Dieser Bericht konzentriert sich auf das Muster und die Intensität der zivilen Opfer während der ersten Wochen der israelischen Angriffe im Gazastreifen und vergleicht das Ausmaß der zivilen Opfer mit militärischen Kampagnen, die von Airwars in einem Jahrzehnt der Arbeit in einigen der intensivsten und komplexesten Konfliktzonen der Welt dokumentiert wurden.
(Vollständiger Bericht mit Statistiken in englischer Sprache)
Einleitung
Am 7. Oktober 2023 durchbrachen militante Palästinenser den Grenzzaun zwischen Israel und dem Gazastreifen, töteten mindestens 1.200 Menschen und entführten weitere 251 Menschen in den Gazastreifen. Daraufhin startete Israel eine der intensivsten Militäraktionen des 21. Jahrhunderts. Bis November 2024 wurden nach offiziellen Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza mehr als 43.000 PalästinenserInnen getötet.
Die internationale Gemeinschaft hat große Besorgnis über die israelische Militärpraxis und das beispiellose Ausmaß der zivilen Opfer geäußert. Die Vereinten Nationen haben wiederholt davor gewarnt, dass Israel gegen das Völkerrecht verstößt, und selbst der Präsident der Vereinigten Staaten (USA), Joe Biden, ein überzeugter Verbündeter Israels, bezeichnete die militärische Reaktion schließlich als „übertrieben“. Im Januar 2024 erhob Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) Klage wegen Völkermordes gegen Israel.
Israelische Regierungsvertreter argumentieren, dass „das Militär alles tue, um Schäden an der Zivilbevölkerung zu vermeiden“, und sagen, dass „die Taktik der Hamas, sich hinter der Zivilbevölkerung zu verschanzen, zivile Opfer zu einem unvermeidlichen Nebeneffekt des Versuchs macht, die militärische Infrastruktur der Hamas zu zerstören“. Israel behauptet auch, dass das Ausmaß der zivilen Opfer im Gazastreifen im Großen und Ganzen mit anderen derartigen Konflikten der letzten Jahrzehnte vergleichbar – wenn nicht sogar besser – sei, einschließlich der von den USA geführten Bombenkampagne gegen den Islamischen Staat im Irak und in Syrien.
Da die israelischen Angriffe im Libanon zu Beginn das Tempo und die Intensität der Gaza-Angriffe widerspiegelten, könnte die Art und Weise, wie Israel den Krieg in Gaza geführt hat, die Entwicklung einer besorgniserregenden neuen Norm signalisieren: eine Art der Durchführung von Luftkampagnen mit einer größeren Häufigkeit von Angriffen, einer größeren Schadensintensität und einer höheren Akzeptanzschwelle für zivile Opfer als alles bisher Dagewesenes.
Dieser Bericht konzentriert sich auf das Muster und die Intensität der zivilen Opfer während der ersten Wochen der israelischen Angriffe im Gazastreifen und vergleicht das Ausmaß der zivilen Opfer mit militärischen Kampagnen, die von Airwars in einem Jahrzehnt der Arbeit in einigen der intensivsten und komplexesten Konfliktzonen der Welt dokumentiert wurden.
Zum Zeitpunkt der Analyse dieses Datensatzes hatte Airwars 606 Vorfälle von zivilen Opfern veröffentlicht, die zwischen dem 7. und 31. Oktober 2023 – den ersten drei Wochen des Krieges – gemeldet wurden. Bei diesen Vorfällen wurden mindestens 5 139 Zivilisten getötet. Dies ist nur ein Bruchteil der mehr als 7 000 Vorfälle von zivilen Opfern in Gaza, die Airwars-Forscher seit Oktober 2023 beobachtet haben und von denen die große Mehrheit noch nicht veröffentlicht wurde. Dennoch ist die Zahl der Opfer groß genug, um verlässliche Vergleiche mit anderen Konflikten anzustellen und Schlussfolgerungen daraus ziehen zu können. (…)
Die wichtigsten Ergebnisse
Der Schaden für die Zivilbevölkerung im ersten Monat der israelischen Angriffe im Gazastreifen ist nach fast allen Maßstäben mit keiner anderen Angriffswelle aus der Luft des 21. Jahrhunderts vergleichbar. Es ist der bei weitem intensivste, zerstörerischste und für die Zivilbevölkerung tödlichste Konflikt, den Airwars je dokumentiert hat. Die wichtigsten Ergebnisse sind:
Im Oktober 2023 wurden in 25 Tagen mindestens 5 139 ZivilistInnen in Gaza getötet. Das sind fast viermal mehr ZivilistInnen, die in einem einzigen Monat getötet wurden, als in jedem anderen Konflikt, den Airwars seit seiner Gründung im Jahr 2014 dokumentiert hat.
Allein im Oktober 2023 dokumentierte Airwars mindestens 65 Vorfälle, bei denen mindestens 20 ZivilistInnen getötet wurden. Dies ist fast das Dreifache der Anzahl solcher Vorfälle mit hoher Todesrate, die Airwars in anderen vergleichbaren Zeiträumen dokumentiert hat.
Im Laufe von 25 Tagen registrierte Airwars mindestens 1 900 Kinder, die durch israelische Militäraktionen in Gaza getötet wurden. Das ist fast siebenmal so viel wie der tödlichste Monat für Kinder [in einem anderen Konflikt, Anm.], der bisher von Airwars erfasst wurde.
Familien wurden in einer noch nie dagewesenen Zahl gemeinsam getötet, und zwar in ihren Wohnhäusern. Mehr als neun von zehn Frauen und Kindern wurden in Wohngebäuden getötet. In mehr als 95 Prozent aller Fälle, in denen eine Frau getötet wurde, wurde auch mindestens ein Kind getötet.
