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Rede vor den Vereinten Nationen in New York von Dr. Tanya Haj-Hassan, November 2024 

Dr. Haj-Hassan ist pädiatrischen Intensivmedizinerin und besucht seit über zehn Jahren immer wieder Gaza, wo sie vor dem genozidalen Krieg auch als Gastdozentin an der medizinischen Universität gelehrt hat. Sie war seit Oktober 2023 mehrmals als Freiwillige bei medizinischen Missionen in Gaza im Einsatz, derzeit ist sie im Nasser-Krankenhaus. Sie war die erste Ärztin, die der Welt über das Akronym WCNSF (Wounded Child, No Surviving Family, zu Deutsch ‚Verletztes Kind, keine überlebende Familie‘) berichtete. In einem Interview mit Democracy Now vor genau einem Jahr sagte sie über ihre Erlebnisse als Ärztin in Gaza: „Dies ist keine humanitäre Krise. Das ist das Schlimmste, wozu die Menschheit fähig ist, und es ist alles von Menschen gemacht. Dies ist ein völliges Versagen der Menschheit.“

Dr. Haj-Hassans Rede ist ein zeitloses Dokument, das für immer daran erinnern wird, was in Gaza passierte und nach wie vor passiert.


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Mein Name ist Tanya Haj-Hassan, ich bin Ärztin für pädiatrische Intensivmedizin und habe in den letzten zehn Jahren viele Male in Gaza gearbeitet, zuletzt als Mitglied eines medizinischen Notfallteams, das während des anhaltenden Völkermords in einem Krankenhaus im mittleren Teil des Gazastreifens tätig war. Ich bin hier in solidarischer Verbundenheit mit allen anderen medizinischen Fachkräften, die ich kenne und die in den letzten 14 Monaten freiwillig in Gaza gearbeitet haben – einige von ihnen sind heute mit mir hier –, um mich mit unseren palästinensischen KollegInnen im Gesundheitswesen und mit dem palästinensischen Volk zu solidarisieren.


Man kann nicht mit ansehen, was in Gaza geschieht, ohne zornig zu werden und wild entschlossen zu sein, es zu beenden. Wir wollen nicht hier sein oder in den Nachrichten, um immer wieder moralische ZeugInnen für die anhaltenden Gräueltaten zu sein. Aber internationale JournalistInnen und unabhängige MenschenrechtsbeobachterInnen und GerichtsmedizinerInnen wurden von Israel bewusst daran gehindert, ZeugInnen zu sein.

Gleichzeitig wurden unzählige palästinensische JournalistInnen, die über den Genozid an ihrem eigenen Volk berichteten, wiederholt von Israel ins Visier genommen und diskreditiert, während sowohl ihre Berichterstattung als auch ihre Morde von den westlichen Mainstream-Medien weitgehend ignoriert wurden. Als eine der wenigen internationalen Beobachterinnen, die in den Gazastreifen einreisen durften, kann ich Ihnen sagen: Verbringen Sie nur fünf Minuten in einem Krankenhaus dort, und es wird Ihnen schmerzhaft klar, dass die PalästinenserInnen absichtlich massakriert, ausgehungert und all ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden.


In den vergangenen 14 Monaten haben wir gemeinsam Menschen behandelt, die in den wenigen verbliebenen, teilweise funktionierenden Krankenhäusern in Gaza einem zivilen Massaker nach dem anderen ausgesetzt waren. Ganze Familien wurden ausgelöscht, aus dem Melderegister gestrichen. Unsere MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen und in der humanitären Hilfe werden in Rekordzahlen getötet. Wir haben zahllose Kinder behandelt, die ihre gesamte Familie verloren haben – ein Phänomen, das in Gaza so häufig auftritt, dass es einen eigenen Namen bekommen hat: Wounded Child No Surviving Family (Verletztes Kind, keine überlebende Familie). Wir hielten die Hände der Kinder, als sie ihre letzten Atemzüge taten, ohne dass jemand anderes als ein Fremder sie trösten konnte. Diejenigen, die sich soweit erholt hatten, dass sie das Krankenhaus verlassen konnten, waren weiterhin dem offensichtlichen Risiko des Todes ausgesetzt, sei es durch einen weiteren Bombenangriff, durch Verhungern, Dehydrierung oder Krankheit.

