UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese spricht mit Tribune über Israels Völkermord als eine Form der „kolonialen Auslöschung“ - und warum die palästinensische Sache ein Symbol des Widerstands gegen alle Formen der Ausbeutung ist.
Interview von Owen Dowling mit Francesca Albanese, Tribune, 13.11.2024
(Originalbeitrag in englischer Sprache und mit entsprechenden Querverweisen: )
Seit dem Beginn des israelischen Vernichtungskrieges gegen die Bevölkerung des Gazastreifens vor dreizehn Monaten hat Francesca Albanese, Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die besetzten palästinensischen Gebiete, internationales Ansehen als öffentliche Chronistin, juristische Expertin und politische Gegnerin des Völkermords erlangt. Seit ihrer Ernennung im Mai 2022 – dem Monat, in dem die israelischen Streitkräfte die palästinensisch-amerikanische Journalistin Shireen Abu Akleh in Jenin ermordeten – hat die in Campagna geborene internationale Menschenrechtsanwältin eine Reihe offizieller Berichte verfasst, in denen sie das Apartheidregime, dessen Umbau des Westjordanlands in ein „ständig überwachtes Panoptikum unter freiem Himmel“, das von kolonialen Siedlungen durchzogen ist, und seit Oktober 2023 auch die Verbrechen des Völkermords an den PalästinenserInnen detailliert beschreibt.
Als Vorreiterin der dringenden Forderung in internationalen Gremien nach einem sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand und der Mobilisierung aller Formen von weltweitem Druck auf den israelischen Staat war Albanese aufgrund ihres gestiegenen Bekanntheitsgrades natürlich denselben routinemäßigen Diffamierungskampagnen ausgesetzt, die allen UnterstützerInnen der palästinensischen Befreiung in Großbritannien vertraut sind. Nun hat die Sonderberichterstatterin trotz der jüngsten Forderungen von Organisationen, die sich für Israel einsetzen, ihr den Zutritt zu westlichen Universitäten zu verwehren, eine Vortragsreise durch Londoner Universitäten unternommen, auf der sie Israels gegenwärtigen Völkermord und die Rolle (und die Grenzen) der internationalen Menschenrechte beim Kampf dagegen anspricht. Angesichts der Tatsache, dass der so genannte Plan der Generäle [auch Eiland-Plan genannt, Anm.] zur ethnischen Säuberung des nördlichen Gazastreifens voranschreitet und sich weiterhin palästinensische und libanesische Kinder zu den Tausenden und Abertausenden getöteten Kindern gesellen, war allen Anwesenden bei Albaneses Rede am Montagabend an der SOAS [Universität von London] klar, dass die Lage nicht schlimmer sein könnte.
Als ich mich dem Campus am Russell Square näherte, fand ich meinen Weg durch die Tore der SOAS zunächst durch ein kleines Hindernis versperrt: pro-zionistische DemonstrantInnen – mit Unions- und israelischen Flaggen und Plakaten mit der Aufschrift "BAN FRAN" und Rufen "I-I-IDF!" – flankiert von der Polizei, und zwischen ihnen und der Universität eine wesentlich größere, lautere, jüngere und vielfältigere pro-palästinensische Gruppe, die meisten davon StudentInnen. Als die versammelte Menge Albanese mit Jubel und Trommelschlägen begrüßte, verdeutlichte dieser feierliche Empfang die Ähnlichkeiten, die die Pro-Palästina-AktivistInnen zwischen Albaneses internationalen Einsatz für die Menschen in Gaza angesichts persönlicher Angriffe und ihrem eigenen Aktivismus angesichts der disziplinarischen Unterdrückung an der SOAS verspürten.
Dr. Michelle Staggs Kelsall, Co-Direktorin des Zentrums für Menschenrechte der Universität, eröffnete die Veranstaltung, die eine enormen Besucherandrang verzeichnete, mit den Worten: " Wir sind solidarisch mit Francesca Albanese und wehren uns gegen die Versuche, ihre kraftvolle und mutige Stimme zum Schweigen zu bringen." Albaneses juristisches Fachwissen wurde von ihrer ehemaligen Dozentin, Professor Lynn Welchmann hervorgehoben und dem eines anderen Absolventen der SOAS, David Lammy, gegenübergestellt, nachdem der Außenminister vor kurzem im Parlament behauptet hatte, dass die Verwendung des Begriffs "Völkermord" zur Beschreibung des israelischen Vorgehens in Gaza "die Ernsthaftigkeit dieses Begriffs untergräbt". Albanese, deren unermüdlicher Einsatz zur Unterstützung Palästinas und gegen Völkermord bei der UNO als "mutig" gelobt wurde, erhielt für ihren Vortrag Imperialism, Colonialism, and Human Rights: The Litmus Test of Palestine Standing Ovations.