Wenn ZivilistInnen zusammen mit Familienmitgliedern getötet wurden, waren es im Durchschnitt mindestens 15 Familienmitglieder. Dies ist mehr als in jedem anderen von Airwars dokumentierten Konflikt.
Weitere Ergebnisse:
Frauen
Airwars verzeichnete im Oktober 2023 mindestens 1 213 getötete Frauen in Gaza.
Das ist mehr als das Sechsfache der Zahl der Frauen, die während der viermonatigen Schlacht um Raqqa getötet wurden, mehr als das Neunfache der Zahl der Frauen, die von der US-geführten Koalition während der Schlacht um Mosul getötet wurden (ohne Fälle, in denen die Zuordnung bestritten wird), und mehr als das Siebenfache der Zahl der Frauen, die im September 2017 in Syrien von ausländischen Akteuren getötet wurden – dem tödlichsten Monat für Frauen, der bisher von Airwars erfasst wurde.
Von den 1 213 getöteten Frauen wurden mindestens 90 Prozent in einem Wohngebäude getötet, und 96 Prozent wurden bei Vorfällen getötet, bei denen auch mindestens ein Kind getötet wurde.
Im Durchschnitt wurden bei einem Vorfall, bei dem eine Frau getötet wurde, auch etwa sechs Kinder getötet.
Weniger als acht Prozent dieser Frauen wurden bei Vorfällen getötet, bei denen Airwars durch die Überprüfung offener Quellen herausfand, dass auch ein Hamas-Kämpfer getötet wurde.
Zum Vergleich: In Syrien wurden im September 2017 70 Prozent der Frauen bei Vorfällen getötet, bei denen auch ein Kind getötet wurde; während der Schlacht um Raqqa waren es 68 Prozent und während der Schlacht um Mosul 76 Prozent.
Kinder
In allen von Airwars dokumentierten Konflikten war der Oktober 2023 in Gaza der mit Abstand tödlichste Monat für Kinder.
Airwars schätzt die Zahl der in diesem Zeitraum im Gazastreifen getöteten Kinder auf mindestens 1 900. Das sind fast siebenmal mehr Kinder, die in einem einzigen Monat getötet wurden, als im bisher tödlichsten von Airwars dokumentierten Monat.
Die am ehesten vergleichbare Statistik stammt aus dem Monat Januar 2016 in Syrien, als mindestens 279 Kinder durch ausländische Akteure getötet wurden. Neun dieser Kinder wurden bei Vorfällen getötet, die der US-geführten Koalition zugeschrieben werden, 265 bei Vorfällen, die der russischen Bombenkampagne zugeschrieben werden, und fünf bei Vorfällen, bei denen die Zuschreibung zwischen den Kräften der US-geführten Koalition und den russischen Kräften umstritten war.
Im Airwars-Archiv übersteigt die Zahl der in 25 Tagen im Oktober 2023 in Gaza getöteten Kinder fast die höchste Zahl von Kindern, die im Laufe eines ganzen Jahres getötet wurden. Im Jahr 2016 wurden laut Airwars mindestens 1 926 Kinder in Syrien getötet, und zwar sowohl durch die russische Kampagne zur Unterstützung des syrischen Regimes als auch durch den von der US-geführten Koalition geführten Luftkrieg gegen ISIS.
Im Vergleich zu allen anderen von Airwars dokumentierten Konflikten ist der Anteil der Kinder an den Toten in Gaza deutlich höher. Dies gilt trotz der Tatsache, dass die Zahl der pro Angriff getöteten Kinder nur schwer zu ermitteln ist, da die Quellen häufig über die Zahl der getöteten ZivilistInnen berichten, ohne die demografische Aufschlüsselung vorzulegen. Daher sind alle Zahlen, die sich auf die Tötung von Kindern beziehen, bekanntermaßen zu niedrig angesetzt.
Soweit Airwars das wahrscheinliche Alter der Getöteten ermitteln konnte, waren mindestens 36 Prozent der im Oktober 2023 in Gaza Getöteten Kinder. Selbst im Jahr 2016, dem tödlichsten Jahr für Kinder in Syrien, machten Kinder 26 Prozent der Getöteten aus. In der Schlacht um Raqqa machten Kinder 25 Prozent der Getöteten aus. Während der Schlacht um Mosul machten Kinder weniger als 9 Prozent der gemeldeten Toten aus.
Der Prozentsatz der Vorfälle mit zivilen Opfern im Gazastreifen, bei denen Kinder zu Schaden kamen, war im Vergleich zu anderen Konflikten, die von Airwars mit der gleichen Methodik dokumentiert wurden, ebenfalls historisch hoch.
Bei jenen Angriffen, bei denen Kinder getötet wurden, war die Zahl der getöteten Kinder höher als in jedem anderen Konflikt zuvor.
Im Oktober 2023 wurden in Gaza bei 347 Angriffen mindestens 1 900 Kinder getötet. Das bedeutet, dass bei einem für Kinder tödlichen Vorfall im Durchschnitt mehr als fünf Kinder getötet wurden.
Airwars ist eine Non-Profit-Organisation, die Klagen über zivile Opfer in konfliktbetroffenen Ländern verfolgt, bewertet, archiviert und untersucht. Airwars wurde 2014 gegründet und ist heute eine führende Autorität auf dem Gebiet der Untersuchungen von Gewalt in Kriegen und Konflikten, die die Zivilgesellschaft betrifft.
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