top of page

Zur Situation der christlichen Bevölkerung in Gaza

„Mein Haus, meine Nachbarschaft, meine Kirche, die Straßen, die zu meinem Haus führen, sogar mein Fitnessstudio wurden dem Erdboden gleichgemacht, während die ganze Welt zusieht. Für die 2 Millionen Menschen im Gazastreifen ist nichts mehr übrig. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es den wenigen verbliebenen Christen ergehen wird.“

Ramzi Andrea, griechisch-orthodoxer Christ aus Al-Zaytoun, Gaza, im Dezember (!) 2023

 


„Verstehen Sie, warum ich sage, dass die Glaubwürdigkeit unseres christlichen Zeugnisses auf dem Spiel steht, wenn wir weiterhin unseren religiösen Pflichten nachkommen, aber über die Ungerechtigkeit, die buchstäblich vor unserer Haustür geschieht, schweigen? „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, sagte Jesus. Und dies ist einer der Gründe für das, was wir als Kirche im Dezember getan haben. Als es soweit war, Weihnachten zu feiern, konnten wir Weihnachten nicht feiern, während unsere Leute massakriert wurden. Wir waren bestürzt darüber, dass die Welt die Kinder von Gaza in einem solchen Ausmaß rechtfertigte, rationalisierte und entmenschlichte, dass sie ihre Tötung rechtfertigte. Wir konnten es nicht glauben. Und deshalb sagten wir, dass wir in den Kindern von Gaza das Bild Jesu sehen. In jedem Kind, das aus den Trümmern geborgen wird, sehen wir das Bild Jesu.“

Rev. Munther Isaac aus Bethlehem in seiner Rede in der Riverside Church New York, August 2024


 

„Sie hatte alle früheren israelischen Angriffe auf den Gazastreifen überlebt und bezeichnete den aktuellen als den schlimmsten, den sie je erlebt hatte. Einen Monat lang suchte sie mit Hunderten von anderen Menschen Schutz vor den Bombenangriffen in der katholischen Kirche zur Heiligen Familie, einer der beiden Kirchen, die ihre Türen als Zufluchtsort für die Vertriebenen geöffnet hatte. An ihrem letzten Tag verließ sie jedoch die Kirche, um frische Luft zu schnappen, Kleidung zu holen und nach ihrem Haus zu sehen. Sie hat immer gesagt, dass Gott sie beschützen wird.“

Eine Verwandte über Elham Farah, die – 84-jährig – von einem israelischen Scharfschützen getötet wurde

 

 

„Der israelische Angriff auf die palästinensischen Christen fand schon lange vor der Gründung der Hamas statt. Während der Nakba von 1948, als jüdische Milizen palästinensische Dörfer und Städte angriffen, wurden palästinensische Christen genauso angegriffen wie palästinensische Muslime. (…) In Jerusalem und anderen Gebieten wurden auch Palästinenser, unabhängig von ihrem Glauben, vertrieben. Mitglieder meiner eigenen Familie - mein Vater, mein Onkel und meine Großmutter - mussten um ihr Leben fliehen. Meine Tante und ihre Familie, die im Musrara-Viertel lebten, suchten Zuflucht in der Nähe der katholischen Kirche Notre Dame, weil sie glaubten, dort sicher zu sein, aber ein jüdischer Scharfschütze erschoss ihren Mann und ließ sie als Witwe mit sieben kleinen Kindern zurück.“

Daoud Kuttab, palästinensisch-amerikanischer Journalist

 

 

„Eine der vielen Tragödien des Krieges besteht darin, dass er der Existenz der palästinensischen Christinnen und Christen in Gaza ein Ende setzen wird.“

Rev. Mitri Raheb, Bethlehem

 


 

 


Zur Situation der Christinnen und Christen in Gaza

 

Israels verheerender, genozidaler Krieg bedroht zum ersten Mal in ihrer 2000-jährigen Geschichte die Existenz der palästinensischen Christinnen und Christen im Gazastreifen.

 

Gaza beherbergt eine der ältesten christlichen Gemeinden der Welt, die bis ins dritte Jahrhundert zurückreicht. Die Mehrheit der ChristInnen ist griechisch-orthodox (89 Prozent), ein sehr kleiner Prozentsatz römisch-katholisch (9 Prozent), baptistisch oder anderen protestantischen Konfessionen angehörend (2 Prozent). Im Laufe der Jahre sind immer wieder Hinweise auf die reiche christliche Geschichte der Region aufgetaucht: Im September 2022 zum Beispiel gab eine zufällige historische Entdeckung den christlichen Familien im Gazastreifen ein Gefühl des Stolzes – ein Bauer fand ein 1 500 Jahre altes, riesiges byzantinisches Bodenmosaik auf seinem Land, das den Reichtum des christlichen Lebens in Gaza bezeugt. Nach Ansicht von Experten handelte es sich bei dem Kunstwerk um einen der größten archäologischen Schätze, die jemals in Gaza gefunden wurden.

