„Wir erleben die letzten Atemzüge der israelischen Gewalt." - Im Gespräch mit Avi Shlaim
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- 7. Apr.
- 13 Min. Lesezeit
Der Zionismus ist dabei, sich selbst zu zerstören.
Interview von Sebastian Shehadi, Novara Media, 21. März 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Nur wenige israelische Historiker haben die nationalen Mythen des Staates so auf den Prüfstand gestellt wie Avi Shlaim. Der emeritierte Professor für internationale Beziehungen an der Universität Oxford ist einer der bekanntesten Historiker der modernen palästinensischen und israelischen Geschichte.
Shlaim, der 1945 im Irak in eine arabisch-jüdische Familie geboren wurde und später nach Israel übersiedelte, zeichnete sich auf seinem akademischen Weg durch einen kritischen, nuancierten und persönlichen Ansatz aus, der nicht zuletzt durch seinen Dienst in der israelischen Armee Mitte der 1960er Jahre geprägt wurde.
Als eine der führenden Persönlichkeiten der „Neuen Historiker“-Bewegung der 1980er Jahre trug Shlaim dazu bei, einige der Mythen über die Gründung Israels zu entkräften, indem er traditionelle zionistische Sichtweisen in Frage stellte. Seine Arbeit über den arabisch-israelischen Krieg von 1948 und die Nakba, insbesondere sein bahnbrechendes Buch The Iron Wall: Israel und die arabische Welt, bietet eine kritische Analyse der israelischen Handlungen im Vorfeld des Krieges und seiner Folgen.
Professor Shlaim traf sich mit Novara Media in seinem Haus in Oxford, um über sein neuestes Buch „Genozid in Gaza“ zu sprechen: Israels langer Krieg gegen Palästina. Der bahnbrechende Band erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem sich die PalästinenserInnen in Gaza in einer katastrophalen Situation befinden, während Israels Vertreibungs- und Vernichtungsfeldzug weiterhin militärische und diplomatische Unterstützung durch westliche Regierungen genießt.
Wie Shlaim selbst schreibt, entspringen die Essays des Buches einem tief empfundenen (und historisch geprägten) Gefühl der „moralischen Pflicht, die Wahrheit zu sagen und den PalästinenserInnen in ihrer Stunde der Not beizustehen“. Mit Genauigkeit und ethischer Klarheit dokumentiert er die zahlreichen Kriegsverbrechen, einschließlich Völkermord, die Israel gegen das palästinensische Volk begangen und normalisiert hat, dessen Recht auf Selbstbestimmung und grundlegende Menschlichkeit unerbittlich angegriffen und vor den Augen der Weltöffentlichkeit zerstört wurde. Dabei bietet das Buch eine schonungslose Sezierung der rassistischen und siedler-kolonialen Logik, die die politischen und militärischen Praktiken Israels bestimmt.
„Genozid in Gaza“ ist auch eine zeitgemäße Fortsetzung von Shlaims gefeierten Memoiren Three Worlds: Memoirs of an Arab-Jew aus dem Jahr 2023, in der er die darin aufgeworfene Frage, ob Begriffe wie „Apartheid“, „Faschismus“ und „Völkermord“ auf den israelischen Staat angewandt werden sollten, erneut aufgreift (und überarbeitet). Unter Abwägung der zur Verfügung stehenden Beweise und unter Berufung auf juristische Stellungnahmen, unter anderem der UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese – die auch das Vorwort zu seinem neuen Buch geschrieben hat – kommt Shlaim zur Schlussfolgerung: Israel begeht einen Völkermord.
Bevor wir uns dem Buch zuwenden, können Sie erklären, was Sie dazu gebracht hat, sich als „Antizionist“ zu positionieren? Ich weiß, dass Sie sich vor Jahrzehnten, als Sie nach Oxford kamen, nicht als solche bezeichneten. Was hat sich geändert?
Es war ein langer Weg bis dahin, aber was mich verändert hat, war die Forschung in den Archiven. Ich wurde in den Archiven radikalisiert. Ich wurde in der Schule in Israel indoktriniert, und noch mehr, als ich Mitte der 1960er Jahre in der israelischen Armee diente. Ich glaubte, dass Israel ein kleines, friedliebendes Land sei, das von feindlichen Arabern umgeben war, die uns ins Meer werfen wollten, so dass wir keine andere Wahl hatten, als aufzustehen und zu kämpfen. Ich akzeptierte diese zionistische Meistererzählung, bis ich mich als Historiker für den arabisch-israelischen Konflikt zu interessieren begann. Ich verbrachte ein ganzes Jahr damit, jeden Tag in die israelischen Staatsarchive zu gehen und mir die Unterlagen anzusehen, die mir eine ganz andere Geschichte erzählten: dass Israel aggressiv war, dass Israel absichtlich Kämpfe mit seinen Nachbarn provozierte und dass Israel nicht am Frieden interessiert war.
