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The Intercept: „Ein letztes, tödliches Ausrufezeichen“ - Biden zieht 30-tägiges Ultimatum für Waffenlieferungen an Israel zurück


Die Biden-Administration wird Israel weiterhin mit Waffen beliefern – auch nachdem es die von den USA gesetzte Frist für die Lieferung von Hilfsgütern in den Gazastreifen nicht eingehalten hat.

Von Jonah Valdez, The Intercept, 12. November 2024

(Originalbeitrag in englischer Sprache und dazugehörenden Querverweisen: )

 

Am 13. Oktober sandte die Regierung Biden ein scharf formuliertes Schreiben an Israel mit einer einfachen Botschaft: Lassen Sie innerhalb von 30 Tagen mehr humanitäre Hilfe nach Gaza, oder wir werden unsere militärische Unterstützung zurückziehen.


Zu dieser Zeit befand sich Israel in der Anfangsphase seiner Belagerung des nördlichen Gazastreifens, wo Tausende von ZivilistInnen Zuflucht gesucht hatten. Das durchgesickerte Schreiben, das von Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin verfasst wurde und an den israelischen Minister für strategische Angelegenheiten, Ron Dermer, und den damaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant gerichtet war, enthielt eine Liste konkreter Forderungen, mit denen die Lieferungen von Hilfsgütern in den Gazastreifen sichergestellt werden sollte, um den Hunger zu bekämpfen, den Mangel an medizinischen Mitteln zu beheben und die Zwangsvertreibung von PalästinenserInnen aus dem nördlichen Gazastreifen zu vermeiden.


Als die Frist 30 Tage später, am Dienstag, dem 12. November, ablief, veröffentlichte eine Gruppe humanitärer Organisationen einen Bericht, in dem sie feststellten, dass Israel die meisten – wenn nicht sogar alle – der von den USA in dem Schreiben vom Oktober genannten Kriterien nicht erfüllt hat. Daraufhin erklärten die USA nun, dass sie weiterhin Waffen an Israel liefern werden.


„Wir haben zum jetzigen Zeitpunkt nicht die Einschätzungen getroffen, dass die Israelis gegen US-Recht verstoßen“, sagte der Sprecher des Außenministeriums, Vedant Patel, am Dienstag bei einem Briefing vor ReporterInnen. „Wir werden weiterhin prüfen, ob sie das US-Recht einhalten. Wir haben einige Fortschritte gesehen, aber wir würden gerne weitere Veränderungen sehen.“

Für humanitäre Hilfsorganisationen, die vor Ort in Gaza tätig sind, könnte die Position des amerikanischen Außenministeriums nicht weiter von der Realität entfernt sein.


Eine Gruppe von acht humanitären Hilfsorganisationen hat am Dienstag einen Bericht [siehe Hinweis am Ende des Beitrags, Anm.] veröffentlicht, in dem die einzelnen Forderungen des Briefes aufgeführt sind und in dem aufgezeigt wird, dass Israel bei allen bis auf einige wenige Forderungen versagt hat. Die „Gaza Scorecard“ zeigt, dass Israel in den letzten 30 Tagen keine neuen Grenzübergänge nach Gaza geöffnet hat, dass nur 42 Lastwagen pro Tag zugelassen wurden, was weit unter der US-Benchmark von 350 Lastwagen liegt, dass das israelische Militär vier MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen getötet hat, dass das Militär während einer humanitären Pause eine Polio-Impfklinik bombardiert hat, dass etwa 80 Prozent des Gazastreifens weiterhin unter Evakuierungsbefehl stehen, wodurch die Vertreibung der PalästinenserInnen fortgesetzt wird, und dass Hilfsorganisationen daran gehindert werden, in den nördlichen Gazastreifen zu gelangen, wo das israelische Militär seine Belagerung fortsetzt.

