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Zur Situation im Norden von Gaza

 

Gaza erlebte am vergangenen Samstag einen der tödlichsten Tage seiner Geschichte. Von den deutschsprachigen Medien kaum oder gar nicht wahrgenommen wurden binnen 24 Stunden mindestens 200 Menschen bei der Bombardierung von fünf Wohnhäusern in Tal Al Zaatar and Beit Lahiya im Norden von Gaza getötet. Unter den Toten befinden sich zahlreiche Kinder.

Dr. Hussam Abu Safiya, Direktor des Kamal Adwan Krankenhauses, sagte in eine Videobotschaft getroffen und aufgrund seiner eigenen Verletzungen von einem Drohnenangriff sichtlich geschwächt:

 

„Heute ist der 30. November 2024. Ich spreche aus der Intensivstation des Kamal Adwan Krankenhauses zu Ihnen. Heute war ein furchtbarer Tag für uns Menschen im Norden von Gaza. Wir sprechen von mehr als 200 Opfern, die noch immer unter den Trümmern sind. Die Namen der Familien lauten Al-Araj, Al-Baba, Al-Agha und Aliyan, sie alle sind noch unter den Trümmern. Es kamen nur drei verletzte Personen im Krankenhaus an, die bisher einzigen Überlebenden der Familien. Was uns das Herz bricht, ist, dass Stimmen unter den Trümmern zu hören waren. Man hat versucht, sie zu retten. Aber diejenigen, die sie retten wollten, wurden angegriffen, und die Stimmen bleiben unter den Trümmern. Bisher konnte niemand den Ort der Bombardierung erreichen, um jenen, die vielleicht noch unter den Trümmern am Leben sind, zu helfen. Im Gebäude der Al Araj Familie lebten über 100 Menschen, nur ein Mitglied dieser Familie hat überlebt. Sein Name ist Muhammed, er arbeitet in der Wäscherei unseres Krankenhauses. Er hatte Dienst, als das Haus seiner Familie bombardiert wurde. Diese Szenen sind zum Alltag geworden. Niemand wird zur Rechenschaft gezogen; niemand stoppt die Tötung unschuldiger Menschen.“


Auch das Kamal Adwan Krakenhaus selbst musste zwei schwere Verluste hinnehmen.

Am 29. November wurde der Intensivstation-Krankenpfleger Ahmad Elkhlout auf dem Weg zum Kamal Adwan Krankenhaus getötet. Er war Mitarbeiter der weltweit tätigen amerikanischen Organisation MedGlobal, welche folgendes Statement veröffentlichte:

„Wir sind untröstlich und wütend über die brutale Ermordung unseres Kollegen Ahmed Elkhlout im nördlichen Gazastreifen am 29. November. Ahmed, ein Krankenpfleger von MedGlobal, war auf dem Weg zu seiner nächsten Schicht im Kamal Adwan Krankenhaus, als ein Kampfhubschrauber gegen 10:30 Uhr das Feuer auf ihn eröffnete. Ahmed überlebte seine Verletzungen nicht, auch deshalb, weil die Rettungskräfte ihn nicht erreichen konnten, da ihr Krankenwagen ebenfalls unter Beschuss geriet. Ahmed arbeitet seit Mai dieses Jahres bei MedGlobal. Er hinterlässt seine Frau und fünf Kinder.“


Am 30. November wurde der bekannte Koch und Leiter der Gaza Soup Kitchen, „Chef Mahmoud“ Almadhoun, gegen neun Uhr früh auf dem Weg zum Kamal Adwan Krankenhaus von einer Drohne tödlich verwundet. Sein Freund und Mitarbeiter Abu Tamer versuchte noch, ihn in das nur fünf Minuten entfernte Krankenhaus zu bringen, aber sie gerieten dabei erneut unter Beschuss.


