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Zur Situation von Menschen mit Behinderung in Gaza

Bereits im Mai 2024 riefen die Vereinten Nationen in einer Stellungnahme Israel dazu auf, seinen Verpflichtungen als Besatzungsmacht gemäß Artikel 11 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen nachzukommen und alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen in Risikosituationen, einschließlich Situationen bewaffneter Konflikte, zu gewährleisten.


Laut UN sind Menschen mit Behinderungen in Gaza in äußerste Gefahr und müssen damit rechnen, als erste und nächste getötet werden, da sie aufgrund ihrer Beeinträchtigung nur begrenzte Möglichkeiten haben, zu fliehen. Die großflächige Zerstörung von Häusern und ziviler Infrastruktur und die daraus resultierenden Trümmer haben jede Möglichkeit der Bewegung eingeschränkt, die für Flucht, Evakuierung und Schutzsuche unerlässlich ist.


In der UN-Stellungnahme wird beispielsweise über ein 14-jähriges Mädchen mit zerebralen Lähmungen berichtet, das mit ihrer Familie aus Ost-Rafah flüchten musste und von seinen Eltern während der Flucht getragen wurde, da bei Angriffen ihr Rollstuhl verloren gegangen war. Erschöpft und verzweifelt von der gefährlichen Flucht rief das Mädchen immer wieder, dass ihre Eltern sie zurücklassen sollten, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Ihre Situation verdeutlicht die ständige psychische Belastung und das Trauma, dem Kinder mit Behinderungen ausgesetzt sind.


Oder Kinder wie Amir, ein Junge mit geistiger Behinderung, der gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder aus Khan Younis vertrieben wurde und im überfüllten Flüchtlingslager keine Möglichkeit für Bildung und Rehabilitation hat, die für seine frühe Entwicklung, einschließlich seiner kommunikativen Fähigkeiten, entscheidend sind.

Die Aussetzung des Schuljahres 2023-2024, die Schließung von Regierungsschulen und die Zerstörung von mindestens 65 Schulen, die zuvor von der UNWRA verwaltet wurden, sowie die Nutzung von Schulen als Notunterkünfte haben das Bildungssystem für Kinder mit geistigen Behinderungen laut UN weiter stark beeinträchtigt. Vor dem 7. Oktober waren etwa 21.000 Kinder in Gaza als Kinder mit geistigen Behinderungen gemeldet. Insgesamt gab es in Gaza vor dem 7. Oktober rund 130 000 Menschen mit Behinderungen.




Israels Völkermord kennt keine Gnade für Menschen mit Behinderungen in Gaza

 

Sie spüren die Bomben, hören sie aber nicht, werden ohne ihre medizinische Ausrüstung vertrieben und von Hunden der Armee zerfleischt: So überleben und sterben Palästinenserinnen und Palästinenser mit körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen unter den Angriffen Israels.

Von Ibtisam Mahdi, 972Mag, 27. September 2024

(Originalbeitrag in englischer Sprache und mit dazugehörendem Fotomaterial)

 

Am Nachmittag des 23. Juli gingen in Bani Suheila, östlich von Khan Younis, plötzlich Artilleriegranaten aus allen Richtungen nieder. Die Familie Al-Najjar stürzte in Panik aus ihrem Haus und versuchte verzweifelt, dem wahllosen Bombardement zu entkommen. Doch als sie aus der unmittelbaren Schusslinie entkommen waren, stellten sie fest, dass ein Familienmitglied fehlte.


Iyad, 37, litt seit langem an einer kognitiven Beeinträchtigung und eingeschränkter Mobilität. Als die Familie aus ihrem Haus floh, erinnerte sich sein Bruder Mohammad, „dachte jeder von uns, dass jemand anderes Iyad mitgenommen hatte. Die Situation war katastrophal: Zuerst gab es wahllosen Beschuss, und dann begannen die Panzer, in das Gebiet einzudringen“. Die ganze Zeit über blieb Iyad im Haus gefangen.


