Großfamilien, Krankenhauspersonal und Freiwillige kümmern sich um die vielen neu verwaisten Kinder im Gazastreifen, von denen viele verletzt und traumatisiert sind und von den Erinnerungen an ihre Eltern verfolgt werden.
Von Vivian Yee and Bilal Shbair, The New York Times, 22. August 2024
(Originalbeitrag in englischer Sprache und mit dazugehörendem Bildmaterial)
Die Buben wünschen sich sehnlichst, ihre Eltern wiederzusehen. Sie sind überzeugt, dass dies geschehen wird, sobald sie nach Gaza-Stadt zurückkehren können, wo sie aufwuchsen, bevor der Krieg ihr Leben zerstörte.
„Baba und Mama werden dort auf uns warten“, sagen sie zu ihrer Tante Samar, die sich um die vier, Mohammed, Mahmoud, Ahmed und Abdullah Akeila, kümmert. Sie sagen dies, obwohl ihnen mitgeteilt wurde, dass ihre Eltern tot sind, und zwar schon seit Monaten, seit dem Luftangriff, der in der Nähe des Hauses, in dem die Familie Zuflucht gefunden hatte, stattfand.
Außer Ahmed, dem zweitjüngsten von ihnen, der 13 Jahre alt ist, hat keiner von ihnen die Leichen gesehen. Die Brüder verbringen besondere Tag mit Weinen, fast unfähig zu sprechen - der Muttertag war hart, das Zuckerfest auch - und doch haben sie noch Hoffnung. Jeden Abend, wenn das Sonnenuntergangsgebet gesprochen wird, sagt der neunjährige Abdullah, er könne die Stimme seiner Mutter hören.
Ihre Tante, Samar al-Jaja, 31, die mit den Kindern in der Stadt Khan Younis im Gazastreifen in einem Zelt lebt, ist ratlos. „Wenn sie sehen, wie andere Eltern ihre Kinder in den Arm nehmen und mit ihnen reden“, sagt sie, “wie fühlen sie sich dann?“.
Der Krieg in Gaza trennt Kinder von Eltern und Eltern von Kindern, er zerstört die natürliche Ordnung der Dinge und vernichtet die elementare Struktur des Lebens in Gaza. Er produziert so viele Waisen in einem solchen Chaos, dass keine Agentur oder Hilfsorganisation sie zählen können.
Medizinisches Personal berichtet, dass Kinder, die blutüberströmt und allein dorthin gebracht wurden, auf den Gängen der Krankenhäuser umherirren und sich selbst versorgen müssen - „verwundetes Kind, keine überlebende Familie“ [WCNSF, Anm.], wie einige Krankenhäuser sie bezeichnen. In den Neugeborenenstationen sind Babys untergebracht, die niemand abholen kommt.
In Khan Younis ist ein von Freiwilligen geführtes Lager entstanden, in dem mehr als 1.000 Kinder untergebracht sind, die einen oder beide Elternteile verloren haben, darunter auch die Akeilas. Ein Bereich ist den „einzigen Überlebenden“ gewidmet, Kindern, die ihre gesamte Familie verloren haben, mit Ausnahme vielleicht eines Geschwisterkindes. Es gibt eine lange Warteliste.
Inmitten der Bombardierungen und der ständigen Evakuierungen von Zelt zu Zelt und Wohnung zu Krankenhaus und Schutzraum kann niemand sagen, wie viele Kinder ihre Eltern aus den Augen verloren haben, und wie viele sie für immer verloren haben.
Unter Verwendung einer statistischen Methode, die aus der Analyse anderer Kriege stammt, schätzen Experten der Vereinten Nationen, dass mindestens 19.000 Kinder jetzt getrennt von ihren Eltern überleben, sei es bei Verwandten, bei anderen Betreuungspersonen oder allein.
Aber die wahre Zahl ist wahrscheinlich höher. In anderen Kriegen gab es nicht so viele Bombardierungen und so viele Vertreibungen an einem so kleinen und überfüllten Ort mit einem so hohen Anteil an Kindern in der Bevölkerung, so Jonathan Crickx, ein Sprecher des UN-Kinderhilfswerks.
Das israelische Militär behauptet, es treffe Vorsichtsmaßnahmen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung in seinem verheerenden Angriff auf Gaza zu begrenzen, um die Hamas nach dem Angriff der Gruppe auf Israel am 7. Oktober auszurotten, bei dem etwa 1.200 Menschen starben und etwa 250 als Geiseln genommen wurden. Mehr als 100 Gefangene befinden sich noch im Gazastreifen, von denen mindestens 30 tot sein sollen.