Anstelle einer Zusammenfassung des Vortrags lohnt es sich, Albaneses einleitende Beschreibung der Topographie des Völkermords in Gaza bis November 2024 vollständig zu zitieren:
„Erlauben Sie mir, die Situation des palästinensischen Volkes, so wie sie jetzt ist, in unser Bewusstsein zu rücken. Seit 401 Tagen müssen wir in Gaza mit ansehen, wie Israel durch ständige Bombardierungen, Beschuss und Artilleriebeschuss nichts und niemanden verschont. Die Kriegsführung hat sich von ihrer rücksichtslosesten Seite gezeigt. Groß angelegte, wahllose Bombardierungen, der Einsatz von Systemen, die mit Hilfe künstlicher Intelligenz ausgewählte Ziele anvisieren, die ständige Überwachung durch unbemannte Drohnen; automatische Scharfschützen, die auf Menschen schießen, während sie auf Märkten einkaufen, Wasser holen, medizinische Hilfe suchen oder sogar in Zelten schlafen; Soldaten, die in Panzern untergebracht sind und unbewaffnete Zivilisten angreifen. Bei lebendigem Leibe verbrannt, unter den Trümmern einem langsamen, qualvollen Tod überlassen; ganze Generationen von Familien, zusammengepfercht in Häusern, die in einem einzigen Augenblick bombardiert und zerstört werden; Krankenhäuser und Flüchtlingslager, die sich in Friedhöfe verwandelt haben, voll mit JournalistInnen, StudentInnen, ÄrztInnen, KrankenpflegerInnen, Menschen mit Behinderungen, die einst in diesen nun zerstörten Gebieten lebten.“
Nach unserem ersten Treffen bei einem überfüllten Empfang im Paul Webley Wing der SOAS im Anschluss an die Vorlesung verabredete Tribune ein Treffen mit Albanese für den nächsten Tag in einem afghanischen Restaurant in Mile End. Umgeben von Straßen mit Laternenpfählen, die mit palästinensischen Flaggen geschmückt waren, sprachen wir über den Völkermord im Gazastreifen, den israelischen Siedlerkolonialismus, die Rechte und Pflichten von Völkern und Staaten nach dem Völkerrecht und über die Herausforderungen, denen sie im Rahmen ihres Mandats als UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete begegnet.
Vielen Dank, dass Sie mit Tribune sprechen. Ich habe Ihre UN-Berichte "Anatomie eines Völkermordes" (März 2024) und kürzlich "Völkermord als koloniale Auslöschung" (Oktober 2024) gelesen und natürlich gestern Abend Ihren Vortrag in der SOAS besucht, in dem Sie erklärten, dass Sie auf dem Begriff "Völkermord" bestehen, weil "die Zerstörung, die wir in Palästina sehen, genau das ist, was der Siedlerkolonialismus tut. Das ist es, was ein siedlungskolonialer Völkermord ist".
Könnten Sie das Argument erläutern, das Sie im Hinblick auf den völkerrechtlichen Diskurs vorgebracht haben, und zwar in Bezug auf die Frage, inwiefern der laufende Völkermord in Palästina als ein siedlungskoloniales Unterfangen verstanden werden kann?
Zunächst einmal wird der Begriff "Völkermord" nicht durch persönliche Meinungen oder persönliche Geschichten oder durch Vergleiche mit Ereignissen in der Vergangenheit definiert, obwohl die Vergangenheit uns viel darüber sagen kann, wie ein Völkermord aussieht. Was ein Völkermord aus rechtlicher Sicht ist, wird in Artikel zwei der Völkermordkonvention festgelegt. Er besteht aus einer Reihe von Handlungen, die an sich strafbar sind, wie Tötungshandlungen, Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Schmerzen, Schaffung von Lebensbedingungen, die zur Vernichtung einer Gruppe führen, Zwangsverschleppung von Kindern, Verhinderung von Geburten. Dies sind Handlungen, die in der Völkermordkonvention als Völkermord anerkannt werden.
