„Ich habe noch nie so schreckliche Verletzungen gesehen, in einem solchen Ausmaß und mit so wenigen Hilfsmitteln. Unsere Bomben töten Frauen und Kinder zu Tausenden. Ihre verstümmelten Körper sind ein Monument der Grausamkeit.“
Dr. Feroze Sidhwa, Chirurg für Traumatologie und Intensivmedizin
„Ich habe so viele Totgeburten und Todesfälle von Müttern gesehen, die leicht hätten verhindert werden können, wenn die Krankenhäuser normal funktioniert hätten.“
Dr. Thalia Pachiyannakis, Geburtshelferin und Gynäkologin
„Jeden Tag sah ich Babys sterben. Sie waren gesund geboren worden. Ihre Mütter waren so mangelernährt, dass sie nicht stillen konnten, und wir hatten weder Muttermilch noch sauberes Wasser, um sie zu füttern, so dass sie verhungerten.“
Asma Taha, praktizierende Kinderkrankenschwester
„In Gaza hielt ich zum ersten Mal das Gehirn eines Babys in meiner Hand. Das erste von vielen.“
Dr. Mark Perlmutter, Orthopäde und Handchirurg
Sehr geehrter Präsident Joseph R. Biden, Vizepräsidentin Kamala Harris und Dr. Jill Biden,
wir sind fünfundvierzig amerikanische Ärzte, Chirurgen und Krankenschwestern, die sich seit dem 7. Oktober 2023 freiwillig in den Gazastreifen begeben haben.
Wir arbeiteten mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen und der Weltgesundheitsorganisation in Krankenhäusern im gesamten Gazastreifen. Neben unserem medizinischen und chirurgischen Fachwissen haben viele von uns einen Hintergrund im Bereich der öffentlichen Gesundheit sowie Erfahrung in Konfliktzonen und Krisengebieten, einschließlich der Ukraine während der brutalen russischen Invasion. Einige von uns sind Veteranen der Streitkräfte der Vereinigten Staaten.
Wir sind eine multireligiöse und multiethnische Gruppe. Keiner von uns unterstützt die Gräueltaten, die am 7. Oktober von bewaffneten palästinensischen Gruppen und Einzelpersonen in Israel begangen wurden.
In der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation heißt es: „Die Gesundheit aller Völker ist von grundlegender Bedeutung für die Verwirklichung von Frieden und Sicherheit und hängt von der uneingeschränkten Zusammenarbeit von Einzelpersonen und Staaten ab.“ In diesem Sinne wenden wir uns an Sie.
Wir gehören zu den einzigen neutralen BeobachterInnen, die seit Oktober in den Gaza-Streifen einreisen dürfen. Aufgrund unseres umfassenden Fachwissens und unserer unmittelbaren Erfahrung mit der Arbeit im Gazastreifen sind wir in der Position, um uns zu verschiedenen Fragen zu äußern, die für unsere Regierung von Bedeutung sind, wenn sie entscheidet, ob sie den Angriff Israels auf den Gazastreifen und dessen Belagerung weiterhin unterstützt.
Insbesondere glauben wir, dass wir in der Lage sind, zu den massiven menschlichen Opfern der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen Stellung zu nehmen, insbesondere zu den Frauen und Kindern unter den Opfern.
Dieser Brief fasst unsere eigenen Erfahrungen und direkten Beobachtungen in Gaza zusammen. Wir haben auch ein ausführlicheres Dossier erstellt, das die öffentlich zugänglichen Informationen aus Medien, humanitären und akademischen Quellen zu den wichtigsten Aspekten der israelischen Invasion in Gaza zusammenfasst. Das Dossier ist als PDF-Datei verfügbar unter https://tinyurl.com/gazadoctorsletterappendix. Dieser Brief kann elektronisch als PDF-Datei abgerufen werden unter https://tinyurl.com/gazadoctorsletter.
Dieses Schreiben und das Dossier enthalten Beweise dafür, dass der Blutzoll im Gazastreifen weitaus höher ist, als in den als in den Vereinigten Staaten angenommen wird. Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der Todesopfer in diesem Konflikt bereits über mehr als 92.000 beträgt, das sind unglaubliche 4,2 % der Bevölkerung von Gaza. Unsere Regierung muss sofort handeln, um eine noch schlimmere Katastrophe zu verhindern, als jene, die bereits über die Menschen in Gaza und Israel hereingebrochen ist. Ein Waffenstillstand muss sowohl Israel als auch den bewaffneten palästinensischen Gruppen auferlegt werden, indem die militärische Unterstützung für Israel endet und ein internationales Waffenembargo gegen Israel und alle palästinensischen bewaffneten Gruppen durchgeführt wird. Wir sind überzeugt davon, dass unsere Regierung dazu verpflichtet ist, dies zu tun, sowohl nach amerikanischem Recht als auch nach humanitärem Völkerrecht, und es das einzig Richtige ist.
