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Offener Brief von 99 US-amerikanischen GesundheitsmitarbeiterInnen, die bei Hilfsmissionen in Gaza im Einsatz waren

„Als pädiatrische Intensivmedizinerin hatte ich nicht erwartet, dass ich in einer Notaufnahme und einer Intensivstation für Erwachsene am meisten zu tun haben würde, aber Kinder waren die überwältigenden Opfer der israelischen Angriffe. Mehrmals am Tag wurden ganze Mehrgenerationen-Familien massakriert. Eine überwältigende Anzahl von Kindern kam tot, sterbend oder noch lebend in unsere Arme, aber unter den Schmerzen und dem Schrecken furchtbarer traumatischer Verletzungen leidend, oft ohne begleitende Familie, die das Kind identifizieren oder seine Hand halten konnte, während es starb und wimmerte. Ich habe so etwas Schreckliches noch nie gesehen und bin wie viele andere schockiert und entsetzt darüber, dass wir dies weiterhin zulassen.“

Dr. Tanya Haj-Hassan, Ärztin auf der pädiatrischen Intensivstation, in Gaza im März 2024

 

„Ich habe mehrere Kinder gesehen, die aufgrund von schwerer Unterernährung nicht gehen konnten. Ich sah zahlreiche Fälle von akuten Infektionen, Verbrennungen und anderen schweren Verletzungen durch die israelischen Luftangriffe. Die meisten meiner Patienten hatten nur begrenzten oder gar keinen verlässlichen Zugang zu nahrhaften Lebensmitteln, sauberem Wasser oder einer angemessenen Unterkunft. Diese PatientInnen wurden absichtlich ausgehungert. Diese Zustände sind völlig vermeidbar. Infektionskrankheiten grassieren, und erst kürzlich wurde im Gazastreifen ein Polio-Epidemiegebiet ausgerufen. Es gibt keine andere Schlussfolgerung, als dass es sich um einen Völkermord an den Menschen in Gaza handelt“.

Dr. Yipeng Ge, Arzt für Allgemeinmedizin, in Gaza im Februar 2024

 

 

Die Gänge der Krankenhäuser waren überfüllt mit PatientInnen und Binnenflüchtlingen - Verletzte lagen auf dem Boden. Die Unterernährung war weit verbreitet. Ich behandelte zahlreiche Kinder, die Verletzungen von Kugeln und Schrapnellen hatten - amputierte Gliedmaßen waren eine bittere Notwendigkeit. Diese Amputationen wurden oft ohne Betäubung durchgeführt. Alle PatientInnen waren von einem psychologischen Trauma betroffen. Ich erinnere mich an einen dreijährigen Jungen mit ausgedehnten Schrapnellwunden und Gesichtsfrakturen, der gelähmt war und nicht sprechen konnte. Er war zu jung, um die Qualen zu begreifen, die er erlitt. Die überwältigende Mehrheit der Opfer waren Kinder - die Opfer eines anhaltenden, umfassenden Blutbads“. 

Dr. Fozia Alvi, Ärztin für Allgemeinmedizin, in Gaza im Februar 2024

 

„Ich habe eine junge Frau behandelt, die an einer Lungenentzündung starb, weil wir keinen Zugang zu Sauerstoff oder den richtigen Antibiotika hatten. Ich habe einen Teenager behandelt, der an ständigen Krampfanfällen starb, weil es einen kritischen Mangel an grundlegenden Medikamenten gab, darunter auch an Medikamenten für seine Krampfanfälle. Ich habe ein etwa 18 Monate altes Mädchen behandelt, bei dem Krebs diagnostiziert wurde und das wegen der Angriffe auf das Gesundheitssystem nicht behandelt werden konnte. Ich habe mehrere PatientInnen, darunter auch Ärzte, behandelt, die Opfer israelischer Folter waren. All dies wäre vermeidbar gewesen, wenn das Gesundheitssystem nicht Ziel der israelischen Angriffe gewesen wäre.“

Dr. Ben Thomson, Internist/Nephrologe, in Gaza im Sept. 2023 und März 2024

 

„Ich habe selbst innerhalb von vier Tagen mehr als zehn Kinder behandelt, denen der Augapfel amputiert werden musste, einige waren erst zwei Jahre alt. Es waren allesamt offensichtlich Zivilisten, eindeutig unschuldige Opfer. 90 % der Verletzungen, die ich sah, betrafen Kinder unter 16 Jahren. In über 20 Jahren Praxis in mehr als 40 verschiedenen Ländern sind dies die schrecklichsten Verletzungen, die ich je gesehen habe. So etwas hat es noch nie gegeben, und es sind hauptsächlich Kinder.“