Die Zahl der ChristInnen in Gaza ist in den letzten Jahren aufgrund der anhaltenden israelischen Blockade massiv zurückgegangen. Die ohnehin schon geringe Zahl der palästinensischen ChristInnen im Gazastreifen schrumpfte um zwei Drittel von fast 3 000 auf nur noch knapp 1 200. Die Hauptgründe für diese Auswanderung, so berichteten viele aus der Gemeinschaft selbst, hingen mit der israelischen Besatzung und der Blockade zusammen und nicht mit dem Gefühl der religiösen Verfolgung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft. Der derzeitige, genozidale Krieg Israels zwang weitere Gemeindemitglieder zur Flucht, so verließen circa 600 christliche PalästinenserInnen, die einen zweiten Pass besitzen, Gaza, solange dies noch über den Grenzübergang Rafah möglich war.


Im Glauben, Gebetshäuser gelten als sakrosankt und werden nicht angegriffen, suchten die ChristInnen Schutz in zwei Kirchen – der römisch-katholischen Kirche zur Heiligen Familie und in der griechisch-orthodoxen Kirche. Die Annahme, innerhalb von Kirchenmauern sicher zu sein, sollte sich jedoch als falsch erweisen.


Palästinensische ChristInnen, Kirchen und christliche Einrichtungen blieben von den israelischen Angriffen nicht verschont, im Gegenteil: mittlerweile wurde jede kirchliche Einrichtung angegriffen und beschädigt oder vollkommen zerstört.


So wurde am 17. Oktober 2023 das Al Ahli Baptist Hospital, das einzige christliche Spital in Gaza, betrieben von der anglikanischen Episkopalkirche, von der israelischen Armee angegriffen. Neben seiner Hauptaufgabe, kranke und verwundete PalästinenserInnen medizinisch zu versorgen, bot das Krankenhaus auch Unterkunft für hunderte vertriebene palästinensische Familien. Der israelische Angriff tötete 500 PalästinenserInnen, darunter viele Kinder. Die dem Krankenhaus angegliederte Kirche des Krankenhauses wurde ebenfalls beschädigt.


Am 19. Oktober 2023 führte Israel Luftangriffe auf die griechisch-orthodoxe Kirche St. Porphyrios in Gaza durch. St. Porphyrios war nicht nur die älteste aktive Kirche in Gaza, sondern eine der ältesten aktiven Kirchen weltweit. Der Angriff führte zur Zerstörung des Kirchenratsgebäudes und tötete 17 palästinensische ChristInnen, darunter neun Kinder, das älteste war zwölf Jahre alt, das jüngste drei Monate alt. Ganze Familien wurden ausgelöscht. 382 PalästinenserInnen suchten im Gebäude Schutz vor den wahllosen israelischen Bombardierungen. Im Juli 2024 wurde die Kirche erneut angegriffen.


Am 30. Oktober 2023 bombardierten israelische Kampfflugzeuge das arabisch-orthodoxe Kultur- und Sozialzentrum der griechisch-orthodoxen Kirche, in dem rund tausend vertriebene PalästinenserInnen Zuflucht gesucht hatten. Der östliche Teil des Zentrums, in dem sich eine Turnhalle, ein Theater, Verwaltungsbüros und Freiflächen befanden, wurde vollständig zerstört.

Am 4. November 2023 zielten israelische Luftangriffe auf die Schule der Rosary Sisters in Gaza, die der katholischen Kirche angegliedert ist. Die Bombardierung führte zu erheblichen Schäden im Inneren der Schule, der Spielplatz davor wurde zerstört. Eines der Schulgebäude stürzte ein.

Mitte November 2023 wurde die 84-jährige Elham Farah von einem israelischen Scharfschützen erschossen. Die allseits beliebte Akkordeonistin, Musiklehrerin und einzige Organistin in Gaza hatte – wie so viele Mitglieder der christlichen Gemeinde – Zuflucht in der Kirche zur Heiligen Familie gesucht. Farah stammte aus einer der ältesten christlichen Familien in Gaza, deren Wurzeln bis in die Zeit der arabischen Ghassaniden (4. bis 7. Jahrhundert) zurückreichen. Sie war außerdem die jüngste Tochter des palästinensischen Dichters Hanna Dahdah Farah. Von ihrer Nachbarschaft in Gaza-Stadt wurde sie liebevoll die „immer lächelnde Frau Umm al-Orange“ („Mama Orange“ - eine Anspielung auf ihre rotbraunen Haare) genannt.


Am 12. November verließ Farah die Kirche und machte sich zu Fuß auf den Weg zu ihrem nicht weit entfernten Zuhause. Sie wollte nach dem Rechten sehen und wärmere Kleidung holen. Kurz vor ihrem Haus schoss ihr ein israelischer Scharfschütze, der auf einem nahen Dach postiert war, ins Bein.

