„Unsere Berichte, die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs, die vom Sicherheitsrat in den letzten 13 Monaten verabschiedeten Resolutionen und die von der Generalversammlung verabschiedeten Resolutionen - nichts davon hat dazu geführt, dass ein einziges Kind nicht getötet wurde. Kein einziges Kind ist aufgrund all dieser Maßnahmen nicht gestorben. Und das ist die Realität, mit der das gesamte System der Vereinten Nationen heute konfrontiert ist.
Bis letzte Woche wurden im Gazastreifen 13.319 Kinder getötet, davon 786 Kinder unter einem Jahr. Darüber hinaus wurden 165 Kinder im Westjordanland getötet. Es wurden Tausende und Abertausende von Kindern getötet, und dabei sind die Verletzten, die unter den Trümmern liegen und Gliedmaßen verloren haben, noch nicht einmal mitgerechnet. Es heißt, dass die Zahl der amputierten Gliedmaßen bei Kindern die höchste ist, die es in einem Konflikt der modernen Kriegsführung je gegeben hat. Kinder, die Eltern, Geschwister, Tanten, Onkel, Großeltern, Cousins und Cousinen verloren haben, leiden seit nunmehr 13 Monaten unter schwerem Nahrungsmangel, was zu einer Situation geführt hat, die heute als akute Unterernährung bezeichnet wird.“
UN-Menschenrechtsexperte Chris Sidoti, 30. Oktober 2024
„Am 23. Oktober informierte die israelische Menschenrechtsorganisation Gisha über den aktuellen Stand einer Petition, die sie gemeinsam mit Adalah, der Association for Civil Rights in Israel, HaMoked und Physicians for Human Rights-Israel beim Obersten Gerichtshof Israels eingereicht hatten. Die Organisationen teilten mit, dass der Staat in seiner Antwort auf diese Petition zugegeben habe, dass er zwei Wochen lang absichtlich und wissentlich den Zugang zu humanitärer Hilfe für die schutzbedürftige Zivilbevölkerung im Norden des Gazastreifens verhindert habe und dass er den BewohnerInnen von Jabalia nach wie vor jegliche Hilfe vorenthalte.“
Gisha: High Court Petition: Aid access NOW, 2. November 2024
“Und so haben wir alle Schichten der Täuschung im „Plan der Generäle“ durchdrungen: Entgegen aller Behauptungen ist der Plan selbst ein Kriegsverbrechen; die Armee hat keine Frist für die Evakuierung der ZivilistInnen vorgesehen; die militärische Rechtfertigung ist fragwürdig und steht in keinem Verhältnis zur Intensität der drastischen Operation; und das Endziel des Plans ist nicht militärisch, sondern politisch - die Wiederbesiedlung des Gazastreifens.“
Idan Landau, israelischer Universitätsprofessor, 1. November 2024
„Wir haben den äußerst besorgniserregenden Bericht erhalten, dass das Sheikh Radwan Primary Health Care Zentrum im Norden von Gaza heute angegriffen wurde, während Eltern ihre Kinder zur lebensrettenden Polioimpfung in ein Gebiet brachten, in dem eine humanitäre Pause vereinbart worden war, um die Impfung zu ermöglichen. Sechs Menschen, darunter vier Kinder, wurden verletzt. Ein WHO-Team war kurz vor dem Angriff vor Ort.“
WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus, 2. November 2024
„30 pro Tag.
So viele humanitäre Lastwagen haben die israelischen Behörden im letzten Monat im Durchschnitt täglich in den Gazastreifen gelassen. (Oktober 2024)
Dies ist der niedrigste Stand seit langem und bringt die Hilfe auf das Niveau am Beginn des Krieges zurück. Das reicht nicht aus, um den Bedarf von über 2 Millionen Menschen zu decken, von denen viele hungern, krank sind und sich in einer verzweifelten Lage befinden. Dies entspricht nur 6 Prozent der Lieferungen (kommerziell und humanitär), die vor dem Krieg nach Gaza gelangten.
(...) Die Einschränkung des Zugangs für humanitäre Hilfe und die gleichzeitige Auflösung des UNRWA werden das ohnehin schon unbeschreibliche Leid noch weiter verstärken.“
Philippe Lazzarini, UNRWA-Generalkommissar, 4. November 2024
„Ich habe gerade Dr. Hussam Abu Saffiyyah, dem Leiter des Kamal Adwan Krankenhauses in Beit Lahia, zugehört. Er sagte: „Es gibt keine Chirurgen im Krankenhaus.“ Und dann erwähnte er eine schockierende Tatsache: „Wir haben 120 Verwundete und PatientInnen, und wir haben keine Möglichkeit, ihnen etwas zu essen zu geben, während sie sich im Krankenhaus erholen. Es gibt nicht einmal Essen für die freiwilligen Helfer.“
Mosab Abu Toha, palästinensischer Schriftsteller, 3. November 2024
Ausrotten, vertreiben, umsiedeln: Israels finales Vorgehen im nördlichen Gazastreifen
Debatten über die Einzelheiten des „Generalsplans“ lenken von der wahren Brutalität der jüngsten israelischen Operation ab - einer Operation, die den Anschein humanitärer Erwägungen fallen lässt und den Grundstein für Siedlungen legt.
Von Idan Landau, 972Mag, 1. November 2024
(Originalbeitrag in englischer Sprache, Querverweisen und dazugehörendem Bildmaterial)
Sehen Sie sich diese beiden Fotos an, die beide am 21. Oktober 2024 aufgenommen wurden. Auf der rechten Seite sehen wir eine lange Schlange von Vertriebenen – oder besser gesagt, von Frauen und Kindern – in den Ruinen des Flüchtlingslagers Jabalia im nördlichen Gazastreifen. Männer über 16 Jahren sind von ihnen getrennt, schwenken eine weiße Fahne und halten ihre Ausweise hoch. Sie sind auf dem Weg hinaus.
Links sehen wir ein Lager, das von der Siedlerorganisation Nachala außerhalb des Gazastreifens im Rahmen einer Veranstaltung zum Sukkot-Fest errichtet wurde. An der Veranstaltung nahmen 21 rechtsgerichtete Minister und Knessetmitglieder sowie mehrere hundert weitere TeilnehmerInnen teil, die alle über Pläne zum Bau neuer jüdischer Siedlungen in Gaza diskutieren wollten. Sie sind auf dem Weg hinein.