 

„Wie viele Beweise braucht die US-Regierung noch, um ihre eigenen Gesetze und humanitären Standards zu respektieren?“

„Wie viele Beweise braucht die US-Regierung noch, um ihre eigenen Gesetze und humanitären Standards zu respektieren?“, so Joseph Belliveau, geschäftsführender Direktor von MedGlobal, einer der Organisationen, die hinter dem Bericht stehen, gegenüber The Intercept. „Sie sollte noch heute jegliche militärische Unterstützung beenden.“ Dies ist nur der jüngste Fall, in dem Israel Bidens rote Linien ungestraft überschreitet.


MedGlobal hat rund 300 MitarbeiterInnen in Gaza, die beim Aufbau von Kliniken helfen, chirurgische Abteilungen in Krankenhäusern betreiben und andere medizinische Unterstützung leisten, berichtet Belliveau, der zuvor Direktor von Ärzte ohne Grenzen – Kanada war. Seine MitarbeiterInnen berichten über ein hohes Maß an Unterernährung und die Ausbreitung vermeidbarer Krankheiten wie Masern und Atemwegsinfektionen bei ihren PatientInnen im Gazastreifen. Das medizinische Personal führe täglich Operationen an ZivilistInnen durch, vor allem an Frauen und Kindern, die durch israelische Angriffe verwundet worden sind. Außerdem wurden vier MedGlobal-MitarbeiterInnen vom israelischen Militär verhaftet und ohne Erklärung in Gewahrsam genommen.


„Auf wie viele Arten kann man jetzt in Gaza sterben?“ fragt Belliveau. „Man kann von einem Luftangriff getroffen werden, man kann von Scharfschützen ins Visier genommen werden, man kann an Krankheiten sterben, man kann an Hunger und Unterernährung sterben. Und gleichzeitig ist die palästinensische Bevölkerung nicht nur all diesen Risiken in extremer Weise ausgesetzt; sondern auch das humanitäre und medizinische Personal, das benötigt werden würde, um auch nur annähernd zu versuchen, auf dieses Ausmaß an humanitärer Not zu reagieren, ist fast vollständig ausgesperrt.“


Scott Paul, Direktor für Frieden und Sicherheit bei Oxfam America, die ebenfalls an der Erstellung des Berichts mitgewirkt haben, berichtet, dass die Entscheidung der Biden-Regierung, die militärische Unterstützung Israels fortzusetzen, „ein letztes, tödliches Ausrufezeichen auf ihre Politik der Missachtung des US-Rechts und des Lebens der Palästinenserinnen und Palästinenser gesetzt hat“.


„Während Menschen im Norden des Gazastreifens ausgelöscht werden und verhungern, erhält Israel einen stetigen Strom von US-Waffen mit einem neuen Gütesiegel“, sagte Paul. „Wir haben stichhaltige humanitäre Beweise vorgelegt, aber sie wurden ignoriert. Dies ist eine nicht überraschende, aber dennoch beschämende Entscheidung.“


Es war nicht das erste Mal, dass die Regierung Biden damit droht, die militärische Unterstützung Israels durch US-Gesetze zu kürzen. Im März unterzeichnete Israel ein Memo, bekannt als „NSM-20“, in dem das Außen- und das Verteidigungsministerium aufgefordert wurden, glaubhafte Zusicherungen einzuholen, dass Israel keine US-Waffen zur Verletzung des Völkerrechts einsetzt. Die Regierung hat auch auf das Leahy-Gesetz verwiesen, das die US-Hilfe für „jede Einheit der Sicherheitskräfte eines fremden Landes“ verbietet, wenn der Außenminister über glaubwürdige Informationen verfügt, dass diese Einheit eine grobe Verletzung der Menschenrechte begangen hat.


Im Mai jedoch, als sich die Beweise für Israels Bestreben, die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen zu blockieren, häuften, veröffentlichte das Außenministerium einen Bericht, in dem es erklärte, dass es „tiefe Bedenken“ gegenüber Israel hege, es sich aber an die Gesetze halte. Der Zustrom von Waffen ging weiter.


