Rettungskräfte, die zu den von israelischen Angriffen betroffenen Gebieten, retten alle, die sie retten können, müssen aber viele Menschen zurücklassen. „Meine Seele ist so müde von diesem Krieg“, so ein Ersthelfer.
Von Raja Abdulrahim, The New York Times, 4. Jänner 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Wenn er schläft, wird Nooh al-Shaghnobi, ein Rettungshelfer in Gaza, von den Schreien derjenigen verfolgt, die er nicht retten konnte. Die Erinnerungen an die vergangenen 14 Monate werden wieder wach, Albträume von eingestürzten Gebäuden ohne Ausrüstung, um Überlebende zu bergen.
„Wir hören die Stimmen der Menschen unter den Trümmern“, sagte er in einem Interview zwischen zwei Rettungseinsätzen. „Stellen Sie sich vor, es gibt Menschen unter den Trümmern, von denen wir wissen, dass sie da sind und dass sie leben, aber wir können sie nicht retten. Wir müssen sie zum Sterben zurücklassen.“
Seit über einem Jahr arbeiten die Rettungskräfte, Sanitäter und Krankenwagenfahrer in Gaza an vorderster Front des Krieges und rasen zu den Schauplätzen unzähliger israelischer Luftangriffe, um diejenigen zu retten, die überlebt haben, und die Leichen derjenigen zu bergen, die getötet wurden. Allein in den ersten sieben Wochen des Krieges hat Israel fast 30 000 Geschosse auf den Gazastreifen abgefeuert und damit eine der intensivsten Bombenkampagnen der modernen Kriegsführung begonnen.
Nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz sind die Retter im Gazastreifen mit gefährlichen Bedingungen konfrontiert, da sie nicht über ausreichende Ausrüstung, Fahrzeuge und Treibstoff verfügen. Meist müssen sie mit ihren Händen und rudimentären Werkzeugen Überlebende unter Tonnen von zerbrochenem Stein, Beton und verbogenem Metall ausgraben.
Das Grauen hat einen hohen physischen, psychischen und emotionalen Tribut von den Rettungskräften gefordert. Israelische Angriffe haben nach Angaben lokaler Rettungskräfte mindestens 118 von ihnen während des Konflikts getötet. „Die Ersthelfer leiden unter unsäglichem Stress, Angst und Frustration“, sagte Hisham Mhanna, ein Sprecher des Roten Kreuzes in Gaza. „Wir haben gehört, wie sie Gefühle der Hilflosigkeit gegenüber den Opfern, die sie nicht retten konnten, und den immensen Schmerz über den Verlust von Kollegen im Dienst beschrieben haben.“
Von Beginn des Krieges an – der nach dem von der Hamas geführten Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 begann – hatten die Rettungskräfte Mühe, mit dem Tempo der Luftangriffe Schritt zu halten. Im ersten Jahr der Angriffe hat das israelische Militär nach eigenen Angaben mehr als 40 000 Ziele in einem Gebiet von der Größe Detroits mit etwa 60 000 Bomben und anderer Munition angegriffen. Dieser Krieg ist wie kein anderer, den die Menschen im Gazastreifen erlebt haben. Es gibt keinen sicheren Zufluchtsort und kein Ziel, das nicht angegriffen wird, sagen BewohnerInnen und VertreterInnen von Hilfsorganisationen. Das israelische Militär hingegen behauptet, es treffe „durchführbare Vorkehrungen, um Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden“.
Trotz des Traumas, so berichtet der 23-jährige al-Shaghnobi, sei er gezwungen, seine Rettungsarbeit bei der Zivilschutzbehörde von Gaza, einer Notdienstorganisation, fortzusetzen, da er wisse, dass er zumindest einige Leben retten könne. Er teilt regelmäßig Videos und Bilder in den sozialen Medien, um auf das Leid in Gaza aufmerksam zu machen.
In einem Video, das im Oktober im Zeitoun-Viertel von Gaza-Stadt veröffentlicht wurde, spricht er mit einem kleinen Jungen, dessen gedämpfte Schreie unter Trümmern zu hören sind. „Hab keine Angst“, ruft al-Shagnobi ihm zu und gibt ihm rasch eine Reihe von Anweisungen: „Rashid, erschöpfe dich nicht. Sprich nicht. Verliere nicht das Bewusstsein.“
Im Schein einer Stirnlampe kriecht der Ersthelfer zwischen eingestürzten Stockwerken hindurch, um Rashids teilweise freigelegten Kopf zu erreichen, während der Rest des Jungens unter Zement und Stein begraben ist. Nach drei Stunden wird Rashid lebend aus den Trümmern geborgen.
„Jeder neue Tag ist härter als der vorherige“, so al-Shaghnobi. „Meine Seele ist so müde von diesem Krieg.“
Das Rote Kreuz, das den Rettern Masken, Stiefel, Schutzuniformen und Leichensäcke zur Verfügung gestellt hat, hat auch eine begrenzte psychologische Beratung angeboten. Doch angesichts des extremen Traumas der Situation reichen die Sitzungen nicht aus, berichtet Hisham Mhanna, der Sprecher des Roten Kreuzes.