Diese Fotos erzählen eine Geschichte, die sich so schnell abspielt, dass ihre erschütternden Details bereits in Vergessenheit zu geraten drohen. Dabei könnte diese Geschichte an jedem beliebigen Punkt der letzten 76 Jahre beginnen: die Nakba von 1948, der darauffolgende „Siyag-Plan“ [auch „Sayag-Plan“ genannt, ein Plan zur Vertreibung der BeduinInnen, siehe beispielsweise Link, Anm.], die Naksa von 1967. Auf der einen Seite die vertriebenen PalästinenserInnen mit allem, was sie tragen können, hungrig, verwundet und erschöpft, auf der anderen Seite die fröhlichen jüdischen SiedlerInnen, die das neue Land, das die Armee für sie geräumt hat, feierlich einweihen.
Aber die Geschichte dessen, was derzeit auf beiden Seiten des Gaza-Grenzzauns geschieht, dreht sich um den so genannten „Plan der Generäle“ - und darum, was sich dahinter verbirgt.
Die Vorlage
Der „Plan der Generäle“, der Anfang September veröffentlicht wurde, hat ein sehr einfaches Ziel: den nördlichen Gazastreifen von seiner palästinensischen Bevölkerung zu entvölkern. Der Plan selbst schätzt, dass nördlich des Netzarim-Korridors – der von Israel besetzten Zone, die den Gazastreifen in zwei Hälften teilt – noch etwa 300.000 Menschen leben, obwohl die UN die Zahl eher auf 400.000 schätzt.
In der ersten Phase des Plans würde die israelische Armee alle diese Menschen darüber informieren, dass sie eine Woche Zeit haben, um über zwei „humanitäre Korridore“ in den Süden zu evakuieren. In der zweiten Phase, am Ende dieser Woche, würde die Armee das gesamte Gebiet zu einer militärischen Sperrzone erklären. Jeder, der dort verbleibt, wird als feindlicher Kämpfer betrachtet und getötet, wenn er sich nicht ergibt. Das Gebiet würde vollständig belagert werden, was die Hunger- und Gesundheitskrise verschärfen und, wie Prof. Uzi Rabi, ein leitender Forscher an der Universität Tel Aviv, es ausdrückte, „einen Prozess des Verhungerns oder der Ausrottung“ auslösen würde.
Dem Plan zufolge ist die Einhaltung des humanitären Völkerrechts gewährleistet, wenn die Zivilbevölkerung im Voraus zur Evakuierung aufgefordert wird. Das ist eine Lüge. Das erste Protokoll der Genfer Konventionen besagt eindeutig, dass eine Warnung an die Zivilbevölkerung, zu fliehen, den Schutzstatus der Zurückgebliebenen nicht aufhebt und es den Streitkräften nicht gestattet, ihnen Schaden zuzufügen; ebenso wenig hebt eine militärische Belagerung die Verpflichtung der Armee auf, humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung zu ermöglichen.
Außerdem fallen die formalen Lippenbekenntnisse zum humanitären Recht flach, wenn man bedenkt, dass der Mann, der den Plan anführt, Generalmajor (a.D.) Giora Eiland, das vergangene Jahr damit verbracht hat, kollektive Bestrafung gegen die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens zu fordern, die Enklave wie Nazi-Deutschland zu behandeln und die Ausbreitung von Krankheiten zuzulassen, um „den Sieg näher zu bringen und den Schaden für die Soldaten der IDF zu verringern“. Nachdem er 10 Monate lang so geredet hatte, erkannte er – in Absprache mit einer Reihe von Schattenberatern, auf die wir noch zurückkommen werden – die Gelegenheit, einen Plan der Ausrottung im nördlichen Gazastreifen zu testen. Er verteilte ihn fleißig an PolitikerInnen und Medien, getarnt unter einer Maske aus Lügen über die Einhaltung des Völkerrechts.
Die Medien und die PolitikerInnen taten, was sie immer tun: Sie sorgten für Ablenkung. Während Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant sich beeilten zu dementieren, informierten anonyme Beamte und Soldaten vor Ort bereits die Medien darüber, dass der Plan in die Tat umgesetzt wird.
Die Realität ist jedoch noch entsetzlicher. Was die Armee seit Anfang Oktober im nördlichen Gazastreifen durchführt, ist nicht exakt der „Plan der Generäle“, sondern eine noch unheimlichere und brutalere Version davon in einem stärker konzentrierten Gebiet. Man könnte sogar sagen, dass der Eiland-Plan selbst und der heftige internationale Medienrummel und diplomatische Wirbel [außerhalb des deutschsprachigen Raumes, Anm.], den er ausgelöst hat, dazu beigetragen haben, dass niemand weiß, was jetzt tatsächlich vor sich geht, und dass die beiden Abweichungen vom ursprünglichen Plan, die bereits umgesetzt worden sind, verschleiert werden.
Der erste, unmittelbarste Unterschied besteht darin, dass die Bestimmungen zur Verringerung des Schadens für die Zivilbevölkerung aufgegeben wurden, d. h. den BewohnerInnen des nördlichen Gazastreifens wurde nicht eine Woche Zeit gegeben, um nach Süden zu evakuieren. Die zweite Abweichung betrifft den eigentlichen Zweck der Räumung des Gebiets: Während die Militäroperation als sicherheitspolitische Notwendigkeit dargestellt wurde, war sie in Wirklichkeit vom ersten Tag an eine Verkörperung des Willens zur ethnischen Säuberung und Neubesiedelung.
Die Aufmerksamkeit wird abgelenkt
Die Katastrophe im Norden des Gazastreifens nimmt von Minute zu Minute zu, und das Zusammentreffen von Umständen bedeutet, dass das Unvorstellbare – die Vernichtung von Tausenden von Menschen in dem belagerten Gebiet – nicht mehr außerhalb des Bereichs des Möglichen liegt.
Die aktuelle Militäroperation begann in den frühen Morgenstunden des 6. Oktober. Den BewohnerInnen von Beit Hanoun, Beit Lahiya und Jabalia - den drei Orten nördlich von Gaza-Stadt - wurde befohlen, über zwei „humanitäre Korridore“ in das Gebiet Al-Mawasi im Süden des Streifens zu fliehen. Israel stellte den Angriff offiziell als Operation dar, um die Infrastruktur der Hamas zu zerstören, nachdem sich die Gruppe in dem Gebiet wieder etabliert hätte, und um sich auf die Möglichkeit vorzubereiten, dass Israel die Verantwortung für die Beschaffung, den Transport und die Verteilung der humanitären Hilfe im Gazastreifen übernimmt – mit anderen Worten, auf die Rückkehr der israelischen Zivilverwaltung, die den Gazastreifen bis zum „Rückzug“ im Jahr 2005 regierte. Der erste Grund war nur teilweise zutreffend, und der zweite war nicht mehr als eine Täuschung.