Da sie nicht in ihr belagertes Haus zurückkehren konnten, wartete die Familie von Iyad etwa eine Stunde lang in der Nähe, um zu sehen, ob er ihnen irgendwie folgen konnte, obwohl er fast bewegungsunfähig war. „Wir hatten noch Hoffnung, dass er auftauchen würde“, sagte Mohammad gegenüber +972. „Aber der Beschuss kam näher, und wir mussten uns an einen sichereren Ort begeben.“


Nachdem die Familie eine Woche in einem Zelt in der Nähe des Nasser-Krankenhauses verbracht hatte, konnte sie endlich nach Hause zurückkehren, nachdem sich die israelischen Streitkräfte aus dem Gebiet zurückzogen. Doch als sie dort ankamen, fanden sie Iyads verwesenden Körper im Garten, durchlöchert von Einschusswunden.


Mohammad war schockiert, ihn dort zu finden, da es für Iyad sogar schwierig gewesen wäre, überhaupt das Wohnzimmer zu verlassen, wo die Familie ihn zuletzt gesehen hatte. „Wir sind überzeugt davon, dass er in den Garten geschleppt und dort hingerichtet wurde“, so Mohammad.

„Jeder, der meinen Bruder Iyad sieht, würde erkennen, dass er behindert ist und für niemanden eine Gefahr darstellt“, fügt er hinzu. „Dennoch wurde er in unserem Haus hingerichtet. Die Soldaten hätten ihn am Leben lassen können - er hätte ihnen nichts getan.“

Die israelische Armee lehnte es ab, auf die Anfragen von +972 zu den Umständen der Ermordung von Iyad zu antworten.


Seit dem 7. Oktober sind die PalästinenserInnen im gesamten Gazastreifen ununterbrochenem israelischem Bombardement, mehreren Runden von Zwangsvertreibungen, Krankheiten, Hungersnöten und zahllosen anderen Herausforderungen ausgesetzt. Das Leiden der rund 130 000 behinderten PalästinenserInnen im Gazastreifen wurde durch diese Lebensumstände erheblich verschlimmert.


Nach Angaben der Vereinten Nationen hat die israelische Armee die Evakuierung von mehr als 80 Prozent der Gesamtfläche des Gazastreifens angeordnet. Wenn man gezwungen wird, sein Zuhause zu verlassen, so ist das für jede Person eine schwierige Sache, aber Menschen mit Behinderungen haben von immensen Schwierigkeiten berichtet, zu fliehen. Und da die große Mehrheit der Krankenhäuser, Kliniken und medizinischen Zentren entweder zerstört oder nicht mehr funktionsfähig ist, haben behinderte PalästinenserInnen kaum Zugang zu den medizinischen oder rehabilitativen Diensten, die für die Behandlung ihres Zustands oftmals erforderlich sind.


„Ihr Gefühl, nicht in der Lage zu sein, weiterzuleben oder mit der aktuellen Situation zurechtzukommen, hat sich – so wie auch das Gefühl von Minderwertigkeit – verstärkt“, berichtet Zarif Al-Ghora, der Leiter des Netzwerks der Behindertenbeauftragten, das alle im Gazastreifen ansässigen Einrichtungen und Gruppen vertritt, die mit Menschen mit Behinderungen arbeiten, gegenüber +972. „Viele haben es nicht geschafft, zu überleben.“ Und jene, die überlebt haben, wie auch die Familien der Getöteten, „haben alle eine Geschichte zu erzählen, davon, was sie durchmachen mussten.“

 

Wir konnten ihn nicht retten - weder vor den Soldaten noch vor dem Hund


Während die Familie Al-Najjar eine internationale Untersuchung fordert, um herauszufinden, warum Iyad hingerichtet wurde und wie die Umstände seiner letzten Tage waren, weiß die Familie Bahar aus dem Gebiet Shuja'iya östlich von Gaza-Stadt genau, was mit Mohammad, einem 24-Jährigen mit Down-Syndrom und Autismus, geschehen ist.


Als Israel am 27. Juni erneut in Shuja'iya einmarschierte, bestand die Familie darauf, trotz des intensiven Beschusses in ihrem Haus zu bleiben. „Wir waren erschöpft, weil wir bereits mehr als 15 Mal fliehen mussten“, so Nabila Bahar, die Mutter von Mohammad, gegenüber +972. „Jedes Mal hatten wir Mühe, Mohammad davon zu überzeugen, das Haus zu verlassen: Er weinte viel und fragte immer wieder nach seinem Rollstuhl und dem Haus. Deshalb beschloss ich, während der letzten Invasion nicht zu gehen, in der Hoffnung, dass die Armee uns Gnade erweisen würde, wenn sie von seinem Zustand erfahren.“