Dr. Yasser Khan, Augenarzt und okuloplastischer Chirurg, in Gaza im Dezember 2023 und im März 2024

 

„Während meines jüngsten medizinischen Einsatzes im Juli in Gaza traf ich auf eine Frau in den Vierzigern, die mich auf der Intensivstation anflehte, ihr einzig verbliebenes fünfjähriges Kind zu retten, bei dem ich aufgrund mehrerer Darmverletzungen eine Laparotomie durchführen musste. Sie war die einzige Überlebende einer sechsköpfigen Familie, denn sie befand sich außerhalb des Zeltes und versuchte, ihrer Familie etwas Brot zu backen, nachdem sie drei Tage lang nichts gegessen hatten. Das Zelt wurde von einer israelischen Drohne getroffen, und ihre drei anderen Kinder waren auf der Stelle tot. Der Ehemann verlor beide Beine. Alle drei Kinder starben hungrig.“

Dr. Anas Al-Kassem, Unfallchirurg, in Gaza im Dezember 2023 und im Juli 2024

 

 

 

Obenstehende Aussagen stammen von kanadischen Ärztinnen und Ärzten, die in Gaza bei medizinischen Hilfseinsätzen dabei waren.


Am 2. Oktober 2024 veröffentlichten 99 amerikanische ÄrztInnen, ChirurgInnen, Krankenschwestern, KrankenpflegerInnen und Hebammen einen offenen Brief an Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris, in dem sie nicht nur über ihre erschütternden Erfahrungen in Gaza berichten, sondern auch ihre Regierung dazu aufrufen, sofort die Waffenlieferungen an Israel einzustellen und „diesen Wahnsinn“ unverzüglich zu beenden. Sie bauen damit auf den ersten Brief auf, der am 25. Juli 2024 veröffentlicht wurde. Die UnterzeichnerInnen des Briefes, allen voran Dr. Mark Perlmutter, haben nie eine Antwort aus dem Weißen Haus erhalten.


Die 99 UnterzeichnerInnen des Briefs haben zusammen 254 Wochen in den größten Krankenhäusern und Kliniken des Gazastreifens verbracht. Sie halten ausdrücklich fest, dass keineR von ihnen auch nur ein einziges Mal irgendeine Art von militanten palästinensischen Aktivitäten in einem der Krankenhäuser oder anderen Gesundheitseinrichtungen in Gaza gesehen hat. Dies widerspricht dem Narrativ der israelischen Armee, die ihre zahllosen Angriffe auf Krankenhäuser und Kliniken immer wieder damit gerechtfertigt hat, dass militante palästinensische Gruppierungen sich in den medizinischen Einrichtungen aufhalten würden.


Kanadische und britische Gesundheitsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter haben ebenfalls offene Briefe an ihre Regierung verfasst, die von ähnlichen Erfahrungen in Gaza berichten und die ebenfalls ihre Regierungen dazu aufrufen, sofort ein Waffen-Embargo zu verhängen und sich an Völkerrecht zu halten.


Den drei Briefen gemeinsam ist auch, dass alle UnterzeichnerInnen davon ausgehen, dass die Todeszahlen in Gaza weitaus höher sind als bisher angenommen.


Alle Briefe sind (in englischer Sprache) hier abrufbar.


Im Folgenden finden Sie eine Übersetzung des Briefes der 99 amerikanischen Gesundheitsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter:

 

 

 

 

Brief an Präsident Biden und Vizepräsident Harris

 

OFFENER BRIEF AMERIKANISCHER MEDIZINISCHER FACHKRÄFTE, DIE IN GAZA GEDIENT HABEN

 

 

2. Oktober 2024

 

(Original in englischer Sprache; siehe auch pdf-Datei)

 

 

Sehr geehrter Herr Präsident Biden und Frau Vizepräsidentin Harris,

 