Das entscheidende Element für einen Völkermord ist die Absicht, eine Gruppe – ganz oder teilweise – durch eine dieser Handlungen zu vernichten. Man könnte, wie in Australien oder Kanada geschehen, einen Völkermord in erster Linie, wenn auch nicht nur, durch die Verschleppung von Kindern begehen, also ohne zu töten. Das erste Problem ist also, dass einige Leute bestreiten, dass das, was Israel tut, als Völkermord bezeichnet werden kann, weil Israel nur 45.000 Menschen getötet hat, als ob das normal wäre, während es den gesamten Gazastreifen zerstört hat.
Einige Menschen sehen die Brutalität dieses Vorgehens und verteidigen es dennoch als "Selbstverteidigung". Der Punkt ist, dass diese extreme Zerstörung, diese Verletzung grundlegender Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Einrichtungen und des zivilen Lebens durch die israelische Logik, dass jeder tötbar ist, entweder als Terrorist oder als menschliches Schutzschild oder als Kollateralschaden, und dass alles zerstörbar ist, das internationale Recht völlig ausgehebelt hat. Und deshalb haben wir 402 Tage später ein Gaza, das nicht mehr bewohnbar ist. Gaza ist zerstört. Wenn dies kein offensichtlicher Völkermord ist, was dann?
Wir müssen auch den Kontext verstehen, in dem sich dieser Völkermord abspielt. Aus diesem Grund habe ich den letztgenannten Bericht Genozid als koloniale Auslöschung verfasst. Die Tötung, die Unmöglichkeit zu leben, die gewaltsame Vertreibung der PalästinenserInnen, die Bombardierung von Norden nach Süden, von Westen nach Osten, der Zwang, an den unwirtlichsten Orten im Gazastreifen zu leben, nachdem alles zerstört wurde, was den Menschen den Zugang zum Lebensunterhalt ermöglichte; nachdem sie über ein Jahr lang kein Wasser, keine Nahrung, keine Medizin, keinen Treibstoff mehr hatten – ein Jahr! – und Tausende von PalästinenserInnen willkürlich verhaftet, ihrer Freiheit beraubt, gefoltert und vergewaltigt wurden. Sehen wir die Realität?
Und die Sache ist auch die, dass dies nicht erst vor einem Jahr begonnen hat. Die PalästinenserInnen werden seit Jahrzehnten unterdrückt, bedrängt, misshandelt, zum Objekt von Missbrauch, Demütigungen, Erniedrigungen und ungeheuerlichen Verstößen gegen das Völkerrecht gemacht. Israel tut dies in dem Bestreben, ein "Groß-Israel" zu errichten, einen Ort jüdischer Souveränität zwischen dem Fluss und dem Meer. Deshalb sage ich, dass es sich um einen Völkermord handelt, der nicht nur aus ideologischem Hass, der in eine politische Doktrin umgewandelt wird, begangen wird, wie es bei anderen Völkermorden durch die Entmenschlichung des "Anderen" geschah; dieser Völkermord wurde wegen des Landes, für Land begangen. Israel will das Land ohne die PalästinenserInnen. Für die PalästinenserInnen ist der Verbleib auf dem Land ein Teil dessen, was sie als Volk ausmacht. Deshalb nenne ich es Völkermord als koloniale Auslöschung.
In Ihrem Bericht stellen Sie fest, dass die israelische Besatzung nach dem Völkerrecht an und für sich einen Akt der Aggression darstellt, was, wie Sie schreiben, jeden Anspruch Israels auf das Recht eines souveränen Staates auf Selbstverteidigung zunichte macht. Könnten Sie noch einmal völkerrechtlich erklären, was die Tatsache, dass die Besatzung selbst als ein Akt der Aggression gilt, für das oft behauptete "Recht Israels auf Selbstverteidigung" und damit auch für das Recht der PalästinenserInnen als Volk auf bewaffneten Widerstand im Prinzip bedeutet?
