„Aushungern als Mittel des Krieges ist ein Kriegsverbrechen. Die Geschichte sieht alles und wird nicht vergessen. Die Familien meiner Großeltern sind verhungert, sie schauen auf uns und wenden ihr Gesicht ab. Was tun wir? Wie können wir das tun? Wie können wir Menschen zu Tode hungern lassen? So viel Scham. Scham, Teil dieser Version der Menschheit zu sein.“
Tomer Dotan Dreyfus, israelischer Schriftsteller, 27. Oktober 2024
„Was im Norden des Gazastreifens geschieht, wird sowohl Israel als auch den Westen noch lange verfolgen.“
Jan Egeland, Generalsekretär der NRC-Flüchtlingshilfe, CNN-Interview, 23. Oktober 2024
Vorgestern, am 29. Oktober 2024, warnte das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) in einer Stellungnahme davor, dass die anhaltende humanitäre Krise im Gazastreifen bald zu einer Hungersnot eskalieren könnte, wenn nicht unverzüglich Maßnahmen ergriffen werden. Angesichts des nahenden Winters wird der Mangel an Nahrungsmitteln und anderen lebenswichtigen humanitären Gütern, die nicht in den Gazastreifen gelangen, zu katastrophalen Folgen führen.
Bereits im Dezember 2023 stellte Human Rights Watch fest, dass „die israelische Regierung die Aushungerung der Zivilbevölkerung als Methode der Kriegsführung im besetzten Gazastreifen einsetzt, was ein Kriegsverbrechen darstellt. Die israelischen Streitkräfte blockieren absichtlich die Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln und Treibstoff, behindern vorsätzlich humanitäre Hilfe, zerstören offenbar landwirtschaftliche Flächen und nehmen der Zivilbevölkerung überlebenswichtige Güter weg.“
Das Welternährungsprogramm (WFP) verfügt derzeit über rund 94.000 Tonnen Nahrungsmittel – genug, um eine Million Menschen vier Monate lang zu ernähren – und hält 46.596 Tonnen im Hafen von Ashdod, in Ägypten und in Jordanien für den Transport nach Gaza bereit. Der Transport ist jedoch nur mit der Genehmigung der israelischen Regierung und Kooperation der israelischen Armee möglich, diese blieben bisher aus.
Nach Angaben von IPC (Integrated Food Security Phase Classification) sind rund 96 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens mit einem hohen Maß an Nahrungsmangel konfrontiert:
Etwa 1,84 Millionen Menschen im gesamten Gazastreifen sind mindestens von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen, das heißt in ICP-Phase 3 „Kritisch“: Die Menschen leiden unter Nahrungsmittelknappheit, die ihre Gesundheit und Lebensbedingungen erheblich beeinträchtigt.
664.000 Menschen davon befinden sich in IPC-Phase 4 „Notfall“: Sie sind mit schwerer Nahrungsmittelknappheit, starker Unterernährung und sogar mit dem Tod konfrontiert, es müsste dringend eingegriffen werden.
Fast 133.000 Menschen davon befinden sich in IPC-Phase 5, der letzten Stufe der Skala, die „Katastrophe“ genannt wird: Die Menschen leiden unter extremer Nahrungsmittelknappheit und Hunger, die Sterberate ist hoch. Sofortige Maßnahmen sind erforderlich, um ihr Leben zu retten.
Nach Angaben von UNICEF sind neun von zehn Kindern nicht ausreichend ernährt, um normal wachsen und sich entwickeln zu können. Mindestens 37 Kinder sind in einem Jahr Krieg verhungert oder an Dehydrierung gestorben, die Dunkelziffer wird als weitaus höher eingeschätzt. Hungern führt zudem zu Immunsuppression, wodurch auch eigentlich harmlose Erkrankungen einen schweren Verlauf zeigen oder sogar zum Tod führen können.
Die von Israel zugelassene Hilfe für den Gazastreifen ist gleichzeitig auf den niedrigsten Stand seit Beginn des Krieges gesunken.
Nach Angaben des Sektors für Ernährungssicherheit (FSS) wurde in den nördlichen Gazstreifen seit zwölf Monaten kein Kochgas mehr geliefert. Mittlerweile sind die Preise für Brennholz auf dem Markt für die meisten Haushalte unerschwinglich geworden. Das auf den Märkten angebotene, immer weniger werdende Brennholz wird aus den Überresten von zerstörten Häusern, Möbeln und Strommasten gewonnen, berichtet das WFP. Die hohen Preise zwingen die vertriebenen Familien, die zu den schwächsten Bevölkerungsgruppen gehören, dazu, mit Plastikabfällen zu kochen, was eine ordnungsgemäße Essenszubereitung behindert, die Gesundheitsrisiken verschlimmert und Umweltgefahren verursacht, einschließlich der Gefahr von Bränden in stark überfüllten Zeltlagern.