Als die Bombardierungen um das Haus der Familie Bahar zunahm, mussten sie sich in verschiedenen Teilen des Hauses verstecken. „Wir haben uns oft in den Toiletten versteckt, weil das der sicherste Ort war, wenn die Schüsse heftig waren“, erklärte Nabila. „Mohammad hat seinen Rollstuhl nicht verlassen, auch dann nicht, als wir uns versteckten.“


Nach einer siebentägigen Belagerung stürmte die Armee das Haus der Bahars. „Sie schrien und richteten ihre Gewehre auf uns, und ihre Hunde bellten uns ins Gesicht“, berichtete Nabila. „Sie befahlen uns, uns in einem Raum zu versammeln, und während wir uns bewegten, schlugen sie mit ihren Gewehrkolben auf uns ein. Es war eine sehr bedrohliche Situation.“


Mohammad weigerte sich immer noch, seinen Rollstuhl zu verlassen. „Er hat die Befehle der Soldaten nicht verstanden“, sagt Nabila. „Er hatte große Angst und sagte immer wieder 'Ich habe Angst'. Plötzlich ließen die Soldaten einen der Hunde auf Mohammad los. „Genug, Habibi“, flehte er den Hund an, als dieser sich auf ihn stürzte. Aber, so Nabila, „der Hund hörte nicht auf und hinterließ schwere Wunden an Mohammads Arm und Schulter.“


Die Soldaten ließen niemanden zu Mohammads Hilfe kommen und zwangen ihn in einen separaten Raum. Laut Nabila versprachen sie, dass er in Sicherheit sei und ein Arzt seine Wunden versorgen würde. Dann wurde der Rest der Familie mit vorgehaltener Waffe weggeschickt, während Mohammad bei den Soldaten zurückblieb.


Es verging eine Woche, die sich für Nabila, die weder schlafen noch essen konnte, wie sieben Jahre anfühlte. „Ich trug die volle Verantwortung für Mohammad: Er wusste nicht, wie er essen, trinken oder wie er sich umziehen sollte“, sagt sie. „Die ganze Woche habe ich geweint und mich gefragt, was mit meinem Sohn passiert ist. Seine Geschwister gingen jeden Tag zu dem am weitesten entfernten Punkt, den sie vor dem belagerten Gebiet erreichen konnten, in der Hoffnung, zu unserem Haus zurückkehren zu können.“


Als die Familie schließlich hörte, dass sich die Armee zurückgezogen hatte, eilte sie nach Hause. „Mein ältester Sohn, Jibril, fand Mohammads Leiche blutüberströmt auf dem Boden in dem Raum, in den ihn die Soldaten geschleppt hatten“, sagte Nabila. „Sie hatten ein Stück Stoff benutzt, um seine schweren Wunden zu verbinden, aber sie haben nicht versucht, die Bisswunden richtig zu behandeln. Sie ließen ihn allein in dem Haus verbluten.“


In einer Stellungnahme zu dem Vorfall gegenüber +972 hat ein Sprecher der israelischen Armee diese Darstellung der Ereignisse nicht dementiert, sondern behauptet, dass „der Hund in einem der Gebäude Terroristen entdeckt und eine Person gebissen hat.“


Danach, so die Erklärung des Sprechers, gerieten jene Soldaten vor Ort, die Mohammad „medizinisch erstversorgt“ hatten, unter Beschuss der Hamas und verließen das Haus, um verwundete Soldaten zu behandeln. „Zu diesem Zeitpunkt“, so die Erklärung, „blieb die Person wahrscheinlich allein in dem Gebäude.“


Laut Maha Hussaini, Strategiedirektorin bei Euro-Med Human Rights Monitor, „hat die israelische Armee systematisch Hunde eingesetzt, um palästinensische ZivilistInnen anzugreifen, zu attackieren und zu misshandeln“, insbesondere in Gebieten wie Shuja'iya, wo die Armee den BewohnerInnen befohlen hatte zu fliehen. „Hunde wurden eingesetzt, um diese Gebiete zu durchsuchen und die BewohnerInnen anzugreifen, als eine Form der Bestrafung und Rache dafür, dass sie den Befehlen nicht nachgekommen sind.“