Tatsächlich sah es für die PalästinenserInnen in diesen Gebieten ganz anders aus. Die Armee griff die BewohnerInnen in ihren Häusern und Unterkünften mit Luftangriffen, Artillerie und Drohnen an, während Soldaten von Straße zu Straße zogen und ganze Gebäude zerstörten und in Brand setzten, um die BewohnerInnen an der Rückkehr zu hindern. Innerhalb weniger Tage hatte sich Jabalia in eine Vision der Apokalypse verwandelt.
Im Gegensatz zu dem von der Armee gezeichneten Bild, wonach es den BewohnerInnen der nördlichen Gebiete freisteht, sich nach Süden zu bewegen und die Gefahrenzone zu verlassen, zeigten die Zeugenaussagen vor Ort eine erschreckende Realität: Jeder, der auch nur sein Haus verlässt , läuft Gefahr, von israelischen Scharfschützen oder Drohnen erschossen zu werden, auch kleine Kinder und Menschen mit weißen Fahnen. Auch Rettungskräfte, die versuchten, den Verwundeten zu helfen, gerieten unter Beschuss, ebenso wie Journalisten, die versuchten, die Ereignisse zu dokumentieren.
Ein besonders erschütterndes Video, das auch von der Washington Post verifiziert wurde [siehe Link, Anm.], zeigt ein Kind, das am Boden liegt und um Hilfe fleht, nachdem es durch einen Luftangriff verwundet worden war; als sich eine Menschenmenge versammelt, um ihm zu helfen, wird sie plötzlich von einem weiteren Luftangriff getroffen, bei dem ein Mensch getötet und mehr als 20 weitere verletzt werden. Dies ist die Realität, in der die Menschen im nördlichen Gazastreifen ausgehungert und erschöpft in die „humanitäre Zone“ gehen sollten.
Angesichts dieser Brutalität hat die israelische Propagandamaschinerie eine ganze Reihe von Ausreden vorgebracht, warum die ZivilistInnen nicht evakuiert wurden – so zum Beispiel, dass die Hamas diejenigen, die zu gehen versuchten, „mit Stöcken geschlagen“ hätte. Wenn die Hamas die ZivilistInnen tatsächlich an der Evakuierung gehindert hat, wie kann die Armee dann behaupten, dass diejenigen, die sich gegen eine Evakuierung entschieden haben, Terroristen sind, die dazu verurteilt sind, getötet zu werden? Doch wenn man den BewohnerInnen selbst zuhört, hört man immer wieder denselben verzweifelten Hilferuf: „Wir können nicht fliehen, weil die israelische Armee auf uns schießt“.
Am 20. Oktober verbreitete die israelische Armee ein Foto von einer langen Reihe vertriebener Menschen neben einer Bildunterschrift, die so banal und gefühllos formuliert war wie eine Wettervorhersage: „Die Bewegung der palästinensischen Bewohner aus dem Gebiet Jabalia im nördlichen Gazastreifen geht weiter. Bislang wurden mehr als 5.000 Palästinenser aus dem Gebiet evakuiert.“
Aufmerksamen Betrachtern wird aufgefallen sein, dass alle Köpfe auf dem Bild bedeckt waren: Es handelt sich um eine Reihe von Frauen und Kindern, die nicht „evakuiert“, sondern gewaltsam vertrieben wurden. Wo sind die Männer? Sie wurden an unbekannte Orte verschleppt. Vielleicht werden wir in einigen Monaten von ihrer Zeit in israelischen Gefangenenlagern hören und die Folterungen und Misshandlungen beschreiben, die seit dem 7. Oktober mindestens 60 Gefangene aus dem Gazastreifen getötet haben.
Anders als im „Plan der Generäle“ angegeben, wurde der Zivilbevölkerung keine Woche für die Evakuierung eingeräumt, wie Eiland später zugab; die Armee behandelte die nördlichen Gebiete von Anfang an als militärische Zone, in der jede Bewegung mit tödlichem Feuer beantwortet wird. Dies ist die erste Art und Weise, in der der Plan als Blitzableiter benutzt wurde, um die Aufmerksamkeit und Kritik von einer viel brutaleren Realität abzulenken, als sie der Plan vorgibt.
Eine Politik der Ausrottung
Seit Beginn ihrer Operation im nördlichen Gazastreifen hat die israelische Armee über 1.000 PalästinenserInnen getötet. Die israelische Luftwaffe bombardiert in der Regel nachts, wenn die Opfer schlafen, tötet ganze Familien in ihren Häusern und erschwert die Evakuierung der Verwundeten. Am 24. Oktober gaben die Rettungsdienste bekannt, dass sie aufgrund der Intensität der Bombardierungen keine andere Wahl hätten, als alle Operationen in den belagerten Gebieten einzustellen.
Zu den bemerkenswertesten Angriffen gehören die Bombardierung eines Hauses in der Gegend von Al-Fallujah im Lager Jabalia am 14. Oktober, bei der eine elfköpfige Familie und der Arzt, der sie behandelte, getötet wurden; ein Angriff auf die Abu-Hussein-Schule im Lager Jabalia am 17. Oktober, bei dem 22 Flüchtlinge, die sich dort aufhielten, getötet wurden; die Tötung von 33 Menschen in drei Häusern im Lager Jabalia, darunter 21 Frauen, am 19. Oktober; die Zerstörung mehrerer Wohnhäuser im Lager Jabalia. 19. Oktober; die Zerstörung mehrerer Wohnhäuser in Beit Lahiya am selben Tag, bei der 87 Menschen getötet wurden; Luftangriffe auf fünf Wohnhäuser in Beit Lahiya am 26. Oktober, bei denen 40 Menschen getötet wurden; und das Massaker an 93 Menschen bei der Bombardierung eines fünfstöckigen Wohnhauses in Beit Lahiya am 29. Oktober.
Die derzeitige Vernichtungsoperation im Norden des Gazastreifens sollte niemanden überraschen, der die israelischen Kriegsverbrechen des letzten Jahres und die zahllosen investigativen Berichte, die die angesehensten Medien der Welt darüber geschrieben haben, aufmerksam verfolgt hat. Vom Abwurf von 2.000-Pfund-Bomben, wo es keine militärischen Ziele in der Nähe gab, bis hin zur regelmäßigen Tötung von Kindern durch Scharfschützenkugeln in den Kopf – diese Gräueltaten zeigen uns, wozu die israelische Armee fähig ist, wenn sie nicht gestoppt wird.