Mit nur ganz wenigen Ausnahmen ist jeder in Gaza krank, verletzt oder beides. Dies schließt jeden lokalen humanitären Helfer, jeden internationalen Freiwilligen und wahrscheinlich jede israelische Geisel; jeden Mann, jede Frau und jedes Kind mit ein.
Während unserer Arbeit in Gaza sahen wir eine weit verbreitete Unterernährung bei unseren PatientInnen und unseren palästinensischen KollegInnen im Gesundheitswesen. Jeder von uns verlor in Gaza schnell an Gewicht, obwohl wir privilegierten Zugang zu Nahrungsmitteln hatten und unsere eigene nährstoffreiche Zusatznahrung mitgenommen hatten. Wir haben Fotobeweise für lebensbedrohliche Unterernährung bei unseren PatientInnen, insbesondere bei Kindern, die wir jederzeit mit Ihnen teilen können.
Praktisch jedes Kind unter fünf Jahren, das wir innerhalb oder außerhalb des Krankenhauses trafen, hatte sowohl Husten als auch wässrigen Durchfall. Wir fanden Fälle von Gelbsucht (die unter diesen Bedingungen auf eine Hepatitis-A-Infektion hinweisen) in praktisch jedem Raum der Krankenhäuser, in denen wir arbeiteten, und bei vielen unserer KollegInnen im Gesundheitswesen in Gaza. Ein erschütternd hoher Prozentsatz unserer chirurgischen Eingriffe infizierte sich aufgrund der Kombination aus Unterernährung, unmöglichen Operationsbedingungen und einem Mangel an Vorräten und Medikamenten, einschließlich Antibiotika. Die schwangeren Frauen, die wir behandelten, brachten oftmals untergewichtige Kinder zur Welt, die aufgrund von Unterernährung nicht gestillt werden konnten. Dadurch sind die Neugeborenen einem hohen Sterberisiko ausgesetzt, da es im gesamten Gazastreifen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser gibt. Viele dieser Säuglinge starben.
In Gaza sahen wir, wie unterernährte Mütter ihre untergewichtigen Neugeborenen mit Säuglingsnahrung fütterten, die mit verseuchtem Wasser angerührt wurde. Wir werden nie vergessen, dass die Welt diese unschuldigen Frauen und Babys im Stich gelassen hat.
Wir bitten Sie, sich darüber bewusst zu werden, dass im Gazastreifen Epidemien wüten. Israels fortgesetzte, wiederholte Vertreibung der unterernährten und kranken Bevölkerung des Gazastreifens, von denen die Hälfte Kinder sind, in Gebiete ohne fließendes Wasser und sogar ohne Toiletten ist absolut schockierend. Es ist so gut wie sicher, dass dies zu einem weit verbreiteten Tod durch virale und bakterielle Durchfallerkrankungen und Lungenentzündungen führen wird, insbesondere bei Kindern unter fünf Jahren. Wir befürchten, dass bereits Tausende von Menschen an der tödlichen Kombination aus Unterernährung und Krankheit gestorben sind und dass in den kommenden Monaten weitere Zehntausende sterben werden. Die meisten von ihnen werden kleine Kinder sein.
Kinder gelten in bewaffneten Konflikten gemeinhin als unschuldig. Jeder einzelne Unterzeichner dieses Schreibens hat jedoch Kinder im Gazastreifen behandelt, die Opfer von Gewalt wurden, die wohl absichtlich gegen sie gerichtet war. Insbesondere hat jeder von uns täglich Kinder im Vorschulalter behandelt, denen in den Kopf und in die Brust geschossen wurde. Herr Präsident und Frau Dr. Biden, wir wünschten, Sie könnten die Albträume sehen, die so viele von uns seit unserer Rückkehr heimsuchen: Träume von Kindern, die von unseren Waffen verstümmelt wurden und verstümmelt werden, und von ihren untröstlichen Müttern, die uns anflehen, sie zu retten. Wir wünschten, Sie könnten die Schreie und das Weinen hören, die uns unser Gewissen nicht vergessen lässt. Wir können nicht glauben, dass irgendjemand weiterhin jenes Land bewaffnet, das diese Kinder vorsätzlich tötet, nachdem wir gesehen haben, was wir gesehen haben.