Was Hussaini am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, dass die Armee Kampfhunde absichtlich auf die schwächsten Gruppen der PalästinenserInnen losgelassen hat. „Wir haben Fälle von Frauen und Menschen mit Behinderungen dokumentiert, die in ihren Häusern mehrfach [von Hunden] angegriffen wurden“, sagte sie gegenüber +972. „Augenzeugen und Opfer berichteten, dass israelische Soldaten bei den Angriffen tatenlos zusahen und in einigen Fällen sogar lachten und sich über [die PalästinenserInnen] lustig machten.“


Für Nabila bleibt nur noch die schreckliche Erinnerung an den Angriff und das Bild ihres toten Sohnes. „Ich werde dieses Bild nie vergessen. Ich sah, wie der Hund Mohammad angriff und an seinem Arm und seiner Schulter riss. Wir konnten ihn nicht retten, weder vor [den Soldaten] noch vor dem Hund.“

 

Meine Behinderung hat mich daran gehindert, mich aus den Trümmern zu befreien


Nour Ershy Jouda wurde mit einer Beinfehlbildung geboren - eine Folge davon, dass ihre Mutter während der zweiten Intifada, als sie schwanger war, das von der israelischen Armee abgefeuerte Tränengas einatmete, so dass Nour an einen Rollstuhl gefesselt ist. Trotz dieser Beeinträchtigung hat Nour ihren eigenen Weg gefunden und versucht, durch ihre Videos auf Facebook und TikTok die Behinderung für ihre Hunderttausende von Anhängern zu entstigmatisieren.


All das wurde am 22. Oktober letzten Jahres zerstört, als das Haus ihres Onkels in Deir al-Balah im Zentrum des Gazastreifens, das direkt neben ihrem eigenen Haus liegt, von einer israelischen Rakete getroffen wurde. Nours Elternhaus wurde beschädigt, und mehr als 45 ihrer Verwandten wurden getötet.


„Ich war in meinem Zimmer, das auf das Haus meines Onkels blickt, und bereitete mich darauf vor, live auf TikTok zu senden“, erzählt Nour. „Ich hatte vor, über die Geschehnisse im Gazastreifen zu sprechen - die Massaker und die aktuelle Situation - was sonst? Dann gab es eine Explosion, und ein Haufen Schutt stürzte auf mich herab.“


Nour steckte drei Stunden lang unter den Trümmern fest, bis Mitarbeiter des Zivilschutzes und ihre Familie sie befreien konnten. Sie erinnert sich, dass sie eingeklemmt war: „Ich spürte Schmerzen in der Schulter und in den Beinen. Ich habe geschrien, und dann wurde ich plötzlich schläfrig. Meine Behinderung hinderte mich daran, mich selbst zu befreien, obwohl ich mich normalerweise mit Leichtigkeit bewege und alle Aufgaben im Haushalt erledigen kann. In diesem Moment jedoch war ich schwach.“


Nour überlebte, aber viele behinderte Menschen aus dem Gazastreifen, die ähnlichen Angriffen ausgesetzt waren - insbesondere jene mit geistigen Behinderungen – hatten nicht so viel Glück. Mahmoud Basal, ein Sprecher des Zivilschutzes in Gaza, erklärt gegenüber +972: „Die schwierigsten Fälle, auf die wir bei Rettungsaktionen stoßen, sind Menschen, die nicht wissen, was um sie herum geschieht. Wir versuchen, mit ihnen zu kommunizieren, aber sie verstehen oftmals nicht, was wir sagen.“


Er bestätigt, dass viele kognitiv eingeschränkte Menschen bei Rettungsaktionen „ums Leben gekommen sind, weil sie nicht wussten, wie sie sich während eines Bombenangriffs verhalten oder wie sie die Anweisungen des Zivilschutzes befolgen sollten. Ebenso haben andere ihr Leben verloren, weil sie aufgrund von körperlichen Beeinträchtigungen oder Lähmungen nicht in der Lage waren, sich zu bewegen oder aus den Trümmern zu befreien“.


Bei dem Angriff auf das Haus ihres Onkels erlitt Nour Brüche an den Beinen und an der rechten Schulter, wodurch sie sich zum ersten Mal wirklich hilflos fühlte. Sie hatte ihre Tante und ihren Onkel verloren, die zu den Menschen gehörten, die sie in ihrem Leben am meisten unterstützten. Ihr Zimmer, das speziell für ihre körperliche Verfassung eingerichtet war und in dem sie ihre Videos drehte, war verloren, ebenso wie ihr Rollstuhl und die Küche, in der sie ihre Liebe zum Kochen und Backen entdeckte - genau die Leidenschaft, die ihre erste Bekanntheit begründete.