Als 1993 das Osloer Abkommen unterzeichnet wurde, war ich euphorisch. Ich glaubte, dass dies das einzig Wahre sei, dass damit ein Prozess des langsamen, aber unumkehrbaren Rückzugs Israels aus den besetzten Gebieten eingeleitet würde und dass es einen palästinensischen Staat geben würde. Ich erinnere mich, dass ich mit Edward Said, einem Freund von mir, darüber sprach, nachdem wir beide Artikel in der London Review of Books veröffentlicht hatten. Edwards Artikel trug den Titel „Ein palästinensisches Versailles – Oslo als Instrument der palästinensischen Kapitulation“. Mein Artikel räumte alle Unzulänglichkeiten des Abkommens ein, bezeichnete es aber als einen bescheidenen Schritt in die richtige Richtung.
Aber ich habe mich geirrt. Ich habe fälschlicherweise geglaubt, dass der Oslo-Prozess unumkehrbar sei. Ich war naiv in Bezug auf Oslo. Ich bin auch bei anderen Dingen naiv, aber ich bin kein Feigling. Wenn ich auf der Grundlage von Beweisen zu Schlussfolgerungen komme, dann beschönige ich nichts, sondern schreibe es genau so, wie es ist. So wurde ich radikalisiert – indem ich das, was ich in den tatsächlichen Aufzeichnungen Israels sah, im Gegensatz zu seiner Propaganda anprangerte. Netanjahu hat jetzt den Lesesaal in den israelischen Staatsarchiven geschlossen. Wenn ich nach Israel fahre, habe ich einen israelischen Pass und bin noch nie aufgehalten worden. Aber jetzt, wo ich so offen bin und ein neues Buch mit dem Titel Genozid in Gaza habe, weiß ich nicht, was passiert, wenn ich das nächste Mal dorthin reise.
Manche argumentieren, dass israelische Verbündete der palästinensischen Sache ihre israelische Staatsbürgerschaft zurücklegen sollten. Was halten Sie von dieser Art des Protests?
Ich denke, es ist ein absolutes Unding zu sagen, dass ein Israeli kein glaubwürdiger Verbündeter ist, solange er oder sie nicht auf seine oder ihre Staatsbürgerschaft verzichtet hat. Abgesehen davon habe ich ernsthaft in Erwägung gezogen, auf meine israelische Staatsbürgerschaft zu verzichten. Ich habe mit einer Frau im israelischen Konsulat in London gesprochen, und sie sagte zu mir: „Ich weiß, wer Sie sind, ich kenne Ihre Ansichten, und ich sympathisiere mit ihnen. Aber wenn Sie meinen Rat wollen, lohnt es sich nicht, auf Ihren Pass zu verzichten. Die Behörden werden rachsüchtig sein und Ihnen nicht erlauben, zurückzukehren.“ Mit anderen Worten: Hätte ich meinen israelischen Pass aufgegeben, hätte ich nicht in die Archive gehen können.
In den vergangenen Jahren haben Sie sich mit dem Wort „Völkermord“ in Bezug auf Israel zurückgehalten. Was genau hat sich geändert?
Ich habe gezögert, mein Buch „Völkermord in Gaza“ zu nennen, weil Völkermord ein sehr großes Wort ist. Aber die Beweise, die ich vor Augen hatte, waren überwältigend und wurden immer deutlicher. Dies ist der erste Völkermord, der per Livestream übertragen wird. Länder und Führer sagen normalerweise nicht: „Wir begehen einen Völkermord“ und „Wir wollen den Feind auslöschen“. Sie verheimlichen es normalerweise, während die Israelis ganz offen zum Völkermord stehen.
In einem der Kapitel des Buches beziehe ich mich auf eine Datenbank mit völkermörderischen Äußerungen. Es ist schockierend, was öffentlich geäußert wurde, nicht nur von Randfiguren, sondern auch von Leuten wie dem israelischen Präsidenten Isaac Herzog, der verkündete, dass es in Gaza „keine Unschuldigen gibt“. Keine Unschuldigen unter den 50.000 Menschen, die getötet wurden, davon fast 20.000 Kinder. Es gibt Zitate von Netanjahu, die genozidal sind, ebenso wie von seinem ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant, der sagte: „Wir haben es mit menschlichen Tieren zu tun“.