Der nördliche Gazastreifen wird vor den Augen der Welt vernichtet. Die ständigen Bombardierungen treffen jeden Winkel, und in jeder Straße gibt es Tote. Der Lärm der Explosionen hört nie auf, und es gibt keinen sicheren Ort für die Zivilbevölkerung. Die Krankenhäuser sind überfordert und können die Menschen nicht behandeln
- Mahmoud Bassam, am 18. Oktober 2024
Innerhalb des eingekesselten Gebiets im nördlichen Gazastreifen gibt es nur drei größere medizinische Einrichtungen, in die die Hunderte von Opfern der letzten Wochen gebracht wurden: das Indonesische Krankenhaus und das Kamal Adwan Krankenhaus in Beit Lahiya sowie das Al-Awda Krankenhaus in Jabalia. Doch auch diese Krankenhäuser wurden von der israelischen Armee angegriffen, so dass sie die Verwundeten nicht mehr behandeln können. In Berichten von Ärzte ohne Grenzen und der UNO wird die Situation als „unmittelbar lebensbedrohlich“ bezeichnet.
Zu Beginn der Operation forderte die israelische Armee die drei Krankenhäuser auf, innerhalb von 24 Stunden zu evakuieren, und drohte, jeden, der sich weiter in den Krankenhäusern aufhält, gefangen zu nehmen oder zu töten – nicht gerade die „Gnadenwoche“, die im „Plan der Generäle“ vorgesehen war. Die Armee bombardierte Kamal Adwan und seine Umgebung in der Anfangsphase der Operation, bevor sie es einer dreitägigen Razzia unterzog, bei der es vollständig zerstört und die Mehrheit der Ärzte festgenommen wurde.
Die Armee hat auch wiederholt das indonesische Krankenhaus und Al-Awda bombardiert. In ersterem starben zwei Patienten an den Folgen des Stromausfalls, bevor das Krankenhausbetrieb ganz zum Erliegen kam. Das ist der Grund, warum selbst leichte Verletzungen oft tödlich enden - weil die medizinischen Teams einfach nicht über die notwendigen Mittel verfügen, um sie zu behandeln.
Für Israel ist selbstverständlich jedes Haus und jede Straße in Gaza eine potenzielle Bedrohung und ein legitimes Ziel. Und unter welchem Vorwand wird sechs medizinischen Hilfsorganisationen, die mit der Weltgesundheitsorganisation zusammenarbeiten, die Einreise nach Gaza verweigert? Höchstwahrscheinlich ist es die Strafe dafür, dass westliche Ärzte in Gaza waren, die später Berichte über israelische Scharfschützen veröffentlichten, die auf Kinder schossen. Ein UN-Bericht, der kurz zuvor veröffentlicht wurde, kam zu dem Schluss, dass Israel „eine konzertierte Politik zur Zerstörung des Gesundheitssystems in Gaza“ als Teil des „Verbrechens der Ausrottung gegen die Menschlichkeit“ betreibt.
Eine Politik des Aushungerns
Diese Angriffe wurden von einer vollständigen Belagerung begleitet, die den Zugang zum nördlichen Gazastreifen für Lebensmittel und medizinische Hilfsgüter versperrte, was offenbar eine bewusste Politik des Aushungerns ist. Nach Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen begann Israel am 1. Oktober – fünf Tage vor Beginn der Militäroperation – mit dem Lieferstopp von Lebensmitteln.
Diese Tatsache wurde offiziell, wenn auch indirekt, in Form eines US-Ultimatums vom 15. Oktober bestätigt, in dem Israel aufgefordert wurde, innerhalb von 30 Tagen Hilfslieferungen in den nördlichen Gazastreifen zuzulassen, andernfalls würden die Waffenlieferungen der USA an Israel eingestellt. Dies deutet darauf hin, wie auch humanitäre Organisationen gewarnt hatten, dass vor diesem Zeitpunkt keine derartigen Hilfslieferungen zugelassen wurden. Die 30-tägige Frist ist lächerlich, denn, wie auch der Leiter der EU-Außenpolitik [Josep Borrell, Anm.] erklärte, könnten innerhalb von 30 Tagen Tausende von Menschen verhungern.
Darüber hinaus bestärkte ein Exposé von Politico den Eindruck, dass die jüngste Forderung aus Washington wie frühere derartige „Drohungen“ nur eine leere zeremonielle Geste war, um liberale Gewissen zu beruhigen. Bereits im August hatte der oberste US-Beamte, der sich mit der humanitären Lage im Gazastreifen befasst, bei einem internen Treffen mit Hilfsorganisationen erklärt, dass die Vereinigten Staaten nicht zulassen würden, dass Waffenlieferungen an Israel verzögert oder gestoppt werden, um Druck in Bezug auf humanitäre Hilfe auszuüben. Was die Verletzung des humanitären Völkerrechts betrifft, so äußerte der Vertreter einem der Teilnehmer zufolge die Ansicht, dass „die Regeln nicht für Israel gelten“.
Israels Politik des Aushungerns im nördlichen Gazastreifen beschränkt sich nicht nur darauf, die Einfuhr von Lebensmitteln zu verhindern. Am 10. Oktober bombardierte die Armee den einzigen Mehlspeicher in der Region – ein eindeutiges Kriegsverbrechen, das einen wichtigen Teil des Völkermordverfahrens gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof darstellt. Vier Tage später bombardierte die Armee ein UN-Lebensmittelverteilungszentrum in Jabalia und tötete dabei zehn Menschen.
Hilfsorganisationen haben eindringlich vor dieser eskalierenden Katastrophe gewarnt und darauf hingewiesen, dass sie unter den unmöglichen Bedingungen, die Israel im nördlichen Gazastreifen geschaffen hat, nicht in der Lage sind, ihre grundlegenden Aufgaben zu erfüllen. Ein neuer IPC-Bericht über den Hunger in Gaza prognostiziert „katastrophale Folgen“ der schweren Unterernährung, insbesondere im Norden.
Am 16. Oktober berichteten israelische Medien, dass auf Druck der USA 100 Hilfstransporter in den nördlichen Gazastreifen gelangt seien. Journalisten im Norden korrigierten jedoch schnell die Angaben: Es sei überhaupt nichts in die belagerten Gebiete gelangt. Am 20. Oktober lehnte Israel ein weiteres Ersuchen von UN-Organisationen ab, Lebensmittel, Treibstoff, Blutkonserven und Medikamente zu liefern. Drei Tage später gab der Staat auf einen Antrag der israelischen Menschenrechtsgruppe Gisha auf Erlass einer einstweiligen Verfügung hin vor dem Obersten Gerichtshof zu, dass bis zu diesem Zeitpunkt keine humanitäre Hilfe in den nördlichen Gazastreifen gelangt war. Zu diesem Zeitpunkt sprechen wir bereits von einem dreiwöchigen Lieferstopp.