Der Internationale Gerichtshof hat festgestellt, was seriöse RechtsexpertInnen, WissenschaftlerInnen und andere seit Jahrzehnten sagen. Israel hält in den besetzten palästinensischen Gebieten, d. h. im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem, eine unrechtmäßige Besatzung aufrecht. Sie hindert die PalästinenserInnen daran, ihr Selbstbestimmungsrecht, d. h. ihr Recht, als Volk zu existieren, zu verwirklichen. Sie ist gleichbedeutend mit Rassentrennung und Apartheid, da sie eine kontinuierliche Annexion von palästinensischem Land ausschließlich zum Nutzen jüdischer israelischer BürgerInnen bedeutet und ermöglicht. Aus diesem Grund muss die Besatzung [gemäß dem Urteil des IGH] bis September 2025 vollständig, unmissverständlich und bedingungslos aufgelöst werden. Das bedeutet, dass die Truppen abgezogen, die Siedlungen aufgelöst und die israelischen BürgerInnen nach Israel zurückgebracht werden müssen, es sei denn, sie wollen als palästinensische BürgerInnen bleiben. Aber das Land muss an die PalästinenserInnen zurückgegeben werden. Die Ressourcen können nicht weiter von Israel ausgebeutet werden. Das ist ganz klar, und das ist die einzige Möglichkeit, einen Weg nach vorn zu finden. Dies ist meiner Meinung nach auch der Anfang vom Ende, der wirkliche, konkrete Anfang vom Ende der israelischen Apartheid in den besetzten palästinensischen Gebieten und darüber hinaus.
Da Israel eine Besatzung aufrechterhält, die sich in der Unterdrückung des palästinensischen Volkes niederschlägt, sieht sich Israel Bedrohungen für seine Sicherheit ausgesetzt, die von den besetzten palästinensischen Gebieten ausgehen. Diese Bedrohungen ergeben sich jedoch aus der Unterdrückung, die Israel in diesen Gebieten ausübt. Und die einzige Möglichkeit, diese Sicherheitsbedrohung zu beseitigen, ist die Beendigung der Besatzung. Israel hat das Recht, sich innerhalb seines Territoriums gegen Angriffe anderer Staaten auf sein Territorium zu verteidigen. Dies würde Israel das Recht geben, militärische Gewalt anzuwenden und einen Krieg gegen ein anderes "Land" zu führen. Aber der Punkt ist, dass Israel das Volk angreift, das es unter Besatzung hält. Und die Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes [der Palästinenser] führt zum Widerstand. Das Recht auf Widerstand ist für ein Volk das, was das Recht auf Selbstverteidigung für einen Staat ist, es besteht also ein enger Konflikt und eine Überschneidung von zwei gegensätzlichen Interessen. Das Völkerrecht steht jedoch eindeutig auf der Seite des palästinensischen Selbstbestimmungsrechts. Das Recht auf Widerstand hat natürlich seine Grenzen. Es darf sich nicht gegen ZivilistInnen richten, indem es sie tötet und Geiseln nimmt. Daraus folgt, dass es Gerechtigkeit, Ermittlungen und strafrechtliche Verfolgung für solche Taten geben muss, nicht aber einen Vernichtungskrieg.
Im Vereinigten Königreich hat Keir Starmer, der damalige Oppositionsführer, gleich zu Beginn des Völkermords in Gaza seine Unterstützung für das "Recht" Israels signalisiert, den Gazastreifen von Wasser und Strom abzuschneiden. Und jetzt, als Premierminister, haben er und sein Außenminister David Lammy, die beide zuvor auf pro-palästinensischen Plattformen standen, die Behauptung des Völkermords zurückgewiesen, wobei Lammy argumentierte, dass die Verwendung dieser Behauptung die Bedeutung des Begriffs historisch untergräbt. Gleichzeitig haben sie ihre Regierung als eine Regierung charakterisiert, die „das Völkerrecht zutiefst respektiert". Inwiefern passt die Haltung Großbritanniens, dass es sich bei den Ereignissen in Israel nicht um einen Völkermord handelt, und die fortgesetzte Lieferung von Waffen und anderen Hilfsgütern an den israelischen Staat zu seiner Behauptung, sich an das Völkerrecht zu halten?