Die Geschichte hat uns deutlich gezeigt, dass ÄrztInnen einen Völkermord nicht aufhalten können. Deshalb gibt es die „Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Verbrechen des Völkermords“. Und deshalb bin ich heute hier.


Bevor ich erzähle, was ich erlebt habe, möchte ich meinen Kollegen Dr. Mohammed Ghanim zitieren, einen jungen Arzt aus der Notaufnahme, der vor einem Monat von einer Quadcopter-Drohne getötet wurde, nachdem er sich über 400 Tage lang unermüdlich um seine PatientInnen gekümmert hatte, während die Krankenhäuser, in denen er arbeitete, wiederholt von der israelischen Armee belagert wurden. Dr. Ghanim sagte: „So gut ich konnte, habe ich mich aus zwei Gründen davon ferngehalten, die tragischen Geschichten zu erzählen. Der erste Grund ist, dass ich weiß, dass es nichts nützt, denn diejenigen, die durch Bilder von zerstückelten und verkohlten Leichen nicht bewegt werden konnten, werden auch durch einige Worte nicht bewegt werden, und der zweite Grund ist, dass ich keine Worte finden kann, um die Geschichten zu erzählen.“ Ich teile die Meinung von Dr. Ghanim. Was können wir noch sagen, das die Menschen zum Handeln bewegen könnte? Wie können wir das, was wir gesehen haben, auch nur ansatzweise in Worte fassen?


Ich erinnere mich an das Schweigen der Frau, die verletzt ins Krankenhaus gebracht wurde, mit leerem Blick und unfähig zu sprechen. Sie hatte eine Woche zuvor entbunden und konnte ihr sieben Tage altes Baby nicht mehr finden. Sowohl ihr Baby als auch ihr Kleinkind waren unter den Trümmern begraben. Es gibt keine Worte, die den Schmerz und die Abscheulichkeit dieser Verbrechen adäquat wiedergeben.


Ich erinnere mich an die sechsjährige Sewar, die mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma auf der Intensivstation intubiert wurde, während ihr kleiner Bruder noch immer vermisst wurde. Ich erinnere mich, wie ihre Mutter neben ihr saß, Tränen über ihr Gesicht liefen und sie fragte: „Was hat sie verbrochen?“ Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass Sewar mit ihren schönen langen dunklen Wimpern und Locken wahrscheinlich nie sprechen oder sich mitteilen können würde – falls sie überleben sollte.


„Ich kann keine Worte finden, um die Geschichten zu erzählen.“


Oder der 5-jährige Mohammed mit einer ein- und ausgehenden, durchdringenden Kopfverletzung, wahrscheinlich durch einen Schuss, der in der Notaufnahme starb, da es auf der Intensivstation keine Betten gab. Er hatte keine bekannten Hinterbliebenen, die seine Leiche abholen konnten und wurde vom medizinischen Team in die Leichenhalle gebracht. Seine Hände und Füße waren so klein und der letzte Ausdruck auf seinem Gesicht war ein Ausdruck des Schmerzes.


„Ich finde keine Worte, um die Geschichten zu erzählen.“


Oder die alte Frau, deren Alter ich nicht erfuhr, auf die das israelische Militär mehrfach schoss, während sie sich am Strand aufhielt. Sie starb, während ihr alter Ehemann ihre Hand hielt und mir unter Tränen sagte: „Wir haben nur Gott.“


Oder der 13-jährige Amer, der nach einem Bombenangriff auf sein Haus ein schweres Hals-Trauma erlitt und immer wieder nach seiner Schwester rief. Er erkannte nicht, dass es sich bei ihr um das Mädchen im Bett neben ihm handelte, da sie bis zur Unkenntlichkeit verbrannt worden war. Als sie starb, war Amer das einzige überlebende Mitglied seiner Familie. Ich erinnere mich an seinen leeren Blick und seine sanfte Stimme, die mir ins Ohr flüsterte: „Ich wünschte, ich würde mit ihnen sterben. Alle, die ich liebe, sind im Himmel. Ich möchte nicht mehr hier sein.“


Wie findet man die Worte, um die Geschichte von Amer zu erzählen?