Wir sind 99 amerikanische ÄrztInnen, ChirurgInnen, Krankenschwestern, Krankenpfleger und Hebammen, die seit dem 7. Oktober 2023 als Freiwillige im Gaza-Streifen tätig waren. Zusammen verbrachten wir 254 Wochen als Freiwillige in den Krankenhäusern und Kliniken des Gazastreifens. Wir arbeiteten mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen und der Weltgesundheitsorganisation in Krankenhäusern und Kliniken im gesamten Gazastreifen. Zusätzlich zu unseren medizinischen und chirurgischen Fachkenntnissen haben viele von uns einen Hintergrund im Bereich der öffentlichen Gesundheit sowie Erfahrungen in humanitären Katastrophen- und Konfliktgebieten, einschließlich der Ukraine während der brutalen russischen Invasion. Einige von uns sind VeteranInnen und ReservistInnen. Wir sind eine multireligiöse und multiethnische Gruppe. Keiner von uns unterstützt die Gräueltaten, die am 7. Oktober von bewaffneten palästinensischen Gruppen und Einzelpersonen in Israel begangen wurden.

 

In der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation heißt es: „Die Gesundheit aller Völker ist von grundlegender Bedeutung für die Verwirklichung von Frieden und Sicherheit und hängt von der uneingeschränkten Zusammenarbeit von Einzelpersonen und Staaten ab.“ In diesem Sinne wenden wir uns mit diesem offenen Brief an Sie.

 

Wir gehören zu den einzigen neutralen BeobachterInnen, die seit dem 7. Oktober in den Gaza-Streifen einreisen durften. Aufgrund unseres umfassenden Fachwissens und unserer unmittelbaren Erfahrung mit der Arbeit im Gazastreifen sind wir in der einzigartigen Position, um uns zu mehreren Fragen zu äußern, die für unsere Regierung von Bedeutung sind, wenn sie entscheidet, ob sie Israels Angriff auf den Gazastreifen und dessen Belagerung weiterhin unterstützen will. Insbesondere sind wir der Meinung, dass wir dazu in der Lage sind, um uns zu den massiven menschlichen Opfern des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen zu äußern, besonders zu den Frauen und Kindern unter den Opfern.

 

In diesem Schreiben haben wir unsere eigenen Erfahrungen und direkten Beobachtungen in Gaza gesammelt und zusammengefasst. Dem Brief ist ein ausführlicher Anhang beigefügt, in dem die öffentlich zugänglichen Informationen aus Medien, humanitären und akademischen Quellen zu den wichtigsten Aspekten der israelischen Invasion in Gaza zusammengefasst sind. Sowohl dieser Brief als auch der Anhang sind elektronisch verfügbar unter www.GazaHealthcareLetters.org. Auf dieser Website finden sich auch Briefe kanadischer und britischer MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens an ihre jeweiligen Regierungen, in denen viele ähnliche Beobachtungen gemacht werden wie in diesem vorliegenden Brief.

 

Dieser Brief und der Anhang belegen, dass die Zahl der Todesopfer in Gaza seit Oktober weitaus höher ist, als in den Vereinigten Staaten angenommen wird. Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der Todesopfer dieses Konflikts bereits über 118 908 liegt, was erschütternde 5,4 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens ausmacht.

 

Unsere Regierung muss sofort handeln, um eine noch schlimmere Katastrophe zu verhindern, als die, die bereits über die Menschen in Gaza und Israel hereingebrochen ist. Den Kriegsparteien muss ein Waffenstillstand aufgezwungen werden, indem die militärische Unterstützung Israels eingestellt und ein internationales Waffenembargo gegen Israel und alle bewaffneten palästinensischen Gruppen unterstützt wird. Wir glauben, dass unsere Regierung dazu verpflichtet ist, sowohl nach amerikanischem Recht als auch nach dem humanitären Völkerrecht. Wir sind überzeugt davon, dass es das Richtige ist, dies zu tun.

 

 

Ich habe noch nie so schreckliche Verletzungen gesehen, in so großem Ausmaß und mit so wenigen Hilfsmitteln. Unsere Bomben töten Frauen und Kinder zu Tausenden. Ihre verstümmelten Körper sind ein Monument der Grausamkeit.