Israel wirft der Hamas vor, die Bewohner des Gazastreifens zu gefährden, indem sie in deren Mitte operiert. Die Hamas verteidigt die Nutzung von Zivilkleidung und zivilen Häusern mit der Begründung, ihre Mitglieder hätten keine andere Wahl.
Zehntausende von Menschen sind getötet worden: viele von ihnen Kinder, und viele Eltern. Im April kümmerten sich 41 Prozent der Familien, die die Behörde von Jonathan Crickx in Gaza untersuchte, um Kinder, die nicht ihre eigenen waren.
Einige wenige Kinder wurden als Waisen geboren, nachdem ihre verwundeten Mütter während der Geburt gestorben waren, sagte Dr. Deborah Harrington, eine britische Geburtshelferin, die im Dezember während eines Freiwilligendienstes in Gaza zwei Babys sah, die auf diese Weise geboren wurden.
Weitaus häufiger werden Kinder und Eltern getrennt, wenn die israelischen Streitkräfte die Eltern verhaften oder wenn die Kinder nach einem Luftangriff in dem Durcheinander allein in die Krankenhäuser kommen.
Ärzte berichten, dass sie viele neu verwaiste Kinder behandelt haben, viele von ihnen mit Amputationen.
„Es gab niemanden, der ihnen die Hand hielt, niemanden, der sie während der quälenden Operationen tröstete“, sagte Dr. Irfan Galaria, ein plastischer Chirurg aus Virginia, der im Februar als Freiwilliger in einem Krankenhaus in Gaza arbeitete.
Mitarbeiter von Hilfsorganisationen versuchen, die Eltern, falls sie noch leben, oder Verwandte ausfindig zu machen. Doch die staatlichen Systeme, die helfen könnten, sind zusammengebrochen. Die Kommunikation ist lückenhaft. Evakuierungsbefehle haben die familiären Strukturen auseinandergerissen und die Fragmente in alle Richtungen verschoben.
Viele kleine Kinder sind so traumatisiert, dass sie stumm werden und ihre Namen nicht nennen können, was die Suche nahezu unmöglich macht, so SOS-Kinderdorf, eine Hilfsorganisation, die ein Waisenhaus in Gaza betreibt.
Und dann ist da noch Mennat-Allah Salah, 11, die ständig von ihren Eltern spricht. Im Dezember verwaist, kopiert sie die Art und Weise, wie ihre Mutter lachte, blinzelte, ging. Sie trägt die Turnschuhe und das Lieblings-T-Shirt ihrer Mutter, auch wenn sie zu groß sind.
„Meine Mutter war alles für mich“, sagt sie und dann kommen ihr die Tränen, und sie kann nicht mehr weitersprechen.
Unter den Frühchen, die im November im emiratischen Krankenhaus in der südlichen Stadt Rafah ankamen, war auch ein drei Wochen altes Mädchen, dessen Familie unbekannt war. Ihre Akte besagte, dass sie nach einem Luftangriff, bei dem Dutzende von Menschen getötet worden waren, neben einer Moschee in Gaza-Stadt gefunden wurde, so Amal Abu Khatleh, eine Neugeborenenschwester im Krankenhaus. Das Personal nannte sie „Majhoul“, arabisch für „nicht identifiziert“.
Amal Abu Khatleh war verärgert über die Härte dieses Namens und beschloss, ihr einen richtigen Namen zu geben: Malak, oder „Engel“. Sie rief Journalisten im nördlichen Gazastreifen an, um herauszufinden, welche Familien bei einem Angriff in der Nähe des Fundorts von Malak Mitglieder verloren hatten, und befragte dann PatientInnen mit diesen Nachnamen nach einem vermissten kleinen Mädchen. Ohne Erfolg.
Im Januar nahm Amal Abu Khatleh Malak aus Sorge um ihre Entwicklung mit nach Hause.
Wie in anderen muslimischen Gesellschaften machen religiöse Einschränkungen eine legale Adoption in Gaza unmöglich, obwohl Menschen Waisenkinder aufnehmen und finanziell unterstützen können. Dennoch halfen Familie, FreundInnen und KollegInnen von Amal Abu Khatleh zusammen und spendeten Kleidung, Babynahrung und Windeln.