Seitdem behauptet Israel, ein Rinnsal von Hilfslieferungen in den nördlichen Gazastreifen zugelassen zu haben - aber ohne fotografische Beweise ist es sehr schwer zu sagen, wie viele davon ihr erklärtes Ziel auch wirklich erreicht haben.
Der Rechten zuzwinkern, der Linken sicherheitspolitische Rechtfertigungen vortäuschen
Die militärische Begründung für eine solch drastische Operation war von Anfang an fragwürdig. Eiland sprach von „5.000 Terroristen“, die sich im Norden versteckt hielten, aber jeder, der die Situation vor Ort genau verfolgte, konnte sehen, dass Begegnungen mit Hamas-Aktivisten in diesen Gebieten eher selten waren.
Wie Yaniv Kubovich von Haaretz enthüllte, „sagten Kommandeure vor Ort (…), dass die Entscheidung, im nördlichen Gazastreifen zu operieren, ohne eingehende Überlegungen getroffen wurde, und es scheint, dass sie vor allem dazu dienen, die Bevölkerung des Gazastreifens unter Druck zu setzen.“ Die Streitkräfte wurden angewiesen, sich auf die Operation vorzubereiten, so der Bericht weiter, „obwohl es keine nachrichtendienstlichen Erkenntnisse gab, die dies gerechtfertigt hätten.“
Darüber hinaus herrschte unter hochrangigen Verteidigungsbeamten keine Einigkeit über die Notwendigkeit des Manövers, und sowohl in der Armee als auch im Shin Bet gab es viele, die der Meinung waren, dass es das Leben der Geiseln gefährden könnte. Quellen, die mit Haaretz sprachen, sagten aus, dass die Soldaten, die in Jabalia eindrangen, „nicht von Angesicht zu Angesicht mit Terroristen konfrontiert wurden“, obwohl seitdem mindestens 12 Soldaten im nördlichen Gazastreifen getötet wurden.
Was war also die wahre Motivation für die Operation? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir nicht weiter zu schauen als bis zur Sukkot-Veranstaltung, die von SiedlerInnen und ihren AnhängerInnen am 21. Oktober unter dem Titel „Vorbereitungen zur Besiedelung von Gaza“ organisiert wurde. Dort stellten sie eine Vision für den Bau jüdischer Siedlungen im gesamten Gazastreifen vor, nachdem die Enklave von PalästinenserInnen gesäubert worden ist. Gaza-Stadt zum Beispiel sollte „eine hebräische, technologische und grüne Stadt werden, die alle Teile der israelischen Gesellschaft vereint“. Und zumindest in diesem Punkt sagen sie die Wahrheit: Die Israelis waren schon immer geeint, wenn es um die Vertreibung und Enteignung der PalästinenserInnen ging.
Diese Veranstaltung war nur der jüngste Aufruf zur Annexion und Besiedlung von Gaza nach einer ekstatischen Konferenz in Jerusalem im Januar, an der Tausende teilnahmen, darunter nicht weniger als 26 Koalitionsmitglieder. Und obwohl nur ein Viertel der israelischen Öffentlichkeit die Wiederbesiedlung des Gazastreifens befürwortet, zeigt die beachtliche Präsenz von Ministern und Unterstützern aus Netanjahus Likud-Partei, dass dies auf politischer Ebene immer mehr zum Mainstream wird.
Die Nachala-Bewegung von Daniela Weiss hat die Pläne bereits ausgearbeitet: sechs Siedlungsgruppen mit 700 Familien, die schon in der Warteschlange stehen. Alles, was sie brauchen, ist ein günstiger Moment – ein Moment, in dem die nationale Aufmerksamkeit abgelenkt ist (vom Libanon, vom Westjordanland, vom Iran), ein Moment der Entschlossenheit im „entschlossenen“ Stil von Bezalel Smotrich, und der Pfahl wird auf die andere Seite des Zauns geschlagen werden.
Sie werden es einen „militärischen Außenposten“ oder einen „landwirtschaftlichen Betrieb“ nennen, eine bewährte Strategie, um der Rechten zuzuzwinkern und der Linken sicherheitspolitische Rechtfertigungen vorzutäuschen. Die Armee wird sie niemals im Stich lassen: Es sind unsere „besten Jungs“, das Militär ist ihr Fleisch und Blut. Und so wird die Rückkehr kommen.
Die Köpfe hinter dem „Plan der Generäle“
Die aufmerksamen BeobachterInnen unter uns konnten schon in der ersten Woche des Krieges erkennen, in welche Richtung der Wind wehte. Während die meisten Israelis noch damit beschäftigt waren, das Ausmaß der Katastrophe vom 7. Oktober zu begreifen, zeichneten die SiedlerInnen bereits Karten und steckten Siedlungsnadeln darauf.
Die Wunde des „Rückzugs“, bei dem das Militär 8.000 Siedler aus dem Streifen räumte, wurde absichtlich offen gelassen und durfte nie heilen: ein „Trauma“, das Jahr für Jahr wiederbelebt und weitergegeben wird und dessen Gift in das berüchtigte Kohelet Policy Forum – eine rechte Denkfabrik, die für einen Großteil der Masterpläne der derzeitigen Regierung verantwortlich ist – und in eine ganze Reihe rechter Politiker sickerte, die von Hass und einem unstillbaren Wunsch nach Rache erfüllt sind.
Es ist die Reinkarnation eines alten israelischen Grundthemas: Die ewigen Opfer können niemals sündigen. Es ist die Mentalität, die das Trauma des 7. Oktobers in den Worten von Naomi Klein in eine „Kriegswaffe“ verwandelt hat, indem sie den Hamas-Angriff nahtlos mit Holocaust-Bildern durchsetzt hat.
Und natürlich wusste es die rechtsextreme Ministerin Orit Strook vor allen anderen und sagte im Mai 2023 voraus: „Was die [Neubesiedelung] des Gazastreifens angeht: ich glaube nicht, dass die Menschen in Israel im Moment geistig dort sind, also wird es nicht heute oder morgen früh passieren. Langfristig wird es aber wohl keine andere Wahl geben, als es zu tun. Es wird geschehen, wenn das israelische Volk dazu bereit ist, und leider werden wir dafür mit Blut bezahlen.“ Wie traurig sie darüber wirklich war, ist schwer zu sagen, denn dieselbe Orit Strook freute sich mitten im Krieg über die Flut neuer Siedlungen und Außenposten im Westjordanland und bezeichnete sie als „eine Zeit der Wunder“.