Ich habe gezögert, die Dinge vor Oktober 2023 als Völkermord zu bezeichnen, aber was für mich den Ausschlag gab, war, als Israel jegliche humanitäre Hilfe für Gaza stoppte. Sie setzen den Hunger als Kriegswaffe ein. Das ist Völkermord.
Warum sind westliche Politiker so zögerlich, die Dinge beim Namen zu nennen? Die Antwort liegt auf der Hand: israelischer Exzeptionalismus. Israel steht über dem Völkerrecht, und die westlichen Politiker geben dafür grünes Licht. Als der britische Außenminister David Lammy gefragt wurde, ob es sich um einen Völkermord handele, sagte er, dass Völkermord ein juristischer Begriff sei und wir auf das Urteil des Gerichts warten müssten. Das ist schlichtweg falsch. Was Israel tut, entspricht der UN-Völkermordkonvention, und die besagt nicht, dass Länder auf ein Gericht warten müssen, um Maßnahmen zu ergreifen. Großbritannien und Amerika machen sich nicht nur mitschuldig an den israelischen Kriegsverbrechen, sondern sind aktive Partner, die Israel bei seiner genozidalen Kampagne gegen die PalästinenserInnen unterstützen.
Die moralische Absurdität dieser Situation hat auch auf mich persönlich eine interessante Wirkung gehabt. Ich bin sowohl Jude als auch Israeli, aber ich habe mich nie als Jude bezeichnet, da ich nicht praktizierender Jude bin. Seit dem genozidalen Angriff auf den Gazastreifen möchte ich mich jedoch dem Judentum annähern, denn seine Grundwerte sind Altruismus, Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden.
Die Netanjahu-Regierung ist die Antithese zu diesen jüdischen Grundwerten. Die Essenz des Judentums ist Gewaltlosigkeit, aber das derzeitige Regime ist die gewalttätigste Regierung in der Geschichte Israels. Als Jude sehe ich mich in der moralischen Pflicht, aufzustehen und meine Stimme zu erheben. Mein neues Buch ist mein bescheidener persönlicher Beitrag zum Kampf gegen den zionistischen Faschismus, der vom amerikanischen Imperialismus unterstützt wird. Es ist eine ganz persönliche Erklärung.
Wodurch unterscheidet sich dieses Buch von dem, was bisher erschienen ist, sowohl in Bezug auf Ihre Arbeit als auch auf die Literatur im Allgemeinen?
Im Jahr 2023 veröffentlichte ich eine Autobiografie mit dem Titel Three Worlds: Memoirs of an Arab-Jew. Diesem ganzen Buch liegt eine Kritik des Zionismus zugrunde. Da ich internationale Beziehungen studiert habe, wusste ich immer, dass die PalästinenserInnen die Hauptopfer des Zionismus sind. Aber als ich diese Familiengeschichte schrieb, wurde mir klar, dass es eine weitere Kategorie von Opfern des Zionismus gibt, über die nicht viel gesprochen wird, nämlich die arabischen Juden und Jüdinnen.
In diesem Buch sagte ich, dass Israel meiner Meinung nach viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, wie die Apartheid und die ständigen ethnischen Säuberungen seit der Nakba, aber keinen Völkermord. Jetzt sage ich, dass sie auch Völkermord begehen. Ich sehe Israel als einen Siedlerkolonialstaat, und die Logik des Siedlerkolonialismus ist die Eliminierung des Feindes. Das ist es, was Israel die ganze Zeit getan hat.
Das unerklärte Ziel des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen seit dem 7. Oktober war die ethnische Säuberung, und es gab einen durchgesickerten Regierungsbericht, in dem die Entvölkerung des Gazastreifens beschrieben wurde. Entvölkerung von 2,3 Millionen Menschen. Dies geschah zwar nicht aufgrund der Weigerung Ägyptens, aber das war das ursprüngliche Kriegsziel. Als das nicht funktionierte, ging Israel einen Schritt weiter in Richtung Völkermord, in Richtung Tötung und Verhungernlassen der Bevölkerung in Gaza.