Oder die Kleinkinder Mohammad und Massa, Cousin und Cousine, die wir im selben Bett wiederbelebten, nachdem ihr Wohnhaus bombardiert worden war. Ich erinnere mich, wie ich ihre Windeln öffnete und verzweifelt nach Blutgefäßen suchte, um ihnen intravenös Flüssigkeit zuzuführen. Mohammad verblutete. Massa erlitt eine schwere Hirnverletzung. Sie lag immer noch im Koma, als ich Gaza verließ. Ihre beiden Eltern wurden bei demselben Angriff verletzt, und ich weiß nicht, ob sie überlebt haben.


Oder Shurooq, ein 15-jähriges Mädchen mit Kopf- und Brustverletzungen, dessen Augen schwer verbrannt waren. Sie rief immer wieder nach ihrer Mutter, die sie nicht sehen konnte, obwohl sie direkt neben ihr lag und ebenfalls schwer verletzt war. Ihre Mutter rang verzweifelt nach Luft, bis sie starb. Wir, das medizinische Team, wussten vor Shurooq, dass sie das einzige überlebende Mitglied ihrer Familie war. Shurooq, dessen Name Sonnenaufgang bedeutet.

„Ich finde keine Worte, um die Geschichten zu erzählen.“


Oder der Vater, der in der Notaufnahme verzweifelt nach seinen Kindern suchte und sie bei der Wiederbelebung auf dem Boden fand – alle seine Kinder außer Abdullah, den er nie mehr wieder finden sollte.


„Ich kann keine Worte finden, um die Geschichten zu erzählen.“


Oder der nette ältere Herr, der half, die Verletzten in die Notaufnahme zu tragen, sie auf jede erdenkliche Weise tröstete und nach jedem Masseneinfall die Blutlachen wegwischte. Ich sah ihn täglich und nahm an, er sei ein Angestellter des Krankenhauses. Später erfuhr ich, dass er begonnen hatte, freiwillig im Krankenhaus zu arbeiten, nachdem seine gesamte Familie zu Beginn des Genozids getötet worden war. Er hatte beschlossen, dass die einzige Möglichkeit, mit dem Überleben fertig zu werden, darin bestand, anderen Familien zu helfen.


Wie soll man seine Geschichte in Worte fassen?


Dies sind keine außergewöhnlichen Geschichten. Jede einzelne Person, die ich in Gaza traf, hatte Familie, Freunde und Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen, Nachbarn und Nachbarinnen, die ihnen gewaltsam weggenommen worden waren.

Ich spreche von den PatientInnen mit traumatischen Verletzungen, die ich betreut habe, aber das ist nur eine Dimension dieser apokalyptischen Situation. Im Gazastreifen wird alles angegriffen, was für die Erhaltung des menschlichen Lebens notwendig ist, und das schon seit sehr langer Zeit: Wasser, Nahrungsmittel, Unterkünfte, Bildung, Gesundheitsversorgung, Energie, Abwasser und sanitäre Anlagen.


Ein Kind, das vor 14 Monaten in Gaza in einer Wohnung lebte und zur Schule ging, versucht heute – wenn es noch lebt – israelische Luftangriffe, Kriegsschiffe und Geschützfeuer, Hunger und Verhungern, den Mangel an sauberem Wasser, die Ausbreitung von Krankheiten, die seinen ohnehin schon immungeschwächten Körper bedrohen, ohne sichere Unterkunft und ohne Aussicht auf Bildung heute oder in Zukunft zu überleben. Alle Universitäten im Gazastreifen sind zerstört, auch die beiden einzigen medizinischen Fakultäten, an denen ich früher unterrichtet habe. Jedes Kind in Gaza durchlebt diesen Horror.


Ich denke ständig an die Kinder, die ich getroffen habe, und hoffe, dass sie noch leben und von lebenden Eltern umgeben sind, dass sie nicht verstümmelt, nicht hungrig, nicht durstig, nicht krank sind und ihnen nicht kalt ist, wenn der Winter auf ihre Zelte zurollt, und dass sie keine Angst haben. Gleichzeitig weiß ich, dass das im Moment für jedes Kind in Gaza unmöglich ist.