Heute wohnt Nour im Haus ihrer Schwester, das für ihren Zustand nicht geeignet ist, und versucht, sich anzupassen und wieder Videos zu drehen. Aber alles, woran sie jetzt denken kann, ist, wie sie fliehen kann, falls sie wieder angegriffen werden oder das Haus räumen müssen.


„Jede Nacht schmiede ich Pläne für den Fall, dass wir fliehen müssen“, sagt sie. „Aber werden sie funktionieren? Ich weiß es nicht, es hängt alles von der Art des Angriffs ab. Ich weiß, dass meine Familie mich nicht zurücklassen wird, aber ich denke trotzdem oft darüber nach.“

 

Wir hören den Beschuss nicht, wir spüren ihn nur


Wenn die israelischen Streitkräfte Wohngebiete im Gazastreifen bombardieren, behaupten sie oft, dass die Zivilbevölkerung im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht vorgewarnt wird. Wenn diese Warnungen jedoch überhaupt kommen, bleibt den meisten PalästinenserInnen nur wenig Zeit, um zu fliehen - vor allem jenen mit geistigen und/oder körperlichen Behinderungen. „Ganz gleich, ob die Warnungen über Telefonanrufe, aus Flugzeugen abgeworfene Flugblätter oder sogar Drohnen kommen, diese Nachrichten erreichen Menschen mit Behinderungen nicht, es sei denn, sie haben jemanden, der ihnen hilft“, so Al-Ghora.


Die Missachtung von PalästinenserInnen mit Behinderung erstreckt sich auch auf die Evakuierungsbefehle der israelischen Armee. „Aufgrund von Behinderungen sind viele nicht in der Lage, in den südlichen Teil des Gazastreifens zu ziehen“, so Al-Ghora. „Menschen mit besonderen Bedürfnissen können oft nicht ohne Hilfe und spezieller Ausrüstung reisen, besonders im Kontext des Krieges, mit zerstörter Infrastruktur, unwegsamen Straßen und über große Entfernungen - Herausforderungen, die schon für Menschen ohne Behinderung schwierig sind.“


Shadi Barakat, ein 28-Jähriger Mann aus Gaza-Stadt, der nach Al-Mawasi vertrieben wurde, leidet an einer Hörbehinderung. „In kritischen Momenten sitzen wir [Gehörlose] in der Falle und können nicht verstehen, was in dem Gebiet passiert. Dies setzt uns psychisch sehr unter Druck“, berichtet er gegenüber +972 und verwendet dabei die Gebärdensprache.

„Wir beobachten ständig, was passiert, aber wir hören nicht, woher der Beschuss kommt; wir spüren ihn nur“, fährt er fort. „Deshalb folgen wir den Menschen um uns herum und fliehen, wenn sie fliehen, was zu chaotischen Situationen führt, die schwer zu begreifen ist. Das vergrößert unser Leid und vertieft unser Gefühl der Isolation und Angst.“


Diese harte Realität steht in völligem Gegensatz zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das dazu aufruft, „alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen in Risikosituationen, einschließlich Situationen bewaffneter Konflikte, zu gewährleisten.“

Israel hat es nicht nur verabsäumt, die Schwächsten unter der palästinensischen Zivilbevölkerung zu schützen, sondern es hat auch viele Einrichtungen zerstört, die wichtige Rehabilitations- und medizinische Leistungen erbringen. Nach Angaben des Al Mezan Center for Human Rights in Gaza gehören dazu das Sheikh Hamad Hospital for Rehabilitation and Prosthetics, das El Wafa Hospital for Medical Rehabilitation and Specialized Surgery, das Assistive Devices Center der Medical Relief Society, der Sitz der Palestinian General Union of People with Disabilities und die City of Hope for Capacity Building der Red Crescent Society.