Während der Pressekonferenz am Dienstag sagte Patel, das Außenministerium werde weiterhin prüfen, ob Israel gegen internationales Recht verstoße, und werde sich mit Hilfsorganisationen und den Vereinten Nationen beraten, um diese Einschätzungen zu treffen. Auf die Frage von Reportern, ob das Außenministerium den Bericht der Hilfsorganisationen gesehen habe, lehnte er es jedoch ab, die Ergebnisse zu kommentieren. Darüber hinaus untermauern die Zahlen der Vereinten Nationen die Ergebnisse des Berichts, wonach im Oktober die geringste Zahl von Hilfslieferungen nach Gaza erfolgte.


„Wenn wir über konkrete Kennzahlen oder konkrete Maßnahmen vor Ort sprechen, besteht die Hoffnung, dass die operativen Veränderungen vor Ort es ermöglichen, dass mehr humanitäre Hilfe und mehr Lastwagen dorthin gelangen, wo sie gebraucht wird“, sagte Patel und wiederholte die Behauptung, dass die israelische Regierung mit Maßnahmen wie dem Verzicht auf Zollgebühren und der Zulassung der jordanischen Streitkräfte zur Lieferung von Hilfsgütern in den Gazastreifen ‚Fortschritte‘ gemacht habe.


In dem Bericht der humanitären Organisationen wird die teilweise Umsetzung dieser Maßnahmen erwähnt, aber es bestehen weiterhin viele Hindernisse: Einige Hilfsorganisationen müssen für die Einreise in den Gazastreifen Gebühren entrichten, die ungleichmäßig durchgesetzt werden. Insgesamt stellte der Bericht fest, dass Israel vier der 19 Forderungen aus dem Brief von Blinken und Austin vom Oktober nur teilweise oder inkonsequent erfüllt hat und die restlichen 15 Forderungen überhaupt nicht.


Belliveau sagt, dass MedGlobal im vergangenen Jahr mit SenatorInnen und der Regierung Biden in Kontakt stand und auf die Anwendung des Leahy-Gesetzes gedrängt hat – ohne Erfolg. Er berichtet, mit dem Übergang zur Präsidentschaft von Donald Trump sehe er eine Chance für seine Gruppe, eine weitere konzertierte Aktion zu starten, um die USA dazu zu bringen, ihre eigenen Gesetze einzuhalten, aber er habe wenig Hoffnung, dass der neu gewählte Präsident dies umsetzen werde.


„Von Einzelpersonen bekommen wir viel Sympathie für unsere Position und viel Bestätigung dafür, dass Gesetze verletzt werden und dass dies nicht die Standards sind, die die AmerikanerInnen aufrechterhalten wollen – und dann hören wir in der Öffentlichkeit weiterhin nur Plattitüden von der Regierung und wir sehen weiterhin die Aktionen, die keinen Beweis dafür liefern, dass es irgendeine Art von Zurückhaltung oder Rückzug in Bezug auf die Unterstützung des Regimes gibt, das diese Verbrechen begeht“, so Belliveau.


Als die Frist am Dienstag ablief, traf ein israelischer Angriff ein Haus im Flüchtlingslager Jabalia im Norden des Gazastreifens und tötete 32 Menschen, darunter 13 Kinder. In der vergangenen Woche hatte die israelische Regierung angekündigt, dass sie kurz vor der „vollständigen Evakuierung“ des nördlichen Gazastreifens stehe und die BewohnerInnen nicht zurückkehren dürften. Der israelische Brigadegeneral Itzik Cohen sagte, dass nach der Evakuierung keine humanitäre Hilfe mehr im nördlichen Gazastreifen ankommen würde, da es „keine ZivilistInnen mehr gibt“.

 

Jonah Valdez ist Reporter bei The Intercept und berichtet über Politik, US-Außenpolitik, Israel und Palästina, Menschenrechtsfragen und Protestbewegungen für soziale Gerechtigkeit.

 


Zum Weiterlesen in englischer Sprache:


Israel Fails to Comply with U.S. Humanitarian Access Demands in Gaza

The Biden administration has consistently said Israel should not kill civilians as it sends Israel more weapons to kill civilians.

Von Jonah Valdez, The Intercept, 9. Oktober 2024





 

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