Welcher Zusammenhang besteht zwischen diesem überquellenden Topf des Messianismus und dem „Plan der Generäle“? Das wurde Anfang dieses Monats aufgedeckt, als Omri Maniv von Kanal 12 herausfand, dass die Militärgeneräle zwar die Gesichter des Plans sind, der Kopf dahinter aber die rechtsgerichtete Organisation Tzav 9 ist – jene Gruppe, die dafür verantwortlich ist, dass humanitäre Hilfslieferungen in Brand gesteckt wurden, bevor sie in den Gazastreifen gelangen konnten, und die daraufhin von den Vereinigten Staaten zusammen mit ihrem Gründer Shlomo Sarid sanktioniert wurde.
Laut Manivs Bericht war es Sarid, der Eiland mit dem Forum der Reservekommandeure und -kämpfer in Kontakt brachte, das den Plan veröffentlichte. Zu den Gründern des Forums gehört Generalmajor a.D. Gabi Siboni vom Misgav-Institut, das aus dem inzwischen aufgelösten Zionist Strategy Institute hervorgegangen ist, einer Tarnorganisation für – Überraschung, Überraschung! – Kohelet.
Im Laufe der Jahre hat Kohelet die Fähigkeit perfektioniert, die öffentliche Agenda in Israel durch Nebenstellen und Unterabteilungen, die unter scheinbar harmlosen Namen operieren, maßgeblich zu beeinflussen, wobei ihre Forscher manchmal sogar jede Verbindung zu ihr abstreiten. Sarid zitierte praktisch das Betriebshandbuch von Kohelet, als er in einer internen Zoom-Sitzung der Tzav 9-Mitglieder erklärte: „Wir haben uns hier eine clevere Strategie ausgedacht: Wir nehmen ein kontroverses Kernthema, und dann kommen wir als zivile Organisationen und bieten der Regierung die Lösung an. Wir kommen von allen Seiten. Wir haben Lösungen sowohl von rechts als auch von links angeboten.“
Eiland wusste, dass Sarid und Mitglieder des Forums der Reservekommandeure und -kämpfer die Wiedererrichtung von Siedlungen im Gazastreifen anstrebten, bestritt aber, dass sein Plan darauf abzielte, den Boden dafür zu bereiten. So hört sich das Dementi eines nützlichen Idioten an.
Wie jeder gute Kommandeur des IDF-Zentralkommandos, der geschickt wird, um eine religiöse Feier von SiedlerInnen am Josefsgrab in Nablus zu sichern oder die Ausgänge der palästinensischen Dörfer Kafr Qaddum und Beita zu blockieren, wird er weiterhin behaupten, dass er lediglich „Sicherheits“-Lösungen anbietet, die nichts mit der Agenda der Siedler zu tun haben. „Es ist nicht politisch“, erklären sie uns immer wieder, während die Messianer jubeln und gelegentlich eine kleine Träne über „den blutigen Preis, der zu zahlen ist“ vergießen.
Aber war Eiland wirklich ein nützlicher Idiot? Diese Woche erfuhren wir, dass Israels politische Führung das Militär unter Druck setzt, die Bewohner von Jabalia an der Rückkehr in ihre Häuser zu hindern, „obwohl die Ziele der Operation ... größtenteils erreicht wurden“. Eiland erwartet nun, dass sich der nördliche Gazastreifen für die PalästinenserInnen „langsam in einen fernen Traum verwandeln wird. So wie sie Ashkelon [Al-Majdal] vergessen haben, werden sie auch dieses Gebiet vergessen.“ Dies ist nicht mehr die Stimme eines hirnlosen Militärtaktikers, sondern die eines Verfechters der ethnischen Säuberung in Reinkultur.
Und so haben wir alle Schichten der Täuschung im „Plan der Generäle“ durchdrungen: Entgegen aller Behauptungen ist der Plan selbst ein Kriegsverbrechen; die Armee hat keine Frist für die Evakuierung der ZivilistInnen vorgesehen; die militärische Rechtfertigung ist fragwürdig und steht in keinem Verhältnis zur Intensität der drastischen Operation; und das Endziel des Plans ist nicht militärisch, sondern politisch - die Wiederbesiedlung des Gazastreifens.
Israels günstige Gelegenheit
Zurzeit sind rund 100.000 EinwohnerInnen in Beit Lahiya, Beit Hanoun und Jabalia eingeschlossen, sie hungern und dursten. Jeden Tag werden ganze Familien massakriert und ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht. Israels Zerstörung der Gesundheitsinfrastruktur und die Blockade der medizinischen Versorgung haben dazu geführt, dass die Krankenhäuser nicht mehr in der Lage sind, die Verwundeten zu versorgen. Währenddessen tappen wir aufgrund eines teilweisen Kommunikations-Blackouts und der fast vollständigen Abwesenheit von JournalistInnen in den belagerten Gebieten weitgehend im Dunkeln.
Ist es möglich, vorherzusehen, was als nächstes kommt? Einige werden unweigerlich bei den Vereinigten Staaten nach Antworten suchen. In wenigen Tagen werden die AmerikanerInnen an die Urnen gehen, und es wird sicher ein enges Rennen zwischen Donald Trump und Kamala Harris geben. Wenn Trump gewinnt, kann die israelische Führung aufatmen. Er wird keinen noch so brutalen israelischen Plan aufhalten – schon aus dem einfachen Grund, weil ihm der Unterschied zwischen dem Gazastreifen und Israel nicht klar ist.
Harris ihrerseits wird die letzten Tage ihres Wahlkampfes nicht durch starke Aussagen riskieren. Sie wird sicherlich nicht die jüdische Wählerschaft der Demokraten gefährden, indem sie Israel ein echtes Ultimatum stellt – das hat sie ja bereits gesagt. Und wenn sie gewinnt? Es besteht keine Eile. Die neue Präsidentin wird die Situation erst einmal studieren müssen. „Wir verfolgen genau, was in Gaza passiert, und arbeiten mit unseren Verbündeten an einer Lösung für diese tragische Situation“, wird sie sagen.
Europa hat in unmittelbarer Zukunft keinen Einfluss auf Israel, und die internen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der EU – und vor allem die entschlossene Unterstützung Deutschlands für Israel – verhindern ohnehin einen drastischen Politikwechsel. In Den Haag mahlen die Mühlen der Justiz langsam.