Dr. Feroze Sidhwa, Chirurg für Traumatologie und Intensivmedizin, Allgemeinchirurg für Veteranenangelegenheiten

 

 

Bis auf wenige Ausnahmen ist jeder in Gaza krank, verletzt oder beides. Das gilt für jeden nationalen Entwicklungshelfer, jeden internationalen Freiwilligen und wahrscheinlich auch für jede israelische Geisel: jeden Mann, jede Frau und jedes Kind. Während unserer Arbeit in Gaza sahen wir eine weit verbreitete Unterernährung bei unseren PatientInnen und unseren palästinensischen KollegInnen im Gesundheitswesen. Jeder von uns hat in Gaza schnell an Gewicht verloren, obwohl wir privilegierten Zugang zu Nahrungsmitteln hatten und unsere eigene nährstoffreiche Zusatznahrung mitgenommen haben. Wir haben fotografische Beweise für die lebensbedrohliche Unterernährung unserer PatientInnen, insbesondere der Kinder, die wir gerne mit Ihnen teilen möchten.

 

Praktisch jedes Kind unter fünf Jahren, das wir sowohl innerhalb als auch außerhalb des Krankenhauses angetroffen haben, hatte sowohl Husten als auch wässrigen Durchfall. Wir fanden Fälle von Gelbsucht (die unter solchen Bedingungen auf eine Hepatitis-A-Infektion hinweist) in fast jedem Zimmer der Krankenhäuser, in denen wir tätig waren, und bei vielen unserer KollegInnen im Gesundheitswesen in Gaza. Ein erstaunlich hoher Prozentsatz unserer chirurgischen Schnitte wurde durch die Kombination von Unterernährung, unmöglichen Operationsbedingungen, Mangel an grundlegenden sanitären Einrichtungen wie Seife und Mangel an chirurgischem Material und Medikamenten, einschließlich Antibiotika, infiziert.

 

Die Unterernährung führte zu zahlreichen Spontanaborten, untergewichtigen Neugeborenen und der Unfähigkeit der Mütter zu stillen. Für die Neugeborenen besteht daher ein hohes Sterberisiko, da es im gesamten Gazastreifen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser gab. Viele dieser Säuglinge starben. In Gaza konnten wir beobachten, wie unterernährte Mütter ihre untergewichtigen Neugeborenen mit Säuglingsnahrung fütterten, die mit giftigem Wasser hergestellt wurde. Wir werden nie vergessen, dass die Welt diese unschuldigen Frauen und Babys im Stich gelassen hat.

 

 

Jeden Tag sah ich Babys sterben. Sie waren gesund geboren worden. Ihre Mütter waren so unterernährt, dass sie nicht stillen konnten, und wir hatten weder Säuglingsnahrung noch sauberes Wasser, um sie zu füttern, sodass sie verhungerten.

Asma Taha, praktizierende Kinderkrankenschwester

 

 

Wir bitten Sie, sich bewusst zu machen, dass im Gazastreifen Epidemien wüten. Israels fortgesetzte, wiederholte Vertreibung der unterernährten und kranken Bevölkerung des Gazastreifens, von denen die Hälfte Kinder sind, in Gebiete ohne fließendes Wasser oder gar Toiletten, ist absolut schockierend. Die Folge war und ist garantiert, dass viele Menschen an viralen und bakteriellen Durchfallerkrankungen und Lungenentzündungen sterben, insbesondere Kinder unter fünf Jahren. Sogar das gefürchtete Polio-Virus ist im Gazastreifen wieder aufgetaucht, und zwar aufgrund der systematischen Zerstörung der sanitären Infrastruktur, der weit verbreiteten Unterernährung, die das Immunsystem schwächt, und der Tatsache, dass kleine Kinder fast ein ganzes Jahr lang keine Routineimpfungen erhalten haben. Wir befürchten, dass Tausende von Unbekannten bereits an der tödlichen Kombination aus Unterernährung und Krankheit gestorben sind und dass in den kommenden Monaten, insbesondere mit dem Einsetzen des Winterregens in Gaza, Zehntausende weitere Menschen sterben werden. Die meisten von ihnen werden kleine Kinder sein.

 

 

In Gaza war es das erste Mal, dass ich das Gehirn eines Babys in der Hand hielt. Es war das erste von vielen.

Dr. Mark Perlmutter, Orthopäde und Handchirurg

 

 

Kinder gelten in bewaffneten Konflikten gemeinhin als unschuldig. Jeder einzelne Unterzeichner dieses Briefes hat jedoch Kinder im Gazastreifen gesehen, die Gewalt erlitten haben, die absichtlich gegen sie gerichtet war. Jeder von uns, der in der Notaufnahme, auf der Intensivstation oder in der Chirurgie gearbeitet hat, hat regelmäßig oder sogar täglich Kinder im Vorschulalter behandelt, denen in den Kopf oder in die Brust geschossen worden war. Es ist unmöglich, dass ein derart weit verbreitetes Erschießen kleiner Kinder im gesamten Gazastreifen, das sich über ein ganzes Jahr hinzieht, zufällig ist oder den höchsten israelischen Zivil- und Militärbehörden nicht bekannt ist.