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich nicht glaube, dass man sich als Anwalt für Menschenrechte bezeichnen kann, wenn man nicht ohne politische oder ideologische Hintergedanken für die Menschenrechte eintritt. Zu sagen, dass Verhungern akzeptabel ist, ist schlichtweg ein Verrat an dem, wofür das internationale Recht steht, nämlich dem Schutz von Zivilistinnen in bewaffneten Konflikten, Feindseligkeiten, Krisen usw. Hier haben wir einen Außenminister, der leugnet, dass ein Völkermord im Gange ist, selbst wenn der Internationale Gerichtshof ihn als solchen ansieht. Lammy sollte erklären müssen, wie er das widerlegen kann. Aber auf jeden Fall werden wir, denke ich, Ausreden hören. Die Geschichte wird über diese Menschen urteilen, die nichts in ihrer Macht Stehendes getan haben, um Gräueltaten zu verhindern. In der Zwischenzeit verstößt das Vereinigte Königreich damit gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen, nämlich einen Staat, der internationales Unrecht begeht, nicht zu unterstützen. Das ist der Punkt, an dem wir stehen. Es gibt Verantwortlichkeiten; es könnte eine Mitschuld geben. Deshalb ermutige ich zu strategischen Gerichtsverfahren in diesem Land, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, aber auch, um sicherzustellen - und das ist die Macht des Volkes -, dass die gewählten FührerInnen dieses Landes seine SteuerzahlerInnen nicht in die Finanzierung eines Vernichtungskrieges hineinziehen.
Wie gestern Abend festgestellt wurde, wurden Sie an der SOAS (und auch an anderen Institutionen) als internationaler Menschenrechtsanwalt ausgebildet. In der Fragerunde nach Ihrem Vortrag wurden unterschiedliche Sichtweisen über die Nützlichkeit, Lebensfähigkeit und Glaubwürdigkeit des internationalen Rechts und der Institutionen der internationalen Nachkriegsordnung als Mittel zur Eindämmung von Aggressionsakten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit diskutiert, wenn wir gleichzeitig darin eingebettete imperialistische Hinterlassenschaften und machtstrukturelle Realitäten erkennen und verstehen können.
Die Tribune ist eine seit langem bestehende sozialistische und internationalistische Publikation, die die Anti-Apartheid-Bewegung von Anfang an unterstützte, um zur Befreiung Südafrikas beizutragen. Wie können AktivistInnen, die sich Fragen der globalen Politik aus einer solchen Perspektive nähern, mit den Argumenten umgehen, die dafür sprechen, sich mit dem Diskurs und dem Rahmen des internationalen Rechts und der bestehenden internationalen Institutionen zu befassen, um zu versuchen, die palästinensische Selbstbestimmung zu sichern und gleichzeitig die kritische antikoloniale Perspektive auf diese Institutionen beizubehalten?
Wir müssen das Problem in unseren Systemen sehen, die zwar am Rand der internationalen Beziehungen zu liegen scheinen, aber immer noch die Zentren des Imperialismus sind: ein System, das das Land anderer Menschen, den Willen anderer Menschen und die Ressourcen anderer Menschen kontrollieren kann und ihnen das Leben zur Hölle macht. Dies geschieht nicht mehr nur im globalen Süden, sondern auch im globalen Norden. Es ist an der Zeit, dies in der Zerbrechlichkeit und Unsicherheit vieler Kategorien von Menschen zu sehen, von ArbeiterInnen bis zu älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen, LGBT-Menschen und MigrantInnen. Menschenrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und Redefreiheit sowie das Recht auf eine angemessene Entlohnung oder das Recht auf angemessenen Wohnraum und Gesundheitsversorgung werden immer häufiger verletzt, auch im Globalen Norden, und können nicht losgelöst von den Verletzungen betrachtet werden, denen die Menschen im Globalen Süden durch ein stark westlich geprägtes System ausgesetzt sind. Palästina verkörpert dieses System, den Kampf der indigenen Völker, den Kampf der Opfer des anhaltenden Erbes des Kolonialismus, einschließlich der Diskriminierung von Flüchtlingen und Migranten aus dem Globalen Süden, den Kampf für Umweltgerechtigkeit. Deshalb wird der Kampf Palästinas für viele, die in einer gerechteren, faireren und diskriminierungsfreien Ordnung leben wollen, zu einem Symbol des Widerstands in der ganzen Welt.