Solange sie Malaks Eltern nicht gefunden hat, will sie sie trotz der rechtlichen Hürden behalten.
„Ich habe das Gefühl, dass Malak meine echte Tochter ist“, sagte sie. „Ich liebe sie. Meine Freundinnen sagen sogar, dass sie jetzt aussieht wie ich.“
In den meisten Fällen, so Hilfsorganisationen, springen die eng verbundenen Großfamilien in Gaza als Betreuer ein. So war es auch bei den Akeila-Brüdern.
Ihre Tante, Samar al-Jaja, erzählt die Geschichte der Familie: Sie waren zu siebt, der Vater, ein Schneider, die Mutter, die zu Hause blieb, ihre vier Söhne und ihre kleine Tochter Fatima.
Am 23. Oktober suchten sie Schutz im Haus eines Verwandten, als ein Luftangriff ein benachbartes Gebäude zerstörte, wie die Familie berichtete. Zahra Akeila, 40, wurde zusammen mit Fatima getötet, ihre Leichen wurden sechs Stunden später von Verwandten ausgegraben.
Samar al-Jaja weinte um ihre Schwester. Aber Ahmed, der als einziges Kind die Leiche seiner Mutter sah, blieb mit trockenen Augen und stumm vor Erschütterung.
Sein ältester Bruder, Mohammed, 21, ist seit seiner Geburt geistig behindert. Die Familie hatte ihn zunächst belogen und gesagt, seine Mutter sei im Krankenhaus. Mahmoud, 19, der am rechten Bein schwer verletzt worden war, wurde in ein anderes Krankenhaus gebracht, bevor sie es ihm sagen konnten.
Abdullah, mit neun Jahren der Jüngste, war noch in Behandlung, als sie die Mutter begruben. Stunden vor dem Angriff erinnerte er sich daran, wie sie ihnen das Abendessen zubereitete, ihnen Saft und Chips reichte und ihnen ein paar Schekel Taschengeld versprach; er erinnerte sich daran, dass er einen Knall hörte, er erinnerte sich daran, dass sie ihre Söhne von den Fenstern wegscheuchte.
Das Nächste, woran er sich erinnert, ist, dass er im Krankenhaus aufwachte. Als er nicht aufhörte, nach seiner Mutter zu fragen, sagten ihm die Verwandten schließlich: „Mama ist jetzt im Himmel“, so Samar al-Jaja.
Noch ein paar weitere Tage, und der Vater der Kinder, Mohammed Kamel Akeila, 44, der auf der Intensivstation lag, war tot.
Das israelische Militär teilte mit, dass es sich bei dem Gebäude neben der Unterkunft der Akeilas um „Infrastruktur“ der Hamas gehandelt habe, ohne Einzelheiten zu nennen.
Samar al-Jaja verließ daraufhin ihren Verlobten in einer anderen Stadt, um mit den Buben zu leben. Auch nach ihrer Heirat, so sagte sie, werden sie und der Onkel der Jungen ihren Großeltern bei der Erziehung helfen.
„Die Zukunft dieser Kinder ist nichts ohne ihre Eltern“, sagte sie. Aber sie möchte es versuchen: „Ihre Mutter war so ein guter Mensch. Jetzt müssen wir all das Gute, das sie für uns getan hat, zurückgeben.“
Das Lager bietet Mahlzeiten und Bargeld. Da jedoch jeder und jede um sein Überleben kämpft, haben Sozialarbeiter der Vereinten Nationen beobachtet, dass einige Familien im Gazastreifen ihre eigenen Kinder den verwaisten Verwandten vorziehen, so Jonathan Crickx. Und Waisenkinder sind besonders anfällig für Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch.
Auch wenn sie bis zu Friedenszeiten überleben, sind Unterkunft, sauberes Wasser sowie psychische und physische Gesundheitsversorgung fraglich, ganz zu schweigen von ihren Bildungs-, Arbeits- und Heiratsaussichten.
Selbst für Kinder, die noch Eltern haben, wird das Nachkriegs-Gaza ein schwieriger Ort zum Aufwachsen sein, so Mahmoud Kalakh, ein Sozialarbeiter, der das Waisenlager gegründet hat. Er fragt: „Was passiert dann erst mit jenen Kindern, die keine Einkommensquelle und keinen Ernährer haben, weil sie ihre Väter und Mütter verloren haben?“
Vivian Yee ist Reporterin der Times und berichtet über Nordafrika und den Nahen Osten im Allgemeinen. Sie lebt in Kairo.
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