 

Präsident Biden und Vizepräsident Harris, wir wünschten, Sie könnten die Albträume sehen, die so viele von uns seit unserer Rückkehr plagen: Träume von Kindern, die von unseren Waffen zerfetzt und verstümmelt wurden, und von ihren untröstlichen Müttern, die uns anflehen, sie zu retten. Wir wünschten, Sie könnten die Schreie und das Weinen hören, die unser Gewissen uns nicht vergessen lässt. Wir können nicht begreifen, warum Sie weiterhin das Land bewaffnen, das diese Kinder absichtlich massenhaft tötet.

 

 

Ich habe so viele Totgeburten und Todesfälle von Müttern gesehen, die leicht hätten verhindert werden können, wenn die Krankenhäuser normal funktioniert hätten.

Dr. Thalia Pachiyannakis, Geburtshelferin und Gynäkologin

 

 

Die schwangeren und stillenden Frauen, die wir behandelten, waren besonders mangelhaft ernährt. Diejenigen von uns, die mit schwangeren Frauen arbeiteten, sahen regelmäßig Totgeburten und Todesfälle bei Müttern, die in jedem Gesundheitssystem eines Entwicklungslandes leicht vermeidbar gewesen wären. Die Infektionsrate bei Kaiserschnittentbindungen war erstaunlich hoch. Frauen wurden vaginal entbunden und sogar Kaiserschnitte ohne Anästhesie durchgeführt und bekamen danach nur Tylenol [Paracetamol, Anm.], weil keine anderen Schmerzmittel zur Verfügung standen.

 

Wir alle beobachteten, dass die Notaufnahmen von PatientInnen, die wegen chronischer Erkrankungen wie Nierenversagen, Bluthochdruck und Diabetes behandelt werden mussten, überfüllt waren. Abgesehen von Traumapatienten waren die meisten Betten auf der Intensivstation mit Patienten mit Typ-1-Diabetes belegt, die keinen Zugang mehr zu Insulin hatten. Die fehlende Verfügbarkeit von Medikamenten, der weit verbreitete Ausfall von Strom und Kühlung sowie der unzureichende Zugang zu Nahrungsmitteln machten die Behandlung dieser Krankheit unmöglich. Israel hat mehr als die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen zerstört und fast tausend palästinensische MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens getötet, d. h. mehr als eineN von 20 MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen in Gaza. Gleichzeitig ist der Bedarf an medizinischer Versorgung aufgrund der tödlichen Kombination aus militärischer Gewalt, Unterernährung, Krankheit und Vertreibung massiv gestiegen.

 

Den Krankenhäusern, in denen wir arbeiteten, fehlte es an jeglicher Grundversorgung, von chirurgischem Material bis hin zu Seife. Sie waren regelmäßig von der Stromversorgung und dem Internetzugang abgeschnitten, hatten kein sauberes Wasser und arbeiteten mit der vier- bis siebenfachen Bettenkapazität. Alle Krankenhäuser waren mit den Vertriebenen, die sich in Sicherheit bringen wollten, dem ständigen Strom kranker und unterernährter PatientInnen, die versorgt werden mussten, und dem enormen Zustrom schwer verletzter PatientInnen, die typischerweise bei großen Opferzahlen eintrafen, bis zum Äußersten gefordert.

 

Diese Beobachtungen und das öffentlich zugängliche Material im Anhang führen zu der Annahme, dass die Zahl der Todesopfer in diesem Konflikt um ein Vielfaches höher ist als vom Gesundheitsministerium für den Gazastreifen angegeben. Wir glauben auch, dass dies ein Beweis für vielfache Verstöße gegen die amerikanischen Gesetze, die den Einsatz amerikanischer Waffen im Ausland regeln, und gegen das humanitäre Völkerrecht ist. Wir können die Szenen unerträglicher Grausamkeiten gegen Frauen und Kinder, an denen unsere Regierung direkt beteiligt ist, nicht vergessen.