Sie haben kürzlich die Reformierung des alten UN-Sonderausschusses gegen Apartheid gefordert. Welche praktische Bedeutung hat Ihrer Meinung nach die Rolle der Vereinten Nationen und UN-naher Institutionen während der internationalen Anti-Apartheid-Bewegung gegen Südafrika für die heutige internationale Solidaritätsbewegung mit Palästina?
Ich denke, dass die Vereinten Nationen allmählich eine Rolle spielten, in dem Sinne, dass es eine Debatte gab, die in erster Linie von den Staaten des globalen Südens angestoßen wurde, um die Apartheid abzuschaffen, aber sie war weitgehend ein Spiegelbild der Unruhen, die die Welt umgaben. Die internationale Anti-Apartheid-Bewegung war eine Graswurzelbewegung, die in diesem Teil der Welt – in Großbritannien und Irland – ihren Ursprung hatte, aber auch bald in anderen Teilen des Westens Wurzeln schlug, um durch die wirtschaftliche Entmachtung des Apartheid-Regimes Widerstand zu leisten und den SüdafrikanerInnen zu helfen, sich von dieser repressiven Staatsform zu befreien. Das zeigt, dass heute wie damals globales Handeln gefragt ist, globales Handeln in der neuen, wiederbelebten Basisbewegung, die es gibt. Es gibt BDS, und es gab StudentInnenproteste und StudentInnenaktionen, um den Kern des internationalen Rechts, die Grundprinzipien des internationalen Rechts wiederherzustellen. Es geht weiter, aber es muss noch viel mehr getan werden. Wir müssen die Unternehmen zur Verantwortung ziehen, die Gewerkschaften zum Handeln drängen, die politischen FührerInnen – und jene Menschen, die als Teil des israelischen Apartheidregimes gekämpft haben, sei es als Teil des Unternehmens oder als SoldatInnen – zur Verantwortung ziehen. Es ist an der Zeit, die Rechenschaftspflicht auf nationaler Ebene und nicht nur auf internationaler Ebene zu fordern.
Eine letzte Frage, die vielleicht etwas persönlicher ist: Als UN-Sonderberichterstatterin und insbesondere seit dem 7. Oktober hat sich Ihre internationale Bekanntheit sehr erweitert und Sie sind Ziel erheblicher Anfeindungen, persönlicher Verleumdungen, Rufmordkampagnen usw. (auch von VertreterInnen der Regierung Biden) geworden, wobei sich pro-israelische Interessengruppen beispielsweise gegen Ihre Redefreiheit an den Universitäten wenden. Wir haben gestern Abend einige Demonstranten vor der SOAS gesehen, die sowohl "BAN FRAN" als auch "I-I-IDF" skandierten. Welche Erfahrungen haben Sie mit dieser Gegenbewegung gemacht, und wie hat sich dies Ihrer Meinung nach auf Ihr Mandat als UN-Sonderberichterstatter ausgewirkt? Haben Sie eine Botschaft an jene Menschen, die versuchen, Sie zum Schweigen zu bringen?
Zunächst einmal möchte ich die Proteste relativieren, denn wer nicht dabei war, aber Ihren Artikel liest, könnte einen falschen Eindruck bekommen. Es waren etwa zehn Personen, die schrien, es waren mehr Fahnen als Füße auf dem Boden. Das war kein echter Protest. Sie waren ein Ärgernis. Ein kleines, winziges Ärgernis. Aber, ich meine, es ist ok. Sollen sie doch kommen. Sollen sie doch 'BAN FRAN' schreien, während Menschen abgeschlachtet und 17.000 Kinder getötet werden. Sollen sie doch tun, was sie wollen. Offen gesagt, ich halte das nicht für wichtig. Ich glaube nicht, dass das relevant ist. Ebenso irrelevant ist die Tatsache, dass Regierungen, die an einem Völkermord mitschuldig sind, mich angreifen, anstatt sich mit ihren unerfüllten rechtlichen Verpflichtungen zu befassen. Ich möchte keine Diskussionen darüber führen, wie unsinnig diese Angriffe sind. Sie sind nur ein weiterer Beweis dafür, wie heftig die Unterdrückung Palästinas, der palästinensischen Identität und des palästinensischen Widerstands ist, insbesondere in den westlichen Gesellschaften.
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