Im Folgenden finden Sie eine Übersetzung des am 17. September erschienenen Beitrags von Meron Rapoport, in dem er auf die Liquidierungspläne des nördlichen Gazastreifens eingeht.
Er entwirft darin ein Szenario, was in Gaza Stadt nach einem bereits existierenden Plan, entworfen von pensionierten Militärkommandeuren unter der Leitung von Generalmajor (a.D.) Giora Eiland, passieren könnte. Laut dem Eiland-Plan soll die noch verbliebene Bevölkerung zum Verlassen des Gebiets gezwungen und jene, die dem Befehl nicht Folge leisten, ausgehungert und getötet werden. Das Gebiet, in dem tausende, vielleicht sogar zehntausende Menschen noch immer unter den Trümmern liegen, wird zur „geschlossenen militärischen Zone“ erklärt, womit nicht nur jegliche der ohnehin spärlich vorhandenen Hilfslieferungen gestoppt werden, sondern auch die Aufklärung von Kriegsverbrechen durch unabhängige Kommissionen und die Bergung der Leichen unterbunden und verhindert wird.
Knapp eine Woche später, am 23. September 2024, erscheint das von Rapoport entworfene Szenario plötzlich nicht mehr so weit hergeholt. Im The Guardian erscheint ein Bericht, der den sogenannten Eiland Plan noch einmal beschreibt, nur dieses Mal erklärt der Likud-Abgeordnete Avichai Boaron bereits, dass der Plan derzeit „von der Regierung geprüft“ werde: „Der Plan sieht vor, dass die IDF alle Zivilisten, die sich im Norden des Gazastreifens befinden, von der Grenze bis zum Gaza-Fluss evakuiert“, sagte Boaron dem Guardian. „Nach der Evakuierung werden die IDF davon ausgehen, dass nur die Terroristen zurückbleiben. Wenn die Zivilbevölkerung gegangen ist, kann man alle Terroristen finden und töten, ohne dass die Zivilisten zu Schaden kommen.“
Im Eiland-Plan wird nicht nur eine Liquidierungsoperation in Gaza-Stadt vorgeschlagen, sondern auch in Khan Younis und Deir al-Balah. In der Knesset wurden laut The Guardian bereits Unterschriften für den Plan gesammelt. Der israelische Rundfunksender Kan zitierte den israelischen Premierminister Netanjahu mit den Worten, dass der Plan „Sinn macht“ und „einer der Pläne ist, die in Betracht gezogen werden“.
Ein Plan zur Liquidierung des nördlichen Gazastreifens nimmt an Fahrt auf
Während sich israelische Minister, Generäle und Wissenschaftler auf eine entscheidende neue Phase des Krieges vorbereiten, könnte die Operation „Aushungern und Vernichten“ so aussehen.
Von Meron Rapoport, 17. September 2024, 972Mag in Kooperation mit Local Call
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Das Datum ist Oktober, November oder Dezember 2024 oder vielleicht Anfang 2025. Das israelische Militär hat soeben eine neue Operation im nördlichen Gazastreifen eingeleitet – nennen wir sie „Operation Ordnung und Säuberung“. Die Armee ordnet die vorübergehende Evakuierung aller palästinensischen BewohnerInnen nördlich des Netzarim-Korridors „zu ihrer persönlichen Sicherheit“ an und erklärt, dass „die IDF in den kommenden Tagen in Gaza-Stadt erhebliche Maßnahmen ergreifen wird und vermeiden will, dass ZivilistInnen zu Schaden kommen.“
Der Befehl ähnelt jenem, den das Militär am 13. Oktober 2023 an die mehr als eine Million PalästinenserInnen erließ, die damals in Gaza-Stadt und Umgebung lebten. Aber es ist jedem klar, dass Israel dieses Mal etwas ganz anderes vorhat.