 

Als wir unsere KollegInnen aus dem Gesundheitswesen in Gaza trafen, war klar, dass sie unterernährt und sowohl körperlich als auch psychisch am Boden zerstört waren. Uns wurde schnell klar, dass unsere palästinensischen KollegInnen aus dem Gesundheitswesen zu den am stärksten traumatisierten Menschen in Gaza, vielleicht sogar in der ganzen Welt, gehörten. Wie praktisch alle Menschen in Gaza hatten sie Familienmitglieder und ihr Zuhause verloren. Die meisten von ihnen lebten in und um ihre Krankenhäuser mit ihren überlebenden Angehörigen unter unvorstellbaren Bedingungen. Obwohl sie weiterhin nach einem zermürbenden Zeitplan arbeiteten, waren sie seit dem 7. Oktober nicht mehr bezahlt worden. Alle waren sich bewusst, dass ihre Arbeit als GesundheitsmitarbeiterInnen sie zur Zielscheibe Israels gemacht hatte. Dies ist eine Verhöhnung des Schutzstatus, den Krankenhäuser und GesundheitsmitarbeiterInnen nach den ältesten und am meisten akzeptierten Bestimmungen des humanitären Völkerrechts genießen sollten.

 

Wir trafen in Gaza medizinisches Personal, das in Krankenhäusern arbeitete, die von Israel überfallen und zerstört worden waren. Viele dieser Kollegen wurden während der Angriffe von Israel entführt. Sie alle erzählten uns eine etwas andere Version derselben Geschichte: In der Gefangenschaft wurden sie kaum ernährt, ständig physisch und psychisch misshandelt und schließlich nackt am Straßenrand ausgesetzt. Viele erzählten uns, dass sie Scheinhinrichtungen und anderen Formen der Misshandlung und Folter ausgesetzt waren. Viel zu viele unserer KollegInnen aus dem Gesundheitswesen erzählten uns, dass sie einfach nur auf den Tod warteten.

 

Die 99 UnterzeichnerInnen dieses Schreibens haben zusammen 254 Wochen in den größten Krankenhäusern und Kliniken des Gazastreifens verbracht. Wir möchten ganz klar sagen: Nicht ein einziges Mal hat einer von uns irgendeine Art von militanten palästinensischen Aktivitäten in einem der Krankenhäuser oder anderen Gesundheitseinrichtungen in Gaza gesehen.

 

Wir fordern Sie auf, zu erkennen, dass Israel systematisch und absichtlich das gesamte Gesundheitssystem des Gazastreifens zerstört hat und dass Israel unsere Kollegen in Gaza gefoltert, verschwinden lassen und ermordet hat.

 

Präsident Biden und Vizepräsident Harris, jede Lösung für dieses Problem muss mit einem sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand beginnen. Wir wissen es zu schätzen, dass Sie an einem Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hamas arbeiten, aber Sie haben eine offensichtliche Tatsache übersehen: Die Vereinigten Staaten können den Kriegsparteien einen Waffenstillstand aufzwingen, indem sie einfach die Waffenlieferungen an Israel stoppen und ankündigen, dass wir uns an einem internationalen Waffenembargo sowohl gegen Israel als auch gegen alle bewaffneten palästinensischen Gruppen beteiligen werden. Wir betonen, was viele andere Ihnen im vergangenen Jahr wiederholt gesagt haben: Das amerikanische Recht ist in dieser Angelegenheit völlig eindeutig: Israel weiterhin zu bewaffnen ist rechtswidrig.

 

Präsident Biden und Vizepräsident Harris, wir fordern Sie auf, dem Staat Israel unverzüglich die militärische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung zu verweigern und sich an einem internationalen Waffenembargo gegen Israel und alle bewaffneten palästinensischen Gruppen zu beteiligen, bis ein dauerhafter Waffenstillstand im Gazastreifen erreicht ist, einschließlich der Freilassung aller israelischen und palästinensischen Geiseln, und bis eine dauerhafte Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zwischen den beiden Parteien ausgehandelt ist. Vizepräsidentin Harris, als wahrscheinliche nächste Präsidentin der Vereinigten Staaten fordern wir Sie auf, öffentlich Ihre Unterstützung für eine solche Politik zu bekunden und öffentlich zu erklären, dass es Ihre Pflicht ist, die Gesetze der Vereinigten Staaten einzuhalten, auch wenn dies politisch unbequem ist.