Ich habe Israels Politik in Gaza seit dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 verfolgt, aber nichts hat mich auf das vorbereitet, was Israel jetzt mit seinen Angriffen auf die Zivilbevölkerung tut. Tod und Zerstörung, die von israelischen Generälen zynisch als „Rasenmähen“ bezeichnet werden – das ist erschütternd. Etwas Mechanisches, das man ab und zu macht. Etwas, das Tod und Vernichtung bringt, während das zugrunde liegende politische Problem ungelöst bleibt.
Die derzeitige Kriegsführung in Gaza unterscheidet sich quantitativ von allem, was bisher geschah. Wenn man alle palästinensischen Opfer aller früheren Angriffe auf den Gazastreifen (von denen es in den letzten 15 Jahren acht gab) zusammenzählt, sind sie nur ein Bruchteil der Opfer in diesem Krieg.
Was sagen Sie zu den israelischen Rechtfertigungen für die Gewalt der letzten 16 Monate?
Israel sagt, es handele „in Selbstverteidigung“, ebenso wie seine westlichen Verbündeten. Der britische Premierminister Keir Starmer wurde gefragt, ob es gerechtfertigt sei, dass Israel den Menschen in Gaza die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Treibstoff verweigert, und er wiederholte: „Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung.“ Das ist das Mantra. Ich würde den israelischen Apologeten sagen, dass Israel nach internationalem Recht nur ein Recht hat: die Besatzung zu beenden und zu verschwinden. Israel hat nicht das Recht auf Selbstverteidigung, wie es in Artikel 51 der UN-Charta definiert ist. Israel ist nach internationalem Recht die Besatzungsmacht in Gaza. Du hast kein Recht auf Selbstverteidigung, wenn der Angriff auf dich aus einem Gebiet kommt, das du beherrscht.
Israel rechtfertigt seine Angriffe auf den Gazastreifen immer damit, dass die Hamas Raketen auf seine BürgerInnen abfeuert und dass es die Pflicht hat, seine BürgerInnen zu schützen. Die Hamas hat viele Waffenstillstandsvereinbarungen akzeptiert und hält diese auch ein. Israel hat jedes einzelne Waffenstillstandsabkommen mit der Hamas gebrochen, als es ihm nicht mehr passte.
Zum Beispiel, als Ägypten Mitte 2008 das Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hamas vermittelte. Die Hamas hielt sich an die Waffenruhe und setzte sie gegenüber anderen radikaleren Gruppen wie dem Islamischen Dschihad durch, bis zum 4. November 2008, als Israel den Gazastreifen überfiel und Hamas-Kämpfer tötete und damit die Feindseligkeiten wieder aufnahm. Die Hamas bot Israel die Erneuerung dieser Waffenstillstandsvereinbarung zu den ursprünglichen Bedingungen an. Israel hat diesen Vorschlag vollständig ignoriert. Israel verfügte über einen diplomatischen Weg zur Lösung des Konflikts, den es jedoch nicht einschlug und stattdessen die Operation Gegossenes Blei startete. Auf diese Weise schützt Israel also seine BürgerInnen.
An welchem Punkt zieht der Westen eine rote Linie? Es scheint, dass Israel unbegrenzt PalästinenserInnen töten kann.
Völkermord ist keine Frage von Zahlen. Es geht um die Absicht, eine religiöse oder ethnische Gruppe – ganz oder teilweise – zu vernichten. Abgesehen davon ist die Zahl von 50 000 in Gaza getöteten Menschen eine enorme Unterschätzung. Wahrscheinlich sind noch viele Tausende unter den Trümmern begraben. Der Lancet schätzt die Zahl der Opfer auf etwa 180 000. Ich kann mir keinen Punkt vorstellen, an dem Trump jemals sagen würde: „Es reicht“.
Biden war völlig ineffektiv. Gelegentlich kritisierte er Israel für die wahllose Bombardierung von ZivilistInnen, aber er hat den Waffenfluss nie gestoppt, so dass Israel keine Notiz von ihm nehmen musste. Er hat Israel grünes Licht gegeben. Trump ist anders, denn er unterstützt das Projekt der israelischen Rechten, nämlich die ethnische Säuberung des Gazastreifens und im Westjordanland. Und jetzt haben wir den Trump-Plan für den Gazastreifen, der vorsieht, dass alle BewohnerInnen des Gazastreifens nach Ägypten oder Jordanien umziehen und dass Amerika den Gazastreifen übernimmt und ihn in eine Riviera verwandelt. Er nennt den Gazastreifen eine „Abbruchbude“, die gesäubert werden muss. Man beachte die imperiale Hybris.