Während Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant über die wahren Ziele der Operation Stillschweigen bewahren, geben Finanzminister Bezalel Smotrich und der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, sowie andere Minister der extremen Rechten diese offen bekannt. Dabei zitieren sie einen Plan, den das „Forum der Reservekommandeure und -kämpfer“ unter der Leitung von Generalmajor (a.D.) Giora Eiland erst vor wenigen Wochen vorgeschlagen hat: alle Bewohner des nördlichen Gazastreifens sollen innerhalb einer Woche das Gebiet verlassen, ehe eine vollständige Belagerung verhängt wird, einschließlich der Abriegelung aller Wasser-, Lebensmittel- und Treibstofflieferungen, bis sich die noch Verbliebenen ergeben oder verhungern.
Auch andere prominente Israelis haben in den letzten Monaten das Militär aufgefordert, eine Massenvernichtung im nördlichen Gazastreifen durchzuführen. „Entfernen Sie die gesamte Zivilbevölkerung aus dem Norden, und wer dort zurückbleibt, wird rechtmäßig als Terrorist verurteilt und einem Prozess des Aushungerns oder der Ausrottung unterworfen“, erklärte Prof. Uzi Rabi, ein leitender Forscher an der Universität Tel Aviv, in einem Radiointerview am 15. September.
Einem Bericht von Ynet zufolge hatten Minister der Regierung Netanjahu bereits im August dazu gedrängt, den nördlichen Gazastreifen von seinen Bewohnern zu „säubern“.
Ein weiterer Vorschlag wurde im Juli von mehreren israelischen WissenschaftlerInnen verfasst und trägt den Titel „Von einem mörderischen Regime zu einer gemäßigten Gesellschaft: Die Transformation und der Wiederaufbau von Gaza nach der Hamas“. Diesem Plan zufolge, der israelischen Entscheidungsträgern vorgelegt wurde, ist die „totale Niederlage“ der Hamas eine Voraussetzung für den Beginn eines Prozesses der „Deradikalisierung“ der PalästinenserInnen in Gaza. „Es ist wichtig, dass die palästinensische Öffentlichkeit die Niederlage der Hamas auf breiter Basis wahrnimmt“, so die AutorInnen des Plans und fügten hinzu: „'Erste Hilfe' kann in den von der Hamas gesäuberten Gebieten beginnen.“ Einer der Autoren des Vorschlags, Dr. Harel Chorev, ein leitender Forscher am Moshe Dayan Center, an dem auch Rabi arbeitet, brachte seine volle Unterstützung für Eilands Plan zum Ausdruck.
Doch zurück zu unserem Zukunftsszenario:
Die „Operation Ordnung und Säuberung“ läuft an, und trotz der Evakuierungsbefehle der Armee bleiben etwa 300 000 PalästinenserInnen in den Ruinen von Gaza-Stadt und Umgebung und weigern sich, diese zu verlassen. Vielleicht bleiben sie, weil sie gesehen haben, was mit ihren NachbarInnen geschah, die zu Beginn des Krieges in dem Glauben, es handle sich um eine vorübergehende Evakuierung, die Straßen des südlichen Gazastreifens ohne sicheren Unterschlupf verlassen hatten und bis heute umherirren. Vielleicht, weil sie Angst vor der Hamas haben, die die BewohnerInnen auffordert, sich den Evakuierungsbefehlen Israels zu widersetzen. Oder vielleicht, weil sie glauben, nichts mehr zu verlieren zu haben.
In allen Fällen verhängt die Armee innerhalb einer Woche eine vollständige Blockade gegen alle, die im nördlichen Gazastreifen bleiben. Die Hamas-Kämpfer – der Eiland-Plan schätzt, dass sich noch 5.000 im Norden aufhalten, aber niemand kennt ihre wahre Zahl – weigern sich, sich zu ergeben. Über das internationale Fernsehen und die sozialen Medien verfolgen Menschen auf der ganzen Welt, wie Gaza-Stadt von einer Massenhungersnot heimgesucht wird. „Wir würden lieber sterben als zu gehen“, sagen die BewohnerInnen gegenüber Journalisten.