Als ihre Nachbarn erkannten, was passiert war, versuchten sie verzweifelt, zu ihr zu gelangen, um ihr erste Hilfe zu leisten, aber der Scharfschütze schoss auf jede Person, der sich ihr zu nähern versuchte. Es gelang den Nachbarn, ihre Familie zu informieren, und ihre Nichte konnte sie schließlich telefonisch erreichen. Sie erinnert sich später an das Gespräch: „Meine Tante Elham ihre starken Schmerzen und sagte, dass sie seit Stunden um Hilfe gerufen habe, ohne dass ihr geholfen worden war. Sie konnte ihr Bein nicht mehr spüren konnte und dachte, es sei vom Rest ihres Körpers abgetrennt worden. Ich sagte ihr: „Tante Elham, wenn es amputiert worden wäre, wärst du jetzt verblutet. Ruhe dich aus. Es wird schon dunkel. Wir werden versuchen, bis zum Morgen jemanden zu dir zu schicken.“ Elham antwortete: „Ist gut, ich habe meinen Kopf einfach auf den Bürgersteig gelegt. Ich werde hier warten.““

Die wiederholten verzweifelten Versuche, einen Krankenwagen zu finden, der Elham Farah erreichen konnte, blieben jedoch erfolglos, obwohl es der Familie sogar gelang, das Rote Kreuz zu kontaktieren. Elham Farah verstarb am 13. November auf der Straße. Viele Menschen in Gaza – ChristInnen und MuslimInnen – waren über ihren Tod sehr erschüttert, insbesondere ihre Schülerinnen und Schüler.


Am 16. Dezember 2023 tötete ein israelischer Scharfschütze zur Mittagszeit zwei Gemeindemitglieder auf dem Kirchengelände der katholischen „Heiligen Familie“-Kirche. Nachdem Nahida Khalil Anton auf dem Weg zum Sanitärbereich angeschossen worden war, versuchte ihre Tochter Samar, ihr zu Hilfe zu kommen – beide wurden von Scharfschützen getötet. Sieben weitere Menschen wurden verletzt, als sie versuchten, Nahida und Samar Anton zur Hilfe zu kommen und andere Menschen innerhalb des Kirchengeländes zu schützen.

Am selben Tag wurde der Konvent der Schwestern von Mutter Theresa (Missionarinnen der Nächstenliebe) von einer von einem israelischen Panzer abgefeuerten Rakete getroffen. Der Generator, die Treibstoffvorräte, die Solarzellen und die Wassertanks des Gebäudes wurden zerstört, das Gebäude unbewohnbar. Der Konvent beherbergte und pflegte über 54 Menschen mit teilweise schweren Behinderungen.


Darüber hinaus wurde die Middle East Council of Churches Association und ihre beiden Kliniken, die al-Daraj und al-Shuja'iya Klinik, niedergebrannt. Das Berufsausbildungszentrum in Gaza-Stadt und al-Qarara wurden völlig zerstört.


Mittlerweile wird angenommen, dass fünf Prozent der christlichen Bevölkerung Gazas direkt (durch Angriffe der israelischen Armee) oder indirekt (durch fehlende medizinische Versorgung, Erkrankungen, Hunger, etc.) getötet worden sind. Im April 2024 berichtete der Palästinensische Oberste Präsidialausschusses für Kirchenfragen, dass mindestens 15 Todesfälle von palästinensischen ChristInnen bekannt sind, die mit der richtigen medizinischen Versorgung gerettet werden hätten können.


Bis heute harren 200 ChristInnen in der griechisch-orthodoxen Kirche und 400 ChristInnen in der römisch-katholischen Kirche in Gaza aus.


Ihr Schicksal – so wie das der gesamten palästinensischen Bevölkerung in Gaza – bleibt ungewiss.

 

Informationen entnommen aus:

Palestinian Christians in Gaza fear being ‘swept under the rubble or into the desert’ (Dezember 2023)

Gaza’s Agony: A Heart-Wrenching Tale of Survival and Hope in the Shadow of Genocide (April 2024)

84-year-old Elham Farah: Accordionist, aunt and Gaza's first ever music teacher killed by Israeli sniper

Why does the Christian West ignore Palestinian Christians’ plight? (Dezember 2024)

Gaza: Mutter und Tochter von israelischen Scharfschützen hingerichtet, Behindertenheim bombardiert (Dezember 2023)

 

 

 

Hörenswert:

 

"Das Christentum im Nahen Osten stirbt aus" - Renata Schmidtkunz im Gespräch mit dem evangelischen Pfarrer von Bethlehem Mitri Raheb (3. Oktober 2024)


„Das Jahr der Katastrophen im Nahen Osten“ – Eine palästinensische Perspektive aus Bethlehem mit dem arabischen Christen und Gründer der Dar-al-Kalima Universität, Mitri Raheb

Interview mit Raimund Löw


Comments


bottom of page