Mahmoud Almadhoun hatte gemeinsam mit Familie und Freunden und mit finanzieller Unterstützung seines in den USA lebenden Bruders Hani Almadhoun in Beit Lahia die Gaza Soup Kitchen aufgebaut, die tausende BewohnerInnen mit einer warmen Mahlzeit am Tag das Überleben sicherte. Während Hani Almadhoun in den USA Spenden für die Suppenküche lukrierte, bereiteten Chef Mahmoud und sein Team jeden Tag aus einfachsten Mitteln Mahlzeiten zu. Die ersten gekochten Eintöpfe ernährten etwa 120 Familien, schnell jedoch stieg die Zahl der Menschen, die zu den Essensausgaben kamen, auf 3000.


Chef Mahmoud weigerte sich, zu fliehen: „Ich werden den Norden von Gaza nicht verlassen, so lange es hier hungrige Menschen gibt. Ich werde nicht aufhören zu kochen und ich habe keine Angst vor dem Tod.“


Auch die PatientInnen des Kamal Adwan Krankenhauses waren von der Essensausgabe der Gaza Soup Kitchen abhängig. In einem Interview mit NPR im Juli 2024 sagte Hani Almadhoun: „Die Küche ermöglicht Heilung, egal ob man das Essen zubereitet oder erhält, sie gibt den Menschen die Möglichkeit, wieder an Hoffnung zu denken.“


Chef Mahmoud hinterlässt seine Frau und sieben Kinder, darunter ein neugeborenes Baby, dem er noch nicht einmal einen Namen geben konnte.




 

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Im Zentrum von Gaza wurden am Freitag, dem 29.11.2024, eine Frau und zwei Kinder beim Versuch, in einer der wenigen funktionierenden Bäckereien Brot zu erhalten, in der verzweifelten Menschenmenge zu Tode gequetscht.


Arwa Damon, ehemalige CNN-Korrespondentin und heute Leiterin Hilfsorganisation Inara, berichtet zur Hungersnot in Gaza am 30.11. und am 1.12.2024:


„Die Hungersnot ist real. Der Hungertod ist real. Der Hunger ist real. In diesem Krankenhaus in Gaza-Stadt gab es im Oktober 150 bis 180 Fälle von Unterernährung, im November sind es etwa 350 Fälle, vor allem wegen der aus dem Norden evakuierten Menschen, die hierherkamen.

Eines der kleinen Mädchen, die ich im Krankenhaus traf, war einer dieser Fälle. Ihre Beine sind so dünn, dass es sich anfühlt, als würden die Metallstangen, die eines davon zusammenhalten, es zerbrechen. Israel hat Krankenwagen daran gehindert, den belagerten nördlichen Gazastreifen zu erreichen, so dass der Vater des kleinen Mädchens sie – in diesem Zustand! – auf dem Rücken eines Motorrads unter Lebensgefahr hierher transportiert hat, es war ein hohes Risiko. Aber entweder das oder sie hätten zusehen müssen, wie sie zugrunde geht. (…)“

„Karim ist 8 Jahre alt und wiegt gerade einmal 6 kg. Als die Drohnen über dem Zelt immer lauter brummen, wird er sichtlich unruhig, sein gebrechlicher Körper ist nur noch Haut und Knochen. Kinder wie er sind am meisten gefährdet, wenn es um Unterernährung geht. Ihre Körper sind einfach nicht stark genug, um durchzuhalten.


Karims Mutter erzählt uns, dass sie ihm nur mit einer Spritze „Reissuppe“ füttern kann. Das ist im Grunde gekochter und pürierter Reis. Brot gibt es nicht, Gemüse gibt es selten und ist außerordentlich teuer. (…) Der Zugang zu Nahrungsmitteln ist kritisch niedrig und verschlechtert sich rapide. Die Nahrungsmittelsysteme brechen zusammen, und diejenigen, die gefährdet sind oder keine Möglichkeiten mehr haben, sich zu versorgen, werden sterben.


Dabei stehen genügend Nahrungsmittel bereit, um die gesamte Bevölkerung von 2,1 Millionen Menschen mehr als zwei Monate lang zu ernähren, sie könnten sofort nach Gaza geliefert werden! Doch die durchschnittliche Wartezeit für einen Lastwagen, der über Kerem Shalom/Karam Abu Salem – den wichtigsten Grenzübergang, den Israel erlaubt – einreisen darf, beträgt 74 Tage. In den letzten zwei Monaten hat Israel die Einfuhr von kommerziellen Gütern in den Gazastreifen massiv eingeschränkt, was zu aberwitzigen Preisen auf den Märkten führt, wenn kommerzielle Güter, wie z. B. Gemüse, geliefert werden.