Schwangere Frauen, die wir behandelten, waren besonders unterernährt. Diejenigen von uns, die mit schwangeren Frauen arbeiteten, sahen regelmäßig Totgeburten und Todesfälle bei Müttern, die in jedem Gesundheitssystem der Dritten Welt leicht zu verhindern gewesen wären. Die Infektionsrate bei Kaiserschnittentbindungen war erschreckend. Frauen mussten sich einem Kaiserschnitt ohne Anästhesie unterziehen und bekamen danach nur Tylenol, weil keine anderen Schmerzmittel zur Verfügung standen.
Wir alle beobachteten, dass die Notaufnahmen von PatientInnen überfüllt waren, die wegen chronischer Erkrankungen wie Nierenversagen, Bluthochdruck und Diabetes behandelt werden hätten müssen. Abgesehen von TraumapatientInnen waren die meisten Betten auf der Intensivstation mit Typ-1-Diabetikern belegt, die aufgrund des Mangels an Medikamenten und des weit verbreiteten Verlusts von Strom und Kühlung keinen Zugang mehr zu injiziertem Insulin hatten.
Israel hat mehr als die Hälfte der Gesundheitsversorgung im Gazastreifen zerstört und eineN von 40 MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens in Gaza getötet. Gleichzeitig ist der Bedarf an medizinischer Versorgung aufgrund der tödlichen Kombination aus militärischer Gewalt, Unterernährung und Krankheiten massiv gestiegen. In den Krankenhäusern, in denen wir arbeiteten, fehlte es an grundlegenden Versorgungsgütern, von chirurgischem Material bis hin zu Seife. Sie waren regelmäßig von der Stromversorgung und dem Internetzugang abgeschnitten, hatten kein sauberes Wasser und arbeiteten mit dem Vier- bis Siebenfachen ihrer Bettenkapazität. Jedes Krankenhaus war überfordert mit den Vertriebenen, die Sicherheit suchten, mit dem ständigen Strom von PatientInnen, deren Behandlung chronischer Erkrankungen durch den Krieg unterbrochen worden war, mit dem enormen Zustrom schwer verwundeter Patienten, die in der Regel bei Massenverletzungen eintrafen, und mit den Kranken und Unterernährten, die medizinische Versorgung suchten.
Diese Beobachtungen und das öffentlich zugängliche Informationsmaterial im Anhang führen uns zu der Überzeugung, dass die Zahl der Todesopfer in diesem Konflikt um ein Vielfaches höher ist als vom Gesundheitsministerium in Gaza angegeben. Wir sind auch davon überzeugt, dass dies eindeutige Beweise für weit reichende Verstöße gegen jene amerikanischen Gesetze, die den Einsatz amerikanischer Waffen im Ausland regeln, und gegen das humanitäre Völkerrecht sind. Wir können die Szenen unerträglicher Grausamkeit gegenüber Frauen und Kindern, die wir selbst miterlebt haben, nicht vergessen.
Als wir unsere KollegInnen aus dem Gesundheitswesen in Gaza trafen, war klar, dass sie unterernährt und sowohl körperlich als auch seelisch am Boden zerstört sind. Wir merkten schnell, dass unsere palästinensischen KollegInnen aus dem Gesundheitswesen zu den am stärksten traumatisierten Menschen im Gazastreifen, vielleicht sogar in der ganzen Welt, gehörten. Wie praktisch alle Menschen in Gaza hatten sie Familienmitglieder und ihr Zuhause verloren. Die meisten von ihnen lebten in oder um die Krankenhäuser mit ihren überlebenden Familienmitgliedern unter unvorstellbaren Bedingungen. Obwohl sie weiterhin nach einem zermürbenden Zeitplan arbeiteten, waren sie seit dem 7. Oktober nicht mehr bezahlt worden. Allen war bewusst, dass sie ihre Arbeit als GesundheitsdienstleisterInnen zur Zielscheibe Israels gemacht hatte. Dies ist eine Verhöhnung des Schutzstatus‘, der für Krankenhäuser und GesundheitsdienstleisterInnen nach den ältesten und am meisten akzeptierten Bestimmungen des humanitären Völkerrechts gilt.