Am Vorabend des Weltkindertages [am 20. November, Anm.] in der vergangenen Woche legten die Vereinigten Staaten zum fünften Mal ihr Veto gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrates ein, in der ein Waffenstillstand in Gaza gefordert wurde. Um es in den Worten des palästinensischen Botschafters bei den Vereinten Nationen, Majed Bamya, zu sagen: „Es gibt keine Rechtfertigung dafür, ein Veto gegen eine Resolution einzulegen, die versucht, Gräueltaten zu stoppen.“ Es gibt KEINE Rechtfertigung.

 

Angriffe auf die Gesundheitsversorgung


Stellen Sie sich diese Kinder, Mütter und Väter vor, die verzweifelt nach medizinischer Versorgung suchen und in einem der wenigen verbliebenen Krankenhäuser in Gaza Hoffnung schöpfen. Dann fällt der Strom aus. Der Eingang des Krankenhauses wird von einer Rakete getroffen. Dem Krankenhaus wird mit der Zwangsräumung gedroht. Es ist apokalyptisch. Dasselbe Krankenhaus – in dem ich jede dieser schrecklichen Tragödien miterlebt habe – wurde in den letzten 14 Monaten mehrfach angegriffen, wie praktisch jedes andere Krankenhaus in Gaza auch. Krankenhäuser und medizinisches Personal wurden vom ersten Tag an systematisch vom israelischen Militär angegriffen. Unsere KollegInnen und FreundInnen wurden getötet, verstümmelt, unrechtmäßig inhaftiert und gefoltert. Ich habe persönlich Mitarbeiter des Gesundheitswesens getroffen, die von physischer, psychischer und sexueller Folter durch das israelische Militär und israelische Gefängniswärter berichteten.


Einer meiner engagiertesten Kollegen, der Krankenpfleger Saeed, wurde entführt, als er nach einem israelischen Vertreibungssbefehl einen Patienten aus dem Al-Shifa-Krankenhaus evakuierte. Er wurde 53 Tage lang festgehalten und erlebte die schrecklichsten Formen von Folter. Nach seiner Freilassung im Januar litt er unter massiver Schlaflosigkeit und war dennoch jeden Tag in der Notaufnahme, um PatientInnen zu versorgen. Eines Tages schlief er ein, während er den kleinen Körper eines tödlich verletzten Säuglings im Arm hielt, der während der Wiederbelebungsversuche gestorben war.


Dr. Ghanim, den ich bereits zitiert habe, schrieb im April – sechs Monate vor seiner Ermordung –: „Das Al-Shifa-Krankenhaus wurde dreimal belagert, während ich mich darin aufhielt, und zweimal wurde ich gewaltsam aus dem Krankenhaus verschleppt. Dieses Mal war es am schwersten, sowohl was die Belagerung, den Angriff als auch das Ausmaß der Zerstörung anbelangt. Wir waren 13 Ärzte in der Notaufnahme, wir wurden alle in unterschiedlichem Maße gefoltert, und sechs Ärzte wurden verletzt oder verhaftet. Ich spreche nur von der Abteilung, für die ich verantwortlich war, und nicht von den Ärzten, die direkt aus anderen Abteilungen nach ihrer Verhaftung hingerichtet wurden, oder den Ärzten, deren Schicksal noch unbekannt ist.“


Mehr als tausend MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens wurden im Gazastreifen getötet. Hunderte von MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens wurden in israelischer Gefangenschaft festgehalten. Mindestens vier wurden in der Haft getötet. Jede einzelne medizinische Fachkraft, die ich in Gaza getroffen habe, hat Familie, Freunde und KollegInnen verloren. Jeder einzelne Mitarbeiter und jede einzelne Mitarbeiterin des Gesundheitswesens, den oder die ich getroffen habe, wurde mehrfach vertrieben und aus den Krankenhäusern, in denen er oder sie arbeitet, vertrieben. Im Gazastreifen wurden viele MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens getötet, als sie versuchten, Verwundete zu retten, und zwar bei den berüchtigten israelischen Doppel- und Dreifachangriffen, bei denen ein Ort angegriffen und dann ein zweites und drittes Mal angegriffen wird, nachdem die Rettungskräfte eingetroffen sind, um die Verletzten zu bergen. Andere MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens wurden bei der Arbeit in den Krankenhäusern getötet.


Krankenhäuser und Beschäftigte im Gesundheitswesen stehen für das Leben und den Willen, Menschen am Leben zu erhalten. Die systematischen und ungeheuerlichen Angriffe auf das Gesundheitswesen sind eine Grenze, die nie hätte überschritten werden dürfen, wie so viele andere rote Linien.