 

Herr Präsident Biden und Frau Vizepräsidentin Harris, wir sind 99 amerikanische ÄrztInnen, Krankenschwestern, KrankenpflegerInnen und Hebammen, die ZeugInnen von unfassbaren Verbrechen geworden sind. Verbrechen, von denen wir nicht glauben können, dass Sie sie weiterhin unterstützen wollen. Bitte treffen Sie sich mit uns, um zu besprechen, was wir gesehen haben und warum wir der Meinung sind, dass die amerikanische Politik im Nahen Osten sofort geändert werden muss.

 

In der Zwischenzeit wiederholen wir, was wir in unserem Brief vom 25. Juli 2024 geschrieben haben:

 

  1. Der Rafah-Übergang zwischen dem Gazastreifen und Ägypten muss sofort wieder geöffnet werden und ungehinderte Hilfslieferungen durch anerkannte internationale humanitäre Organisationen ermöglichen. Die Sicherheitskontrollen der Hilfslieferungen müssen von einem unabhängigen internationalen Inspektionssystem und nicht von israelischen Streitkräften durchgeführt werden. Diese Kontrollen müssen auf einer klaren, eindeutigen und veröffentlichten Liste verbotener Gegenstände beruhen, und es muss ein klarer, unabhängiger internationaler Mechanismus zur Anfechtung verbotener Gegenstände bestehen, der vom UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in den besetzten palästinensischen Gebieten überprüft wird.

 

  1. Der Bevölkerung des Gazastreifens muss eine Mindestmenge von 15 Litern Trinkwasser pro Person und Tag zur Verfügung gestellt werden, wie im sogenannten Sphere-Handbuch für humanitäre Notfälle festgelegt und von UN Water überprüft.

 

  1. Der uneingeschränkte Zugang von medizinischem und chirurgischem Personal sowie von medizinischer und chirurgischer Ausrüstung zum Gazastreifen muss wiederhergestellt werden. Dies gilt auch für die im persönlichen Gepäck des medizinischen Personals mitgeführten Gegenstände, um deren ordnungsgemäße Lagerung, Sterilität und rechtzeitige Lieferung zu gewährleisten, wie von der Weltgesundheitsorganisation bestätigt. Unglaublich ist, dass Israel weiterhin medizinisches Personal palästinensischer Abstammung daran hindert, im Gazastreifen zu arbeiten, selbst amerikanische StaatsbürgerInnen. Dies ist eine Verhöhnung des amerikanischen Ideals, dass „alle Menschen gleich sind“ und entwürdigt sowohl unsere nationalen Ideale als auch unseren Beruf. Unsere Arbeit ist lebensrettend. Unsere palästinensischen KollegInnen im Gesundheitswesen in Gaza brauchen dringend Hilfe und Schutz, und sie haben beides verdient.

 

 

Wir sind keine PolitikerInnen. Wir erheben nicht den Anspruch, alle Antworten zu haben. Wir sind einfach medizinische ExpertInnen, die zu dem, was wir in Gaza gesehen haben, nicht schweigen können. Jeder Tag, an dem wir weiterhin Waffen und Munition an Israel liefern, ist ein weiterer Tag, an dem Frauen durch unsere Bomben zerfetzt und Kinder durch unsere Kugeln ermordet werden.

 

Präsident Biden und Vizepräsident Harris, wir bitten Sie dringend: Beenden Sie diesen Wahnsinn jetzt!






1 Comment


johanna
Oct 24

Ich habe mehr als Respekt, vielleicht "Höchstachtung" für diesen Mediziner:innen, die dieses Leid nicht nur mitansehen mussten, sondern in dieser verzweifelten Situation noch fähig sind, Arbeit zu leisten.

Es ist absolut unmenschlich, was in Gaza und jetzt beginnend auch im Libanon geschieht. Diese Massaker noch mit Waffen zu befeuern ist nicht nur unverantwortlich, sondern bereits gewalt-kriminell.

Ja - stoppen Sie sofort endlich alle Waffenlieferungen. Ich würde weitergehen und ein Embargo androhen, wenn Israel nicht aufhört, die Region dem Erdboden gleich zu machen.

Waffenstillstand sofort! Humanitäre Hilfen und UN-Truppen in die Region anstelle des israelischen Militärs. Rückzug von Hisbollah und Entwaffnung der Hamas - aber mit einer glaubhaften Perspektive für die Palästinenser:innen!


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