Wir trafen in Gaza medizinisches Personal, das in Krankenhäusern arbeitete, die von Israel überfallen und zerstört worden waren. Viele dieser KollegInnen wurden während der Angriffe von Israel gefangen genommen. Sie alle erzählten uns leicht unterschiedliche Versionen ein- und derselben Geschichte: In der Gefangenschaft wurden sie kaum ernährt, ständig physisch und psychisch misshandelt und schließlich nackt am Straßenrand ausgesetzt. Viele erzählten uns, dass sie Scheinhinrichtungen und anderen Formen der Misshandlung und Folter ausgesetzt waren. Viel zu viele unserer KollegInnen aus dem Gesundheitswesen sagten uns, dass sie einfach auf den Tod warteten.
Wir fordern Sie auf, sich klarzumachen, dass Israel das gesamte Gesundheitssystem des Gazastreifens direkt ins Visier genommen und vorsätzlich zerstört hat, und dass Israel unsere KollegInnen im Gazastreifen zum Tode verurteilt, verschwinden lässt und foltert. Diese skrupellosen Handlungen stehen im völligen Widerspruch zum amerikanischen Recht, zu den amerikanischen Werten und zum humanitären Völkerrecht.
Dr. Biden, Sie haben Ihr ganzes Leben lang mit jungen Menschen gearbeitet. Wir hoffen und beten, dass Sie nicht wegsehen werden von den unsäglichen Schrecken, denen die Jugend von Gaza heute ausgesetzt ist, Schrecken, die nur wir als AmerikanerInnen beenden können. Wir hoffen aufrichtig, dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun werden, um das, was ihnen angetan wird, zu beenden.
Präsident Biden und Vizepräsident Harris, jede Lösung dieses Problems muss mit einem sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand beginnen. Wir fordern Sie auf, dem Staat Israel die militärische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung zu verweigern und sich an einem internationalen Waffenembargo sowohl gegen Israel als auch gegen alle bewaffneten palästinensischen Gruppen zu beteiligen, bis ein dauerhafter Waffenstillstand erreicht ist und bis Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern zu einer dauerhaften Lösung des Konflikts führen.
In der Zwischenzeit:
müssen alle Landübergänge zwischen Gaza und Israel sowie der Rafah-Übergang für ungehinderte Hilfslieferungen durch anerkannte internationale humanitäre Organisationen geöffnet werden. Die Sicherheitskontrollen von Hilfslieferungen müssen durch ein unabhängiges internationales Inspektionssystem und nicht durch israelische Streitkräfte durchgeführt werden. Diese Kontrollen müssen auf einer klaren, eindeutigen und veröffentlichten Liste verbotener Gegenstände beruhen, und es muss ein klarer, unabhängiger internationaler Mechanismus zur Anfechtung verbotener Gegenstände bestehen, der vom UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in den besetzten palästinensischen Gebieten überprüft wird.
Der Bevölkerung des Gazastreifens muss eine Mindestmenge von 20 Litern Trinkwasser pro Person und Tag zur Verfügung gestellt werden, überprüft von UN Water.
Der uneingeschränkte Zugang von medizinischem und chirurgischem Personal sowie von medizinischer und chirurgischer Ausrüstung zum Gazastreifen muss ermöglicht werden. Dies gilt auch für Gegenstände, die im persönlichen Gepäck des medizinischen Personals mitgeführt werden, um deren ordnungsgemäße Lagerung, Sterilität und rechtzeitige Lieferung zu gewährleisten, wie von der Weltgesundheitsorganisation bestätigt.
Unglaublicherweise verbietet Israel derzeit allen ÄrztInnen palästinensischer Abstammung im Gazastreifen zu arbeiten, selbst amerikanischen StaatsbürgerInnen. Dies ist eine Verhöhnung des amerikanischen Ideals, dass „alle Menschen gleich sind“, und entwürdigt unser Land und unseren Beruf.
Unsere Arbeit ist lebensrettend. Unsere palästinensischen KollegInnen im Gesundheitswesen in Gaza brauchen dringend Hilfe und Schutz, sie haben beides bitter nötig.
Wir sind keine PolitikerInnen. Wir erheben nicht den Anspruch, alle Antworten zu haben. Wir sind einfach ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen, die nicht schweigen können zu dem, was wir in Gaza gesehen haben. Jeder Tag, an dem wir weiterhin Waffen und Munition an Israel liefern, ist ein weiterer Tag, an dem Frauen durch unsere Bomben zerfetzt und Kinder durch unsere Kugeln ermordet werden.
Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris, wir fordern Sie auf: Beenden Sie diesen Wahnsinn sofort!
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