Im Norden des Gazastreifens ist die Lage aufgrund der seit fast zwei Monaten andauernden Belagerung noch schlimmer. Und in Gaza-Stadt gibt es so gut wie nur noch Mehl. Im zentralen und südlichen Gazastreifen, wo Karim sich aufhält, ist der Zugang zu Lebensmitteln äußerst schwierig.“

 

Trotz der rapide zunehmenden Hungersnot haben nun zwei Organisationen – UNRWA und World Central Kitchen – ihre Versuche, Hilfslieferungen in den Gazastreifen zu bringen, eingestellt. In einem Statement erklärte UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini am 1. Dezember 2024:

„Wir haben die schwierige Entscheidung getroffen, die Hilfslieferungen über Kerem Shalom einzustellen. Es ist der wichtigste Grenzübergang für humanitäre Hilfe nach Gaza, und die Straße dorthin ist seit Monaten nicht mehr sicher.


Am 16. November wurde ein Konvoi von Hilfslieferungen von bewaffneten Banden gestohlen. Gestern versuchten wir, einige Lebensmittel-LKWs hineinzubekommen, und sie wurden alle gestohlen.


Die Verantwortung für den Schutz von Helfern und Hilfsgütern liegt beim Staat Israel als Besatzungsmacht. Er muss dafür sorgen, dass die Hilfsgüter sicher nach Gaza gelangen.“

Lazzarini wies außerdem darauf hin, dass die humanitäre Hilfe aufgrund der anhaltenden Belagerung, der Behinderungen durch die israelischen Behörden, der politischen Entscheidungen zur Beschränkung der Hilfslieferungen, der mangelnden Sicherheit auf den Hilfsrouten und der gezielten Angriffe auf die örtliche Polizei „unnötig unmöglich“ geworden sei. (Siehe dazu auch The Washington Post: „Banden, die Hilfsgüter aus dem Gazastreifen plündern, operieren laut Hilfsorganisationen in Gebieten unter israelischer Kontrolle“)

 

Am 30. November 2024 griff die israelische Armee in Khan Younis erneut ein Fahrzeug der World Central Kitchen (WCK) an und tötete alle drei Insassen. Bereits am 2. April 2024 starben sieben WCK-MitarbeiterInnen bei einem dreifachen israelischen Angriff auf ihren humanitären Konvoi, als sie ein Lagerhaus in Deir al Balah im Zentrum des Gazastreifens verließen, obwohl sie ihre Bewegungen mit der israelischen Armee abgestimmt hatten. Dieses Mal behauptete die israelische Armee zuerst, dass das Fahrzeug der Mitarbeiter nicht gekennzeichnet gewesen sei, als dies widerlegt wurde, behauptete die israelische Armee, dass einer der getöteten WCK-Mitarbeiter ein militanter Palästinenser sei, der am 7. Oktober beteiligt gewesen sein soll – eine Behauptung, die WCK auf das Schärfste von sich wies. Nach dem Angriff gab WCK bekannt, dass die Organisation, die Hunderttausende Menschen in Gaza mit warmen Mahlzeiten versorgt hatte, den Betrieb nun mit sofortiger Wirkung einstellen muss.

 

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Quellen:

Israeli strikes kill at least 200 in Gaza as UN halts aid deliveries after more trucks stolen

A Palestinian American raises more than $1 million to feed his family and others in Gaza

Von Marisa Peñaloza, npr, 16. Juli 2024

Gaza soup kitchen bridges efforts from brothers thousands of miles apart

Hani and Mahmoud Almadhoun have started a soup kitchen funded largely by online donations.

Von Monica Alba, NBC news, 5. April 2024

Tragic Loss of MedGlobal Ahmed Elklout in Gaza attack

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