Im israelischen Fernsehen sind die Kommentatoren nicht davon überzeugt, dass ein solcher Schritt entscheidend für den Sieg im Krieg sein wird. Aber sie sind sich einig, dass eine „Kampagne des Aushungerns und der Vernichtung“ einer Armee vorzuziehen ist, die im Gazastreifen weiter auf der Stelle tritt. Einige Stimmen in den Studios warnen vor dem möglichen Schaden Israels in der Öffentlichkeit, aber dennoch findet der Plan die Unterstützung der Mehrheit der jüdisch-israelischen Öffentlichkeit. Palästinensische BürgerInnen Israels, die ihre Proteste gegen den Völkermord verstärken, werden verhaftet, wenn sie auch nur im Internet darüber schreiben, und die Polizei unterdrückt gewaltsam Demonstrationen der radikalen Linken.
US-Außenminister Antony Blinken bringt seine Besorgnis zum Ausdruck, bekräftigt, dass Washington sich für die territoriale Integrität des Gazastreifens und die Zwei-Staaten-Lösung einsetzt, und warnt, dass diese jüngste Kampagne die Verhandlungen über ein Geiselabkommen sabotieren könnte - doch Netanjahu zeigt sich unbeeindruckt. Unter dem Druck der Rechten, die in der Vertreibung der BewohnerInnen von Gaza-Stadt die Möglichkeit sieht, das Gebiet vollständig zu zerstören und auf den Ruinen Siedlungen zu errichten, beginnt die Armee mit der von Rabi beschriebenen „Ausrottungsphase“.
Seit die Armee behauptet hat, ZivilistInnen können den nördlichen Gazastreifen verlassen - obwohl Soldaten wahllos auf palästinensische ZivilistInnen schießen und sie töten, wenn sie versuchen, die Stadt zu verlassen -, behandelt sie jeden, der in der Stadt bleibt, als Terrorist. Eine solche Strategie deckt sich mit dem, was Oberstleutnant A., Kommandeur der Drohnenstaffel der israelischen Luftwaffe, im August gegenüber Ynet über die Operation zur Befreiung der Geiseln im Lager Nuseirat sagte: „Wer nicht floh, auch wenn er unbewaffnet war, war für uns ein Terrorist. Jeder, den wir getötet haben, hat getötet werden müssen.“
Gaza-Stadt ist vollkommen zerstört, und in den Trümmern liegen die Leichen von Tausenden oder vielleicht Zehntausenden von PalästinenserInnen. Niemand kennt die genaue Zahl, denn das Gebiet bleibt eine „geschlossene Militärzone“. Die Operation Ordnung und Säuberung wird als Erfolg gewertet. Die Armee bereitet, wie im Eiland-Plan vorgeschlagen, ähnliche Operationen in Khan Younis und Deir al-Balah vor. In Abstimmung mit den Befehlshabern vor Ort und offenbar ohne die Zustimmung des Generalstabs beginnt die wiederbelebte Bewegung zur Wiederbesiedlung des Gazastreifens - die seit Monaten in den Startlöchern steht - mit der Errichtung der ersten neuen Gemeinden in den von PalästinenserInnen „gesäuberten“ Gebieten.
Ein wahrscheinliches, aber nicht unausweichliches Szenario
Es ist nicht sicher, dass dieses Szenario eintreten wird. Es kann an verschiedenen Stellen vereitelt werden: Die Armee könnte deutlich machen, dass sie weder an einer vollständigen Besetzung des Gazastreifens noch an der Wiedereinsetzung einer Militärregierung in diesem Gebiet interessiert ist. Das Militär ist sich bewusst, dass eine solche groß angelegte Operation zur Erschießung der verbleibenden Geiseln führen könnte, wie es in Rafah geschah, und es möchte nicht für deren Ermordung verantwortlich sein. Es befürchtet auch, dass eine solche groß angelegte Operation in Gaza eine stärkere Reaktion der Hisbollah und damit einen intensiven Zweifrontenkrieg auslösen könnte, vielleicht sogar mehr.