Was geschieht nun, nachdem diese Grenzen überschritten wurden? In was für eine Welt sind wir da hineingeraten?


Es ist eine Welt, die wir seit Jahrzehnten zugelassen haben. Diese tiefgreifenden Ungerechtigkeiten haben nicht erst vor 14 Monaten begonnen. Die PalästinenserInnen haben alles Mögliche versucht, einschließlich der Diplomatie und friedlicher Proteste, und sich dabei auf den eigentlichen Grund berufen, aus dem diese Einrichtung [die Vereinten Nationen, Anm.] geschaffen wurde. Ihre Bemühungen sind auf die völlige Missachtung von UN-Resolutionen und die zunehmende Verletzung ihrer Rechte gestoßen.


Ich erinnere mich an einen Freitag im Jahr 2019 im Al-Shifa-Krankenhaus während des Great

March of Return [Großer Marsch der Rückkehr, Anm.], der friedlichen Proteste, die zwei Jahre lang an der Grenzmauer stattfanden und bei denen 223 PalästinenserInnen von israelischen Streitkräften erschossen wurden. Das Al-Shifa-Krankenhaus ist dasselbe Krankenhaus, das jetzt fast vollständig zerstört ist, in dem Ärzte Massengräber ausgehoben haben, um die Toten zu begraben, und in dem der brillante Arzt Adnan Al Bursh die orthopädische Abteilung leitete, bevor er in israelischen Gefängnissen entführt, gefoltert und wahrscheinlich zu Tode vergewaltigt wurde.


Ich erinnere mich lebhaft an einen heranwachsenden Jungen, der gerade von den Protesten eingeliefert wurde, nachdem ihm israelische Soldaten von einem der Türme aus in den Hals geschossen hatten. Er war wach und hing an seinem Beatmungsschlauch, konnte aber seinen Körper unterhalb des Halses nicht mehr bewegen. Sein Rückenmark war von der Kugel durchtrennt worden. Er würde niemals seine Arme oder Beine bewegen können und wahrscheinlich nicht einmal mehr selbständig atmen können. Sein Vater flehte das Ärzteteam an und fragte immer wieder: „Was haben wir getan, außer friedlich unsere Rechte einzufordern?“

Unser lieber Freund Dr. Khamis El Essi, ein Schmerz- und Rehabilitationsarzt, der bis heute in Gaza festsitzt, sagte: „Wir wurden im Stich gelassen. Wir wurden für eine Sache geopfert, die wir für alle schützen wollten, aber leider sind wir die Einzigen, die den Preis dafür zahlen.“

Mit „alle“ meint er jeden einzelnen von uns in diesem Raum und in der ganzen Welt.

 

Botschaften von Beschäftigten des Gesundheitswesens in Gaza


Da ich wusste, dass ich heute hier sein würde, habe ich einige KollegInnen in Gaza gefragt, ob sie Botschaften haben, die ich übermitteln soll. Ich möchte einige ihrer Botschaften weitergeben:

„Sagen Sie ihnen, dass wir müde sind... Wir sind ohne Zuhause... auf der Straße... Unsere Lieben sind weg und wir sind alle Geschichten.“ Diese Nachricht wurde mir von einer Krankenschwester aus der Notaufnahme geschickt.


Ein Intensivmediziner, der in Gaza belagert wird und von seiner Familie getrennt ist, sagte mir: „Erzähl ihnen alles, was du mit deinen Augen gesehen hast.“ „Sagen Sie ihnen, dass ich meine Frau und meinen Sohn sehen möchte, denn ich vermisse sie sehr.“


Saed, der Krankenpfleger, von dem ich vorhin sprach und der inhaftiert und gefoltert worden war, sagt zu Ihnen: „Wir werden begraben, jede Minute, die wir begraben werden, jede Minute, die wir verschwinden, jede Minute, die wir entführt werden, erleben wir Dinge, die der Verstand nicht einmal begreifen kann. Wir sterben und finden niemanden, der uns beerdigt. Ich bitte dich, meine Geschichte, meine ganze Geschichte, mit meinem Namen zu teilen. Ich möchte, dass die ganze Welt weiß, dass ich ein menschliches Wesen bin. Am Ende bin ich kein Stift auf einem Papier, ich bin nicht anonym, ich bin ein von Gott geschaffener Mensch.“ Dann stellt er eine Frage, die ich Ihnen stellen möchte: „Warum sind nicht die PalästinenserInnen da, um für ihre Sache sprechen? Warum sind wir nicht da und können nicht sprechen? Das palästinensische Volk, das Volk in Gaza? Warum nicht ich, warum nicht mein Nachbar, warum nicht mein Kollege?“