Al-Ghora wies darauf hin, dass die Zerstörung der Infrastruktur des Gesundheitswesens nicht nur Menschen mit Vorerkrankungen den Zugang zu Behandlungen verwehrt, sondern auch zu einer völlig neuen Bevölkerungsgruppe von behinderten Palästinensern im Gazastreifen geführt hat. „Es wird geschätzt, dass über 10.000 Menschen unter den Verwundeten neue Behinderungen erlitten haben“, sagte er gegenüber +972. „Die meisten von ihnen wären nicht dauerhaft behindert, wenn ein funktionierendes Gesundheitssystem zur Behandlung ihrer Verletzungen zur Verfügung gestanden wäre.“

 

Ein Lächeln der Hoffnung


Ohne eine angemessene Behandlung müssen die meisten behinderten Menschen im Gazastreifen – wie alle BewohnerInnen dieses Gebiets – versuchen, in überfüllten Notunterkünften oder Zeltlagern zu überleben, ohne die elementarsten Voraussetzungen für ein würdiges Leben. Im Juli 2024 ergriffen daher mehrere PalästinenserInnen die Initiative und gründeten Basmat Amal („Lächeln der Hoffnung“), ein spezielles Lager in Deir al-Balah, das Menschen mit verschiedenen Formen von körperlichen Behinderungen aufnimmt und grundlegende, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Dienstleistungen anbietet. 

„Das Camp nimmt Menschen mit allen Arten von Behinderungen auf“, erklärte Hamza Al-Falit, einer der Organisatoren, gegenüber +972. „Die Idee stammt von mehreren Personen und wird von drei lokalen Organisationen betreut: der Palestinian Agricultural Development Association, der Palestine Red Crescent Society und der Atfaluna Society for Deaf Children.

Das Lager soll Vertriebene mit Behinderungen nicht nur mit dem Nötigsten versorgen, sondern auch für ihren Schutz und ihr Wohlbefinden sorgen, da die meisten Krankenhäuser, Kliniken und medizinischen Zentren zerstört wurden“, so Al-Falit weiter. „Die wiederholte Vertreibung führt zwar bei allen Palästinensern zu Erschöpfung, doch für Menschen mit Behinderungen ist sie aufgrund ihrer eingeschränkten Mobilität eine besondere Herausforderung, zusätzlich zu den katastrophalen psychologischen Auswirkungen ihrer ständigen Zwangsvertreibung.“

Bisher haben etwa hundert palästinensische Familien in Basmat Amal Zuflucht gefunden und leben in Zelten auf einem kleinen Grundstück von etwa sieben Dunam (ca. 1,7 Hektar). LehrerInnen, die selbst behindert sind, führen Bildungsprogramme durch und bieten den dort untergebrachten Kindern psychologische Unterstützung an.


Samia Abu Namous, eine 54-jährige Mutter aus Khuza‘a, östlich von Khan Younis, wohnt derzeit mit ihren drei Söhnen im Lager, die alle an Körper- und Hörbehinderungen leiden: Abdullah, 23, Nader, 21, und Usama, 18. Für ihre Bedürfnisse wird gesorgt, und alle drei erlernen das Tischlerhandwerk.


Nachdem sie wiederholt vertrieben wurden und in verschiedenen Lagern Unterschlupf gesucht hatten, war Samia erleichtert, endlich eine geeignete Unterkunft zu finden, in der ihre Söhne betreut werden konnten. „Jedes Lager war schwierig, und selbst die Schulen waren nicht für Menschen mit Behinderungen geeignet und boten keine Dienstleistungen an, die deren Bedingungen berücksichtigten“, erklärte sie.


„Die Organisation Basmat Amal hat uns ein Zelt, Matratzen und Decken zur Verfügung gestellt und das während der Vertreibung beschädigte Hilfsequipment repariert“, so Samia weiter. „Sie versorgen uns mit Lebensmitteln, sauberem Wasser, Medikamenten und physischer und psychologischer Betreuung, und es gibt Toiletten, die für die Behinderungen meines Sohnes geeignet sind. Aber natürlich ist es nicht wie zu Hause.“

 

Er ist verschwunden, und wir haben keine Anhaltspunkte gefunden


Inmitten der Brutalität des völkermörderischen Krieges Israels können Initiativen wie Basmat Amal das Leiden und die Unannehmlichkeiten von PalästinenserInnen mit Behinderungen vorübergehend lindern. Aber für viele, vor allem für diejenigen, die wiederholt quer durch den Gazastreifen vertrieben wurden, gibt es keinen Ersatz für den Komfort und die Sicherheit eines Lebens in der eigenen Wohnung.