Die Rettung kann nur aus Washington kommen, aber Washington ist mit Trumps jüngster skandalöser Äußerung von Tag zu Tag mehr beschäftigt. Die Giftmaschinerie der amerikanischen Rechten, die von Elon Musk unterstützt wird, läuft bereits auf Hochtouren bei der Produktion von Desinformationen und Fake News. Das unvermeidliche Ergebnis wird sein, dass sich wieder einmal niemand für die palästinensischen Leichen interessiert, die sich auftürmen.
All dies verschafft Israel ein Zeitfenster von ein oder zwei Monaten, in denen es die Vernichtungsoperationen im nördlichen Gazastreifen noch intensivieren kann. Soweit ich erkennen kann, wird es während dieser Zeit und wahrscheinlich auch danach durch nichts und niemanden aufgehalten werden. Der sich verschärfende Krieg im Libanon und im Norden Israels dient auch als weiterer Vorwand.
Wie viele PalästinenserInnen wird Israel bis dahin im nördlichen Gazastreifen auslöschen? Die Tötung von über 1.000 Menschen in den vier Wochen seit Beginn der aktuellen Operation mag im Vergleich zu den Zahlen zu Beginn des Krieges nicht viel erscheinen, aber wir müssen bedenken, dass das derzeit belagerte Gebiet weniger als ein Fünftel der Bevölkerung des Gazastreifens umfasst. Proportional gesehen entspricht dies also den Rekordzahlen der ersten beiden Kriegsmonate, als die Armee durch ihre unablässigen Luftangriffe durchschnittlich 250 Menschen pro Tag tötete. Kein Wunder also, dass die BewohnerInnen des nördlichen Gazastreifens sagen, die letzten Wochen seien die schlimmsten seit Beginn des Krieges gewesen.
Vertrieben und nie wieder zurück?
Abgesehen von der Möglichkeit einer Massenvernichtung mit noch nicht bekannten Mitteln, scheint Israel einen Mittelweg zwischen Vernichtung und Vertreibung zu wählen. Die Ausrottung war als eine Form des Terrors und der Einschüchterung gedacht, mit der die Armee die BewohnerInnen des nördlichen Gazastreifens dazu bringen wollte, „freiwillig“ zu flüchten. Aber selbst das war nicht genug. So wurden Soldaten zu den Unterkünften geschickt, um die Flüchtlinge mit vorgehaltener Waffe zusammenzutreiben und nach Süden zu schicken, nachdem die Männer getrennt und zur Befragung oder Verhaftung gebracht worden waren.
Am 21. Oktober veröffentlichte der öffentliche israelische Rundfunk Kan Drohnenaufnahmen von PalästinenserInnen, die zusammengetrieben und nach Süden getrieben wurden. Kan betitelte den Beitrag mit „Gazaner verlassen Jabalia“. Sie „gehen“ auf die gleiche Weise, wie die BewohnerInnen von Lyd, Al-Majdal und Manshiyya 1948 „gingen“. Die BewohnerInnen des Gazastreifens selbst sagen: „Wer die Befehle nicht befolgt, wird erschossen.“
Und so ist es auch: Frauen und Kinder in einer Reihe, getrennt von Männern über 16 Jahren, die ihre Ausweise hochhalten, in einer anderen – eine erzwungene Vertreibung, die von den Kameras der vertreibenden Truppen festgehalten wird. In den kommenden Jahren wird Israel in den Geschichtsbüchern festhalten: Sie sind aus freiem Entschluss gegangen.
Und während das israelische Fernsehen Bilder von diesem „ruhigen Abzug“ ausstrahlte, berichteten Journalisten in Gaza von einem weiteren Bombenangriff auf eine Unterkunft im selben Flüchtlingslager, bei dem zehn Menschen getötet und 30 verletzt wurden. Die Aussage eines Sanitäters, der vor Ort war, macht das Grauen deutlich: Eine Drohne kündigte aus der Luft an, dass die BewohnerInnen des Lagers flüchten müssen, und keine zehn Minuten später, noch bevor die meisten Menschen das Lager verlassen konnten, wurde es in die Luft gesprengt.
Der „Plan der Generäle“ ist also nicht nur eine Irreführung, sondern auch ein operativer Flop. Die bedrohte Bevölkerung war nicht bereit, sich freiwillig in die Schusslinie der fliegenden Kugeln und Mörsergranaten zu begeben, da sie, wie es in der menschlichen Natur liegt, den vertrauten Schrecken dem unbekannten vorzog (wer in der israelischen Armee ist schon in der Lage, PalästinenserInnen als Menschen wahrzunehmen?). Selbst die Ausrottung als Instrument des Terrors reichte nicht aus, um die Bewohner des nördlichen Gazastreifens zu einer „freiwilligen“ Vertreibung zu bewegen. Und so wurden Infanteriekräfte zu den Unterkünften geschickt, um die Vertriebenen mit Waffengewalt zu zwingen, herauszukommen und den Marsch nach Süden anzutreten (nachdem die Männer getrennt und zur Befragung oder Verhaftung mitgenommen worden waren).
Alles deutet darauf hin, dass Israel nicht vorhat, die Vertriebenen zurückkehren zu lassen. In diesem Sinne ist die Zerstörung im nördlichen Gazastreifen mit nichts zu vergleichen, was wir bisher gesehen haben. Die Armee stellt wirklich sicher, dass jedes Gebäude verbrannt, zerstört und dem Erdboden gleichgemacht wird, nachdem die PalästinenserInnen geflüchtet sind - und manchmal sogar, während sie noch darin sind. Sogar die Amerikaner und Europäer könnten diesmal die Zeichen der Zeit erkennen.
Wie lange wird es dauern, bis der nördliche Gazastreifen vollständig von seiner Bevölkerung gesäubert ist? Das lässt sich schwer vorhersagen, je nachdem, wie lange die BewohnerInnen vor Ort ausharren, wie viele Tote die Armee aufgrund ihrer eigenen Überlegungen maximal zulässt und wie die internationale Reaktion ausfällt. Sicher ist, dass die derzeitigen Angriffe noch wochenlang andauern werden.
In der Zwischenzeit lassen sich viele der Vertriebenen nicht südlich des Netzarim-Korridors nieder, sondern in den Außenbezirken von Gaza-Stadt, da sie befürchten, dass sie nicht mehr zurückkehren können, wenn sie den Norden ganz verlassen. Wenn die Armee sie auch von dort vertreibt, wäre dies ein weiterer Beweis dafür, dass die Säuberungsaktion nicht von operativen Erwägungen geleitet wird.