Unsere palästinensischen KollegInnen sind nicht hier, weil die Systeme, in denen wir derzeit leben, den Wert des palästinensischen Lebens nicht anerkennen.

 

Schlusswort


Ich spreche heute zu Ihnen sowohl als Mitglied der Zivilgesellschaft als auch als Mitarbeiterin im Gesundheitswesen, die den Tod und die Zerstörung, die dem palästinensischen Volk zugefügt wurden, aus erster Hand miterlebt hat.


Wir haben die letzten 14 Monate damit verbracht, zu beobachten, wie der am meisten live gestreamte und dokumentierte Völkermord in der Geschichte mit Schweigen und weit verbreiteten Propagandakampagnen beantwortet wurde, die das Unrecht rechtfertigten, diejenigen zum Schweigen brachten und diskreditierten, die es aufgedeckt hatten. Die Augenzeugen, die es lebend herausgeschafft haben, haben durchwegs von Verbrechen berichtet, die in jedem anderen Kontext zu Sanktionen geführt hätten.

Doch hier, nach 14 Monaten schwerster Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, grober Menschenrechtsverletzungen und barbarischer Kriegsverbrechen, werden sie von Einzelpersonen, Ländern und der Institution, die dieses Gebäude repräsentiert, mit Ohnmacht hingenommen.


Der Präzedenzfall, der in Gaza geschaffen wurde, wird sich überall auf der Welt ausbreiten. Er signalisiert den Niedergang der Rechtsstaatlichkeit. Wir haben bereits gesehen, wie er sich auf den Libanon ausbreitet. Wie ein freiwilliger Chirurg sagte: „Als ich in Gaza war, hatte ich das Gefühl, dass es ein Vorspiel für das Ende der Menschheit war.“ Wenn die Solidarität mit Ihren Mitmenschen nicht schon Grund genug ist, zu handeln, dann denken Sie doch einmal darüber nach, wie sich das alles auf Sie auswirken wird. Das sollte für jeden beängstigend sein.

Ich bin mir bewusst, dass die Worte, die ich heute mit Ihnen geteilt habe, schwer wiegen. Diese Worte verblassen jedoch im Vergleich zu der Realität, die die PalästinenserInnen seit über 400 Tagen und in den 76 Jahren davor erlebten. Die PalästinenserInnen brauchen weder unser Mitleid noch unseren Beifall. Sie brauchen unsere aufrichtige Solidarität. Und es ist keine Zeit für Verzweiflung. In den 24 Stunden, die ich in dieser Stadt verbringen werde, werden etwa 60 Kinder verletzt oder getötet werden. Wir können es uns nicht leisten, noch einen Tag länger zu warten.


Ich bin mir bewusst, dass viele von Ihnen, die heute hier sind, bereits von der Notwendigkeit des Handelns überzeugt sind. Es erfordert Mut, gegen ein korruptes System anzukämpfen, ein System, das Ländern mit einer schrecklichen Bilanz an globaler Gewalt unverhältnismäßig viel Macht verleiht.


Eines Tages wird jemand die Aufzeichnungen unserer Zeugenaussagen ausgraben, die seit 14 Monaten um Hilfe flehen. Man wird die Aufzeichnungen der PalästinenserInnen ausgraben, die über ihren eigenen Völkermord berichteten, als internationalen JournalistInnen die Einreise verboten wurde. Palästinensische Kinder, die Pressekonferenzen abhielten, um der Welt mitzuteilen, dass ihr Leben einen Wert hat. Mit all diesen Geschichten werden wir leben müssen.


Der Mut und das Handeln des palästinensischen Gesundheitspersonals im Angesicht dieses Völkermords ist ein beispielhaftes Vorbild für uns alle.


Die Frage, mit der ich Sie zurücklasse, lautet: Was sind wir bereit, zu riskieren?




 


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