Amir Ahmed, ein Rettungssanitäter, erzählt, dass ihm vor einigen Monaten die Albträume zu viel geworden seien und er seine Arbeit beim Rettungsdienst des Palästinensischen Roten Halbmonds aufgeben musste: „Man kommt an einen Punkt, an dem man nicht mehr weitermachen kann.“
Ahmed berichtet, dass er vor dem Krieg in der Denkmalpflege und während der zahlreichen Konflikte im Gazastreifen als Freiwilliger für den Roten Halbmond gearbeitet hatte, da er eine Ausbildung zum medizinischen Notfalltechniker hat. Am zweiten Tag des Krieges wurde er zum Dienst einberufen. Doch je länger der Konflikt andauerte, umso mehr verfiel er in Depressionen. Zu Hause, bei seiner Frau und seinen drei Kindern, wurde er zunehmend angespannt und wütend. An manchen Tagen hatte er das Gefühl, mit niemandem sprechen, sondern am liebsten die ganze Zeit schlafen zu wollen, auch wenn er und seine Familie in Zelten untergebracht oder in Einzimmerwohnungen zusammengepfercht waren.
„Ich habe von den Menschen geträumt, deren Überreste ich mit meinen eigenen Händen aufgesammelt habe“, sagte er und senkte seine Stimme. Nach einer Rettung und Bergung habe der Geruch von Blut noch tagelang an seinen Händen geklebt, sagte er und fügt hinzu, dass es fast keine psychologische Unterstützung oder psychiatrische Hilfe gegeben habe. Obwohl er sich schuldig fühlt, weil er seine Arbeit als Ersthelfer aufgegeben hat, sagt Ahmed, dass er seine Entscheidung nicht bereut.
Einige Rettungskräfte beschuldigen die israelische Armee, sie ins Visier zu nehmen, eine Anschuldigung, die auch der Rote Halbmond und die Zivilschutzbehörde in Gaza erhoben haben.
Das israelische Militär hingegen erklärte, es habe noch nie Rettungskräfte angegriffen und würde dies auch nie absichtlich tun. „Die israelischen Streitkräfte erkennen auch die Bedeutung des besonderen Schutzes an, der medizinischen Teams nach dem humanitären Völkerrecht gewährt wird, und ergreifen Maßnahmen, um sie vor Schaden zu bewahren“, heißt es in einer militärischen Erklärung.
Ahmed sagt, er habe während des Krieges mehrere Kollegen verloren. Unter ihnen waren zwei Sanitäter des Roten Halbmonds, Yousef Zeino und Ahmed al-Madhoun. Im Februar wurden die beiden losgeschickt, um Hind Rajab zu retten, ein 6-jähriges Mädchen, das mit mehreren toten Familienmitgliedern in einem Fahrzeug eingeschlossen war. Kurz nach ihrer Ankunft am Einsatzort verloren sie den Kontakt zu den Mitarbeitern des Roten Halbmonds und wurden fast zwei Wochen später tot in ihrem ausgebrannten Krankenwagen gefunden. Auch Hind wurde tot im Fahrzeug ihrer Familie gefunden.
Der Rote Halbmond beschuldigte die israelische Armee, den Krankenwagen bei seiner Ankunft „trotz vorheriger Abstimmung“ zwischen der Organisation und dem israelischen Militär bombardiert zu haben. Das israelische Militär äußerte sich trotz wiederholter Bitten nicht zu dem Angriff.
Zu Beginn des Krieges, so al-Shaghnobi, verabschiedeten er und seine Mitstreiter sich jeden Abend voneinander, da sie nicht wussten, wie lange sie die israelischen Angriffe noch überleben würden. Im November 2023, so berichtet er, war er mit seinen Mannschaftskameraden am Schauplatz eines siebenstöckigen Gebäudes, das Tage zuvor durch einen israelischen Luftangriff eingestürzt war, und versuchte, die Leichen einer Familie zu bergen. Als die Retter die Trümmer durchkämmten, schlug ein weiterer israelischer Luftangriff ein und tötete zwei Rettungskräfte sowie die beiden überlebenden Familienmitglieder, wie Verwandte und al-Shaghnobi berichteten.
Er hat die unmittelbare Folge des Angriffs auf Video festgehalten.
„Warum passiert das ausgerechnet uns, die wir Menschen retten?“, fragt er. „Wir haben nichts mit Waffen oder dem Widerstand zu tun. Unsere ganze Arbeit ist humanitär. Warum nehmen uns die Israelis ins Visier?“
Naseem Hassan, ein Sanitäter und Krankenwagenfahrer, berichtet, dass sein Bruder vor fast einem Jahr im Al-Amal-Krankenhaus getötet worden ist, während er für den Roten Halbmond arbeitete. Er starb bei einem Luftangriff, nachdem er auf das Dach des Krankenhauses gestiegen war, um einen Generator zum Laufen zu bringen, so der überlebende Bruder. Das israelische Militär teilte mit, es sei „nicht über den Vorfall informiert“.
Hassan, 47 Jahre alt, erzählt, dass er durch die Anstrengung und Erschöpfung bei der Rettung von Verletzten zermürbt worden ist. Als der Krieg begann, wog er noch 190 Pfund [umgerechnet 86 Kilogramm, Anm.]. Heute, nachdem er sich hauptsächlich von Konserven und von Wanzen befallenem Brot ernährt und körperlich erschöpfende Tage damit verbringt, durch Trümmer zu graben, wiegt er nur noch etwa 150 Pfund [umgerechnet 68 Kilogramm, Anm.].
„Mental sind wir geduldig und entschlossen, einfach weil wir das sein müssen“, sagt er. „Wenn wir einen Nervenzusammenbruch erleiden, wer soll dann die Menschen retten? Wer wird die Leichen bergen? Wer wird sie begraben?“
Raja Abdulrahim ist Korrespondentin der New York Times mit Sitz in Jerusalem und berichtet über den Nahen Osten.
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