Wohin werden uns die nächsten vier Jahre unter Trump führen?
Die Netanjahu-Regierung sagt, dass ausschließlich das jüdische Volk ein Recht auf Selbstbestimmung im gesamten Land Israel hat, was natürlich auch das Westjordanland einschließt. Diese Regierung ist extremer als alle vor ihr. Sie beansprucht die alleinige Souveränität über das gesamte Land Israel. [Der israelische Finanzminister Bezalel] Smotrich und [der israelische Minister für nationale Sicherheit Itamar] Ben-Gvir machen daraus keinen Hehl. Sie wollen, dass die ethnische Säuberung im Gazastreifen und im Westjordanland beschleunigt wird und die Siedlungsexpansion mit voller Kraft fortgesetzt wird, wobei das Endziel die formelle Annexion des Westjordanlandes ist.
Bislang ist Israel auf keinen wirksamen Widerstand seitens der Europäischen Union, Großbritanniens, Amerikas oder der Vereinten Nationen gestoßen. Die internationale Gemeinschaft ist machtlos, so wie sie es seit über 75 Jahren ist.
Haben Sie in den letzten 16 Monaten viele Anfeindungen aus israelfreundlichen Kreisen erhalten, wenn man bedenkt, wie offen Sie sich geäußert haben?
Nein. Tatsächlich habe ich seit Beginn des Gaza-Krieges kaum Hasspost bekommen, und ich habe mich radikaler und öffentlicher geäußert als je zuvor. Andererseits bekomme ich sehr viel Fanpost. Leute, die mir schreiben und sagen: „Danke. Du sprichst für uns, du gibst uns eine Stimme.“ Das ist sehr ermutigend. Irgendwie bin ich überall auf TikTok in Videos gelandet.
Ich finde es interessant, dass ich in den letzten 16 Monaten keine Hass-Mails erhalten habe, denn normalerweise würde ich das tun. Das weltweite Meinungsklima ändert sich. Israel hat argumentativ verloren. BDS fordert das Ende der Besatzung, das Recht auf Rückkehr und gleiche Rechte für die palästinensischen BürgerInnen Israels. Es ist eine globale gewaltfreie Bewegung. Israel hat darauf keine Antwort.
Wie können sie die Fortsetzung ihrer Besatzung und Apartheid rechtfertigen? Das kann man nicht – und deshalb hat Israel eine billige globale Kampagne gestartet, um Antizionismus und Antisemitismus absichtlich in einen Topf zu werfen. Aber die Menschen sind klüger geworden. Und wenn man eine ehrliche Botschaft zu vermitteln hat, wie ich es tue, und die Dinge beim Namen nennt, werden die Menschen zuhören.
Haben Sie die Hoffnung, dass eine dritte Partei eines Tages für Gerechtigkeit in Palästina sorgen wird?
Die Machtasymmetrie zwischen Israel und den PalästinenserInnen ist so groß, dass eine freiwillige Vereinbarung nicht möglich ist. Die ganze Geschichte, vor allem seit Oslo, zeigt, dass sie keine Einigung erzielen können, die gerecht ist. Israelis und PalästinenserInnen zu sagen, „klärt eure Differenzen selbst“, ist so, als würde man einen Löwen und ein Kaninchen in einen Käfig stecken und ihnen sagen, sie sollen „ihre Differenzen klären“. Es bedarf einer dritten Partei, um die beiden Seiten zu einer Einigung zu bewegen. Diese Instanz hätte die UNO sein sollen. Aber Amerika hat die UNO und die EU an den Rand gedrängt und ein Monopol auf den Friedensprozess errichtet. Aber es hat Israel nie zu einer Einigung gedrängt.
In Israel kann ich nicht erkennen, dass der Impuls für einen Wandel von innen kommen wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Israelis nach dem 7. Oktober aufwachen und sagen: „Wir haben uns die ganze Zeit geirrt. Wir müssen uns wirklich mit den PalästinenserInnen an den Verhandlungstisch setzen.“ Das wird nicht passieren. Die Stimmung geht genau in die andere Richtung.