Vor dem 7. Oktober lebte der 62-jährige Maher Kaheel mit seiner Schwester Maysoun und zusammen mit seinen Brüdern und deren Familien in Gaza-Stadt. Er litt unter verschiedenen gesundheitlichen und psychischen Problemen, die eine regelmäßige Überwachung und die Einnahme von Medikamenten erforderten, fand aber Freude daran, sich um seine Katze und seinen Garten zu kümmern.


Zu Beginn des Krieges war Maher gezwungen, zusammen mit seinen Brüdern aus dem nördlichen Gazastreifen zu fliehen und bei seiner Schwester Maha in Rafah Zuflucht zu suchen. „Meine Brüder wurden mit ihren Frauen und Kindern in mein Haus in Tel al-Sultan, westlich der Stadt, vertrieben, und sie nahmen Maher mit“, sagte Maha gegenüber +972. „Sie sind für ihn verantwortlich, zusammen mit meiner Schwester Maysoun, die Gaza bereits verlassen hat, um ihre Arbeit als Journalistin von Ägypten aus fortzusetzen.“


In Rafah hat Maher das Haus nicht verlassen. Jeder achtete darauf, dass die Tür verschlossen war, da er immer wieder den Wunsch äußerte, in sein Haus in Gaza-Stadt zurückzukehren. „Die Türen halfen uns, meinen Bruder in Sicherheit zu bewahren, und das Leben in meinem Haus in Rafah war einfacher, da es dort Wasser und Strom gab“, erklärte Maha.


Als Israel im Mai in Rafah einmarschierte, floh die Familie aus Mahas Haus, bevor die israelischen Panzer es erreichen konnten, und zog in das Haus eines Verwandten in der Gegend von Al-Mawasi, westlich von Khan Younis. Aufgrund des begrenzten Platzes, so Maha, „wurde ein Zelt aufgestellt, in dem meine Brüder und ihre Söhne, darunter auch Maher, schlafen konnten. Sie teilten die Verantwortung für seine Pflege unter sich auf, während ich mich um sein Essen und seine Medikamente kümmerte, da ich Ärztin bin.“


Am 4. März wachte Maha früh auf, um Mahers Frühstück und seine Medikamente vorzubereiten. Aber er war nicht im Zelt. „Ich wurde schier verrückt, rannte um das Zelt, die Umgebung und in alle Richtungen und rief nach ihm, mit dem Essen in der einen und den Medikamenten in der anderen Hand. Er war verschwunden, und wir konnten ihn nicht finden.“


Mahas Herz ist mit Schmerz erfüllt, und ihre ganze Familie trauert um Maher. „Er ist wie ein Kind: Er wollte zurück in unser Haus und unsere Nachbarschaft in Gaza-Stadt. Er hat mich immer wieder angefleht, ihn zurückzubringen.“ Maha tröstete ihn und versprach, dass „die Zeit der Rückkehr nach Hause nahe sei, sobald der Beschuss aufhört“.


Mahers Familie ließ nichts unversucht, um ihn zu finden: Sie fragte in allen Krankenhäusern und Polizeistationen nach ihm, erkundigte sich beim Roten Halbmond und versuchte auf jede erdenkliche Weise, die Umgebung über ihn zu informieren. „Den ganzen Tag lang suchen wir bei den Lebenden und den Toten, fragen in jedem Viertel und in jedem noch stehenden Haus nach“, so Maha. „Aber bis jetzt haben wir keine Hinweise auf seinen Verbleib gefunden.“


Besonders hart ist die Situation für Mahas Schwester Maysoun, die in Ägypten ist und den Verlust eines Bruders betrauert, mit dem sie ihr Zuhause teilte. „Das Herz meiner Schwester trauert um meinen Bruder“, so Maha. „Sie ruft 100 mal am Tag an und fragt, ob es Neuigkeiten über ihn gibt.“


Selbst wenn sie wüssten, dass ihr Bruder getötet worden sei, fügte Maha hinzu, wäre das einfacher, als weiter mit der Ungewissheit zu leben. „Ich hoffe nur, dass dieser Krieg irgendwann zu Ende ist, dass wir meinen Bruder finden und dass dieser Albtraum, den wir durchleben, ein Ende hat.“

 

Ibtisam Mahdi ist eine freiberufliche Journalistin aus Gaza, die sich auf die Berichterstattung über soziale Themen, insbesondere über Frauen und Kinder, spezialisiert hat. Sie arbeitet auch mit feministischen Organisationen in Gaza in den Bereichen Berichterstattung und Kommunikation zusammen.

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