Die Einstellung der Kampfhandlungen im Gazastreifen hat es Israel ermöglicht, seine Aufmerksamkeit auf das Westjordanland zu richten - mit verheerenden Folgen.
Von Nesrine Malik, The Guardian, 10. März 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Vor etwas mehr als sechs Wochen trat im Gazastreifen eine Waffenruhe in Kraft, und es ist offensichtlich, dass diese eher als „Feuerpause“ denn als Waffenstillstand bezeichnet werden sollte. Nach wie vor werden zahlreiche Menschen getötet – genug, um in jedem anderen Szenario sowohl alarmierend als auch berichtenswert zu sein. Nach Angaben des Sprechers des Zivilschutzes in Gaza sind seit dem 19. Januar mehr als 100 Menschen getötet worden. Diese Tötungen bilden zusammen mit anderen Verstößen eine düstere Bilanz von Hunderten dokumentierten Verletzungen der Waffenruhe seitens der israelischen Regierung.
Die jüngste dieser Verletzungen ist die Entscheidung der israelischen Behörden, die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen zu stoppen, um Druck auf die Hamas auszuüben, damit sie neue Waffenstillstandsbedingungen akzeptiert: Nur wenige Stunden nach Ablauf der ersten Phase des Waffenstillstands stellte Israel alle Lieferungen ein. Damit nutzt Israel Nahrungsmittel und zivile Hilfsgüter als politisches Instrument, um seine Ziele zu erreichen. Das katarische Außenministerium, das in den letzten Monaten die Geiselbefreiungen und Waffenstillstandsvereinbarungen eingefädelt hat, bezeichnete diesen Schritt als „klaren Verstoß“ gegen die Bedingungen des Waffenstillstands und das humanitäre Völkerrecht.
Diese Blockade betrifft nicht nur einige wenige PalästinenserInnen, sondern jeden einzelnen Bewohner und jede einzelne Bewohnerin des Gazastreifens. Die gesamte Bevölkerung wird als Geisel gehalten. Laut Amjad al-Shawa, Direktor des palästinensischen NGO-Netzwerks in Gaza, „ist die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens aufgrund der Zerstörung der wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur vollständig auf Hilfsgüter aller Art angewiesen“. Der Waffenstillstand in seiner jetzigen Form ist kein Hindernis für den Tod, den Hunger und die Belagerung einer ganzen Bevölkerung, deren Häuser zerstört wurden und deren Babys immer noch in der Kälte zerrissener Zelte erfrieren.
Im Westjordanland ist das Muster der langsamen, aber zermürbenden Angriffe seit Monaten zu beobachten und eskaliert seit Wochen. Im Westjordanland beläuft sich die Zahl der Todesopfer seit dem 7. Oktober und infolge der zunehmenden Siedlergewalt und der Angriffe der israelischen Armee nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums auf fast 1 000. Der Waffenstillstand hat die Situation nur noch verschlimmert. Da der Gazastreifen nun weniger Ressourcen und aktives militärisches Engagement erfordert, hat Israel seine Aufmerksamkeit auf die besetzten Gebiete im Westjordanland verlagert - ein Prozess, der als „Gazafizierung“ bezeichnet wurde. Der Krieg im Gazastreifen und das, was dort in Form von Tötungen von ZivilistInnen, Massenvertreibungen und Angriffen auf medizinische Einrichtungen zugelassen wurde, ist zu einem stresserprobten Modell geworden, das nun im Westjordanland angewendet wird. In der Gewissheit, dass westliche Verbündete sie weiterhin unterstützen und mit Waffen und politischer Rückendeckung versorgen werden, wiederholt die israelische Regierung ihre Taktik nun auch anderswo.
In dem Moment, in dem ein Waffenstillstand vereinbart wurde, startete Israel die Operation „Eiserne Mauer“, eine Militäraktion im Westjordanland, als ob es mit seinem Timing signalisieren wollte, dass dies nun ein ewiger Krieg der permanenten Rache ist. Allein im vergangenen Jahr wurden nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten mehr als 224 Kinder im Westjordanland durch israelische Streitkräfte und Siedler getötet. Um eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie stark der Abwärtstrend ist, stellt diese Zahl fast die Hälfte aller Kinder dar, die im Westjordanland seit Beginn der Aufzeichnungen vor 20 Jahren getötet wurden. Unter ihnen ist auch Ayman al-Hammouni, dessen Erschießung von einer Kamera festgehalten wurde, eine weitere Video- und Audioaufzeichnungen der erschütternden und panischen letzten Momente eines Kindes vor seinem Tod in den palästinensischen Gebieten. Unter ihnen ist auch die zweijährige Layla al-Khatib, die in ihrem eigenen Haus erschossen wurde. Und das ungeborene Kind von Sundos Jamal Mohammed Shalabi, die im achten Monat schwanger war und zusammen mit ihrem Kind starb, als sie erschossen wurde. Und so geht es immer weiter: unerbittlich, unvorstellbar, unaufhaltsam.