Vor dem Hamas-Angriff gab es in der israelischen Gesellschaft eine Spaltung über die Justizreform – eine sehr tiefe Spaltung, die fast zu einem Bürgerkrieg führte. Aber dann kam der Hamas-Angriff und die gesamte israelische Gesellschaft stellte sich geschlossen hinter diesen Krieg. Sie glauben, dass Israel das Recht hat, alles zu tun, was es will, ungeachtet des internationalen Rechts, und dass jeder, der Israel etwas vorwirft, antisemitisch ist. Das ist der Konsens in Israel heute. In der Zwischenzeit haben die westlichen Regierungen Israel Straffreiheit gewährt, obwohl sie beginnen, sich zu ändern. Schauen Sie sich die positiven Schritte an, die Irland, Norwegen, Slowenien und Spanien in den letzten 16 Monaten an der Seite Palästinas unternommen haben.
Allerdings setze ich meine Hoffnungen nicht auf die Regierungen. Ich setze sie auf die Zivilgesellschaft, auf BDS, auf die Märsche in London und anderswo und auf die Studentenbewegungen und ihre Lager. Die Studentenbewegungen sind durch Gerechtigkeit und Moral motiviert. Sie stehen auf der richtigen Seite der Geschichte. Die Regierungen der USA und Großbritanniens stehen auf der falschen Seite. Das ist der Grund, warum Israel so viel Angst vor BDS und den StudentInnen hat. Israel hat argumentativ verloren. Es ist eine brutale, aggressive, militaristische Gesellschaft, und es wird den Weg gehen, den Südafrika dank der Sanktionen gegangen ist.
Ich glaube, dass die Apartheid im 21. Jahrhundert auf Dauer nicht haltbar ist und dass der Zionismus dabei ist, sich selbst zu zerstören. Imperien werden insbesondere dann gewalttätig, wenn sie im Niedergang begriffen sind, und ich glaube, dass wir gerade ZeugInnen davon werden – von den letzten Atemzügen der israelischen Gewalt. Wenn das vorbei ist, wird die Spaltung der israelischen Gesellschaft weitergehen. Israel wird von innen her schwächer werden und die Unterstützung von außen wird abnehmen. Diese Kombination von Faktoren wird zum Zerfall des Zionismus und des Siedlerkolonialismus führen. Israel befindet sich auf dem Weg der Selbstzerstörung, aber das wird nicht über Nacht geschehen. Es wird noch viele Jahre dauern.
Gibt Ihnen dieser außergewöhnliche Moment in gewisser Weise Hoffnung?
Durch die uneingeschränkte Unterstützung Israels haben der Westen – und insbesondere die USA – das so genannte regelbasierte internationale System zerstört. Das ist eine schreckliche Zeit, eine schrecklichere Zeit, als ich mich je erinnern kann. Israel hat sein wahres Gesicht gezeigt. Wir sehen, wie bösartig es ist und wozu es fähig ist.
Die Wahl von Trump hat enorme Konsequenzen, denn er schert sich nicht um internationales Recht, die UNO oder die Nato. Ihm geht es nur um Amerika an erster Stelle. Er wird jedes Mittel nutzen, um Amerika einen Vorteil zu verschaffen. Er ist eine imperiale Macht ohne jegliche politische, moralische oder rechtliche Schranken.
Wie sehen Sie die Entwicklung nach dem Sturz des israelischen Zionismus?
Es gibt immer noch einen breiten internationalen Konsens für die Zweistaatenlösung. Früher habe ich eine Zwei-Staaten-Lösung unterstützt, aber Israel hat sie im Keim erstickt. Heute redet Israel nicht einmal mehr von einer Zweistaatenlösung. Im Gegenteil, es scheint sich dem palästinensischen Staat bis zum bitteren Ende offen zu widersetzen.
Eine Zweistaatenlösung ist keine Option mehr. Israel setzt die Politik der schleichenden Annexion fort. Was den PalästinenserInnen im Westjordanland bleibt, sind ein paar isolierte Enklaven, nicht aber die Grundlage für einen lebensfähigen Staat. Daher besteht die Wahl zwischen einem Staat mit gleichen Rechten für alle seine Bürger oder dem Status quo: Apartheid, Ethnokratie und Völkermord. Ich habe mich klar für die Freiheit und die gleichen Rechte für alle entschieden. Das ist es, was ich – und viele andere – meinen, wenn wir sagen: „Vom Fluss bis zum Meer“.
Genocide in Gaza: Israel, Hamas, and the Long War on Palestine von Avi Shlaim wird Anfang Mai 2025 von der Irish Pages Press veröffentlicht.
Sebastian Shehadi ist freiberuflicher Journalist und schreibt für The New Statesman.

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