Die Nahrungsmittelsysteme sind in Gaza aufgrund der Zerstörung von Fabriken, Anbauflächen und Geschäften weitgehend zusammengebrochen. Die Märkte sind fast leer, die Preise für viele Familien nicht mehr erschwinglich. Mitte Oktober veröffentlichte Al Jazeera eine Liste von aktuellen Lebensmittelpreisen in Gaza – sofern erhältlich, kostete ein Kilogramm Gurken im Norden von Gaza 150 USD, im Süden 8 USD; ein Karton Eier im Norden 73 USD, im Süden 32 USD; ein Kilogramm Tomaten im Norden 150 USD, im Süden 8 USD. Den meisten Menschen im Gazastreifen fehlen die Mittel, um lebenswichtige Güter zu kaufen. Fast alle haben ihre Arbeit verloren oder aber seit Monaten keinen Lohn erhalten, die – sofern je vorhanden gewesenen – Bargeldersparnisse und Tauschwaren sind fast aufgebraucht.
Frische Produkte, darunter Gurken und Tomaten, gehören zu den teuersten, nachdem Israel die meisten Farmen, Brunnen und Gewächshäuser in Gaza zerstört hat. So zeigt die jüngste, satellitengestützte Bewertung der landwirtschaftlichen Schäden, die von der UN-Organisation für Ernährungs- und Landwirtschaft (FAO) und UNOSAT durchgeführt wurde, dass am 1. September 2024 67,6 Prozent der Anbauflächen im Gazastreifen zerstört waren, wobei der Norden des Gazastreifens derzeit den höchsten Anteil an Schäden unter allen Regionen Gazas aufweist (78,2 Prozent). Außerdem wurden über 71 Prozent der Obstgärten und anderen Bäume, 67 Prozent der Feldfrüchte und 58,5 Prozent des Gemüses zerstört. Schwere Fahrzeugspuren, Zerstörungen, Granatenbeschuss und andere konfliktbedingte Belastungen haben die landwirtschaftliche Infrastruktur des Gazastreifens ebenfalls erheblich zerstört. Insgesamt wurden 1.188 von 2.261 landwirtschaftlichen Brunnen (52,5 Prozent) und über 44 Prozent der Gewächshäuser zerstört. Darüber hinaus wurden die Infrastruktur und die Schiffe des Hafens von Gaza-Stadt schon im Oktober 2023 größtenteils zerstört. Beth Bechdol, stellvertretende Generaldirektorin der UN-FAO, betonte, dass dies in Verbindung mit dem „beispiellosen Ausmaß“ der landwirtschaftlichen Zerstörung im Gazastreifen „ernste Bedenken hinsichtlich des Potenzials für die Nahrungsmittelproduktion jetzt und in der Zukunft“ aufwirft und „die drohende Gefahr einer Hungersnot im gesamten Gazastreifen noch verstärkt“.
Der Palästinenser Yousef Abu Rabee, der selbst aus einer Familie von Landwirten stammte, versuchte der Hungersnot in Gaza etwas entgegen zu setzen. Als Landwirtschaftsingenieur wurde er zu einer Rettungsleine für seine Mitmenschen, als Israel im Oktober 2023 mit den Angriffen auf Gaza begann und die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern wie Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten abschnitt.
Trotz der Zerstörung des landwirtschaftlichen Betriebes seiner Familie in Beit Lahia, einschließlich seines hydroponischen Gewächshauses [Hydroponik-Systeme versorgen die Pflanzen automatisch mit Wasser, Sauerstoff und Nährstoffen, Anm.], das sein persönliches Experiment war, um die Kosten für die traditionelle Landwirtschaft zu senken, ließ Yousef nicht locker. An der Seite seines Bruders gelang es ihm im nördlichen Gazastreifen, inmitten der Ruinen und der Blockade, Gemüse anzubauen. „In Beit Lahia haben wir geschafft, Zucchini, Gurken und Molokhia [Spinatartige Blätter, Anm.] anzubauen, was uns half, einige unserer Grundbedürfnisse zu decken“, erzählte Yousef. Mehr noch – er verteilte Setzlinge an seine Mitmenschen und unterrichtete sie darin, diese zu kultivieren und zu pflegen. Auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien am 15. Oktober 2024 ein berührendes Portrait über Abu Rabees außergewöhnliche Arbeit.
Seine Felder wurden im Rahmen der systematischen Angriffe Israels auf landwirtschaftliche Flächen zweimal bombardiert. Yousef Abu Rabee überlebte den ersten Angriff, nicht jedoch den zweiten. Er wurde am 21. Oktober 2024 im Alter von 24 Jahren getötet.
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Quellen:
WFP sounds alarm: urgent action needed as food insecurity in Gaza reaches critical levels (29. Oktober 2024)
UN: Gaza: No let-up in Israeli military offensive, situation ‘only getting worse’ (28. Oktober 2024)
IPC (Integrated Food Security Phase Classification)
Die Integrated Food Security Phase Classification, auch bekannt als IPC-Skala, ist ein Instrument zur Einstufung der Ernährungssicherheit, des Ausmaßes von Unterernährung und Hunger.
UN: The risk of Famine persists across the whole Gaza Strip. Given the recent surge in hostilities, there are growing concerns that this worst-case scenario may materialize. (17. Oktober 2024)
Gaza aid falls to lowest level since start of war despite US warning to Israel (30. Oktober 2024)
World must act to prevent ‘ethnic cleansing’ of Gaza, António Guterres warns (30. Oktober 2024)
UN-OCHA Update Nummer 227
Planting seeds of sovereignty in Gaza (22. Oktober 2024)
Das rote Gold von Gaza (15.10.2024)
How much does food cost in Gaza?
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