Trotz aller Nachsicht, die die US-Regierung gegenüber Israels völkermörderischen Aktionen im Gazastreifen - Aushungern und Vernichtung Zehntausender Palästinenser - gezeigt hat, könnte die nächste Stufe selbst für den sich selbst als „Zionisten“ bezeichnenden Präsidenten Joe Biden und die Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris, die von „palästinensischem Leid“ spricht, zu viel sein. Dies könnte der Schritt sein, der den Internationalen Gerichtshof (IGH) dazu zwingt, Israel des Völkermordes zu bezichtigen und den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zur Ausstellung von Haftbefehlen zu veranlassen, und zwar nicht nur gegen Netanjahu und Gallant.
Die europäischen Länder, die bisher zögerten, Israel zu sanktionieren, könnten nun voll einsteigen. Netanjahu könnte zu dem Schluss kommen, dass der internationale Preis einer solchen Operation zu hoch sein wird - den Wünschen seiner rechten Verbündeten zum Trotz.
Auch die israelische Gesellschaft könnte der Umsetzung des Plans im Wege stehen. Wie die Massendemonstrationen der letzten Wochen gezeigt haben, haben große Teile der jüdisch-israelischen Öffentlichkeit den Glauben an die Versprechen der Regierung vom „totalen Sieg“ in Gaza oder an die Vorstellung verloren, dass „nur militärischer Druck die Geiseln freilassen wird“. Angeführt von den Familien der Geiseln - die seit der kürzlichen Hinrichtung der sechs Geiseln in einem Tunnel in Rafah durch die Hamas zunehmend radikalisiert sind - wollen Hunderttausende Israelis offenbar nicht nur die Geiseln nach Hause zurückkehren sehen, sondern auch den Krieg hinter sich lassen. Der Rabi-Eiland-Plan, der den Krieg in Gaza mit Sicherheit verlängern und die Rückkehr der verbleibenden Geiseln wahrscheinlich verhindern wird, könnte von Hunderttausenden DemonstrantInnen aus genau diesen Gründen abgelehnt werden.
Gleichzeitig müssen wir aber auch eingestehen, dass das von mir skizzierte Szenario nicht weit hergeholt ist. Seit dem 7. Oktober hat die israelische Gesellschaft einen beschleunigten Prozess der Entmenschlichung der Palästinenser durchlaufen, und es ist schwer vorstellbar, dass sich die Armee weigert, eine solche Vernichtungskampagne massenhaft durchzuführen, vor allem, wenn sie in Etappen erfolgt: zuerst die Vertreibung der meisten BewohnerInnen, gefolgt von der Verhängung einer Belagerung, und erst dann die Eliminierung derjenigen, die übrig bleiben.
Es geht nicht nur um die Rache für die von der Hamas am 7. Oktober begangenen Gräueltaten. Nach der verzerrten Logik, die die israelische Politik gegenüber den PalästinenserInnen bestimmt, besteht die einzige Möglichkeit, die „Abschreckung“ nach der militärischen Demütigung vom 7. Oktober wiederherzustellen, in der vollständigen Zerschlagung des palästinensischen Kollektivs, einschließlich seiner Städte und Institutionen.
Für einige mag es einfach sein, die israelischen Vorschläge, die Arbeit im nördlichen Gazastreifen „zu Ende zu bringen“, als völkermörderischen Bombast abzutun, der wahrscheinlich nicht ausgeführt wird. Aber sie wurden von Eiland, Rabi und anderen einflussreichen Leuten ausgearbeitet - nicht nur von denen aus dem „messianischen“ Kreis von Ben Gvir und Smotrich. Und unabhängig davon, was in den kommenden Monaten geschehen wird, zeigt allein die Tatsache, dass offene Vorschläge zur Aushungerung und Ausrottung von Hunderttausenden von Menschen zur Debatte stehen, wo die israelische Gesellschaft heute steht.
Meron Rapoport ist Redakteur bei Local Call.
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