Die Vorgehensweise und die Rechtfertigungen sind denen in Gaza unheimlich ähnlich. Die gezielte Bekämpfung von Kämpfern wird zur Erklärung für eine ganze Reihe ruinöser Aktivitäten, zu denen unter anderem die Zerstörung der Infrastruktur, die Vertreibung von Menschen aus ihren Häusern ohne Rückkehrrecht (nach Angaben der UN-Hilfsorganisation UNRWA bisher 40 000 Vertriebene in weniger als zwei Monaten), die gezielte Bekämpfung medizinischer Einrichtungen und des Personals und die Zerstörung ganzer Stadtteile gehören, sowie die tödlichste Maßnahme, die Lockerung der militärischen Einsatzregeln, die den Soldaten mehr Spielraum und die Erlaubnis gibt, das Feuer zu eröffnen. Laut UNRWA ist „der Einsatz von Luftangriffen, gepanzerten Bulldozern, kontrollierten Sprengungen und fortschrittlichen Waffen durch die israelischen Streitkräfte im Westjordanland alltäglich geworden und eine Auswirkung des Krieges in Gaza“. Das Ergebnis ist ein Angriff auf das Westjordanland, der ebenso historisch ist, wie er es in Gaza war und ist.
Schon jetzt ist die Operation Eiserne Mauer die längste im Westjordanland seit der zweiten Intifada. Panzer sind angerollt, und zum ersten Mal seit 20 Jahren richten sich israelische Soldaten in Flüchtlingslagern in Gebieten wie Jenin und Tulkarem für einen längeren Zeitraum ein. Diese Aktionen markieren eine wesentliche Veränderung in der Art und Weise, wie Israel mit der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen und im Westjordanland umgeht. Der Übergang von der brutalen Zermürbung durch Siedlergewalt, Belagerung, Rechtsbeugung und Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren zu einer tödlicheren und repressiveren Form der Autorität, die kein strategisches Ziel oder einen langfristigen Plan für Stabilität zu haben scheint, ist vollzogen. Das Ziel scheint die Ausweitung der Siedlungen, der Militärpräsenz und des Einschlusses und der Kontrolle über das Leben von Millionen PalästinenserInnen zu sein, indem man ihnen alles vorschreibt, von der Frage, ob sie zu essen haben, bis hin zu der Frage, ob sie ein Recht auf Leben haben. Das Ergebnis ist eine Beschneidung des ohnehin wenigen, das die PalästinenserInnen noch haben - noch weniger Land, noch weniger Autonomie und noch weniger Menschenrechte.
In einem derart asymmetrischen Machtverhältnis und mit einer derartigen Straflosigkeit hat Israel keinen Anreiz, so zu agieren, dass sich die Dinge beruhigen. Die israelische Blockade des Gazastreifens zeigt, dass Israel die Bedeutung der Aufrechterhaltung der Verhandlungen nicht ernst nimmt. Wenn der Waffenstillstand in Gaza zusammenbricht, wird der Konflikt wieder zu unverhältnismäßig hohen Opfern auf palästinensischer Seite führen. Wenn im Westjordanland mehr Menschen sterben, nährt das nur die Siedlungen, die sich in den Gebieten der Vertriebenen ausbreiten.
Ein derart blutiger und erdrückender Waffenstillstand sollte niemanden darüber hinwegtäuschen, dass sich Israel-Palästina auf dem Weg zurück zum Status quo vor dem Krieg befindet oder dass es nach dem Krieg irgendeine Aussicht auf eine stabile Zukunft gibt. Donald Trump, die arabischen Führer und die israelische Regierung können so viel hin und her diskutieren, wie sie wollen, was der beste „Gaza-Plan“ ist. Die Realität ist, dass der Krieg in Gaza vielleicht vorerst vorbei sein mag, aber in den anderen palästinensischen Gebieten hat er gerade erst begonnen.
Nesrine Malik ist Kolumnistin des Guardian.

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