Ein Kampf für das Leben
Was können wir noch tun? Innerhalb Israels sind wir nur wenige, die die Realität vor uns mit klaren Augen sehen. Aber das Wenige, was wir tun können, müssen wir tun.
Zuallererst müssen wir die Zwischenrufe von der Tribüne verstummen lassen: von „Aber was ist mit der Charta der Hamas?!“ bis zu „Aber der Iran!“ und „Aber das sind doch Barbaren!“ Nichts davon ist relevant angesichts des Völkermords, den unsere Armee gerade verübt, während Sie diese Worte lesen (und ich wähle diesen Begriff nicht voreilig; hier sind vier israelische Historiker, die zu dieser Schlussfolgerung gekommen sind und die größere Experten sind als ich [der Autor bezieht sich auf Amos Goldberg, Raz Segal, Lee Mordechai und Omer Bartov, Anm.]). Wie genau rechtfertigt das Massaker vom 7. Oktober das Niederbrennen von Schulen und Bäckereien? Was hat die Charta der Hamas damit zu tun, dass medizinische Ausrüstung nicht nach Gaza gelangen darf, was zum massenhaften Tod von Verwundeten führt?
Wir müssen auch die Karikatur, die „die Opposition“ ist, ignorieren. Die „Alternative“, die Israels „linke Mitte“ anbietet, liegt zwischen einer „strategischen Besetzung“ von mehr Territorium auf der einen Seite und einer Politik der „Trennung“ auf der anderen Seite, die der Armee immer noch völlige Handlungsfreiheit in den besetzten Gebieten einräumt oder sogar eine Wiederbelebung der „jordanischen Option“ in Erwägung zieht.
Das unaufhörliche Gerede über große multilaterale politische Vereinbarungen dient nur einem Zweck: der Flucht vor der blutigen Realität. Es ist eine Weigerung, sich unseren eigenen Handlungen zu stellen, eine Weigerung, die Verantwortung für die Katastrophe zu übernehmen – für die die Hamas in der Tat eine nicht geringe Schuld trägt, aber wir tragen viel mehr. Und letztlich ist es eine Weigerung, die PalästinenserInnen als Menschen zu sehen, die genauso sind wie wir.
Ich habe im vergangenen Jahr unzählige Stunden mit der Lektüre von Berichten aus dem Gazastreifen verbracht, und ein Phänomen, das mich besonders erschreckt hat, auch wenn es nicht zu den schrecklichsten Verbrechen gehört, ist die Art und Weise, wie israelische Soldaten die PalästinenserInnen wie Schafe oder Ziegen von einem Ort zum anderen treiben. Wie eine Herde von Tieren treiben Scharfschützen und Drohnen sie zusammen und schießen mit scharfer Munition auf jeden, der sich weigert oder zu lange braucht. Flugzeuge und Drohnen überbringen Evakuierungsaufforderungen und bombardieren dann fast sofort diejenigen, denen die Flucht noch nicht gelungen ist. Eine solche Entmenschlichung weckt unweigerlich Assoziationen mit den Szenen, in denen die Nazis Juden in Viehwaggons verladen.
Das hier beschriebene Netz von Verbrechen ist nicht abstrakt – ein großer Teil der israelischen Öffentlichkeit nimmt daran teil. Hunderte, wenn nicht gar Tausende, haben sich selbst bei der Tat gefilmt, und noch viel mehr haben direkt zur Vernichtung aufgerufen. Die Mehrheit ist jedoch nicht so explizit oder selbstgefällig. Die meisten leisten einfach Hunderte von Tagen Reservedienst beim Militär, „weil wir unser Land schützen müssen“. Sie begehen Verbrechen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, oder nur einen halben Gedanken, oder auch nur einen stummen, mit Füßen getretenen Gedanken.
Sie können sich unzählige Ausreden einfallen lassen, aber jede davon zerbricht angesichts von mehr als 16.000 toten Kindern – über 3 000 davon unter 5 Jahren –, die alle anhand ihrer Namen und ID-Nummern identifiziert wurden. Und sie zerbröckeln angesichts der Zerstörung der gesamten zivilen Infrastruktur, die keinen rein militärischen Zweck hat und haben kann.
Wir alle tragen also die Verantwortung dafür, wenn auch einige mehr als andere. Die Bewegung zur Armeeverweigerung ist zu spät und zu langsam entstanden, doch sie braucht jede Ermutigung und Unterstützung und jede Stimme, die ihr verliehen werden kann. Der Konsens über den Vernichtungskrieg vergiftet die israelische Gesellschaft und verdunkelt ihre Zukunft so sehr, dass selbst kleine Widerstandsgruppen denen, die noch nicht von den Strömen des Wahnsinns mitgerissen wurden, Durchhaltevermögen und Hoffnung geben können.
Wir können auch nach Partnern in diesem Kampf im Ausland suchen, wo der entscheidende Druckhebel die Pipeline amerikanischer Waffen ist. Seit dem 7. Oktober hat diese Pipeline in einem noch nie dagewesenen Tempo funktioniert (bis heute wurden Waffen im Wert von 17,9 Milliarden Dollar nach Israel geliefert) und eine lange Liste von Kriegsverbrechen ermöglicht. Aber auch etwas anderes war beispiellos: Zum ersten Mal wurde diese Pipeline etwas gestört, wenn auch nur vorübergehend, als eine Lieferung von 2.000-Pfund-Bomben vor der Rafah-Invasion verzögert wurde.
Dies ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber es zeigt, was getan werden muss. Und ohne den kontinuierlichen Druck, den AktivistInnen auf ihre VertreterInnen im demokratischen Establishment ausübten und der schließlich bis zum Weißen Haus durchgesickert ist, wäre dies nicht geschehen. Petitionen, Briefe an Kongressabgeordnete, die Veröffentlichung von Zeugenaussagen - jedes Mittel, um die öffentliche Meinung gegen die automatische Unterstützung Israels zu beeinflussen, kann helfen.
Der Kampf um die Beendigung dieses sich verschärfenden Vernichtungs- und Vertreibungskrieges in Gaza, insbesondere im Norden, ist in erster Linie ein menschlicher Kampf. Es ist ein Kampf um das Leben, sowohl in Gaza als auch in Israel: um die Chance, dass in diesem blutgetränkten Land überhaupt noch Leben existieren kann. Nichts könnte patriotischer sein.
Idan Landau ist Professor für Linguistik an der Universität Tel Aviv und schreibt den politischen Blog „Don't Die Stupid“.
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