen und Kinder sind, die auch die meisten Toten in diesem Krieg zu beklagen haben.
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