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Lieber Ismail al-Ghoul: Die Welt hat uns längst vergessen. Aber wir werden Dich nicht vergessen.

„Lassen Sie mich Ihnen sagen, mein Freund, dass ich den Genuss von Schlaf nicht mehr kenne. Die Leichen von Kindern, Leichenteile und Bilder von Blut verlassen meine Augen fast nie. Die Schreie der Mütter, das Weinen und die Verzweiflung der Männer verlassen meine Ohren nicht.


Ich kann die Vergangenheit nicht überwinden, in der Kinderstimmen unter den Trümmern zu hören waren, und ich kann die Stimme eines kleinen Mädchens nicht vergessen, die immer und immer wieder kommt und wie ein Alptraum ist.


Es ist beängstigend, vor hingeworfenen, eingeklemmten, ausgestreckten und aufgetürmten Leichen zu stehen, aber noch beängstigender ist es, wenn man an den Lebenden vorbeikommt, die begraben unter ihren Häusern mit dem Tod ringen und keinen Weg nach draußen finden, um zu überleben.

Ich bin müde, mein Freund.“


Al Jazeera-Korrespondent Ismail AlGhoul, gemeinsam mit seinem Kameramann getötet am 31. Juli 2024 in Gaza

 


Während der Krieg nun 300 Tage währt, ist die jüngste Ermordung von Kollegen eine Mahnung für alle Journalistinnen und Journalisten in Gaza: Wir sind allein.


Von Maram Humaid, 1. August 2024, AlJazeera

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 


Deir el-Balah, Gaza, Palästina - Ich kniete am Boden, mit gebrochenem Herzen und zitternd.

 

Wir standen an der Schwelle zum 300. Tag des Gaza-Krieges - ein tragischer Meilenstein. Aber die Tragödie war noch lange nicht zu Ende.

 

Wir waren am Mittwoch mit der Nachricht von der Ermordung von Ismail Haniyeh, dem politischen Chef der Hamas, aufgewacht. Die Gesichter der Menschen waren von Trauer und Frustration gezeichnet, als ich über die Reaktionen auf seine Ermordung aus Gaza berichtete. Während sie um einen prominenten Führer trauerten, gingen die israelischen Angriffe weiter.

 

Ich beendete meine Interviews und ging in das Al Jazeera-Zelt im Al-Aqsa Krankenhaus, um zu schreiben. Während meiner Arbeit beobachtete ich, wie Krankenwagen weitere Menschen in das Krankenhaus brachten, sah Menschen weinen und vor Trauer zusammenbrechen.

 

Ich starrte schweigend vor mich hin, dann erinnerte ich mich an meinen dringenden Artikel und nahm die Arbeit wieder auf. Wenn man als Journalistin über einen Krieg berichtet und gleichzeitig ein Opfer des Krieges ist, hat man inmitten des Chaos und des Wahnsinns keine Zeit, Gefühle zu verarbeiten.

 

Als ich auf "Senden" drückte, kam meine Kollegin Hind Khoudary, um ihre Fernseh-Schicht anzutreten, die Frustration stand ihr ins Gesicht geschrieben. Es war unser üblicher Austausch: über unsere psychische Müdigkeit und die Aussichtslosigkeit unserer Situation. Wir beendeten das Gespräch. Wir hatten beide viel zu tun.

 

Ich ging nach Hause zu meiner Familie und meinen Kindern.

 

In diesem Moment begannen die Nachrichten auf WhatsApp zu kommen: Unsere Kollegen Ismail Al-Ghoul, ein Al Jazeera-Journalist, und Rami Al-Rifi, sein Kameramann, waren getötet worden, nachdem Israel das Auto, in dem sie unterwegs waren, mit einer Rakete beschossen hatte.

 

Wir wollten es nicht glauben, aber dann kam die Bestätigung von den Kollegen vor Ort. Und ich sank auf die Knie.

 

Es war ein erneuter Schlag ins Gesicht aller JournalistInnen in Gaza. Nach unserer Zählung sind seit Beginn des Krieges am 7. Oktober bereits 165 Journalisten getötet worden. Es ist jedes Mal erneut ein Schock, wenn wir einen Journalistenkollegen verlieren, obwohl wir wissen, dass jedeR unter der Guillotine des Krieges steht und jedeR ein Ziel ist.

 

Und es ist derselbe Schock, der uns an die bittere Wahrheit erinnert, dass uns niemand hört und sich niemand für uns interessiert.

 

Eine Frau sagte mir am Mittwoch, dass die Welt uns und unsere Nachrichten satt hat. Gelangweilt ist vom Krieg in Gaza, gleichgültig gegenüber unserem Leiden. Sie hatte Recht. Die Welt ist unserer überdrüssig, mein lieber Kollege Ismail. Sie war es leid, dich 300 Tage lang auf dem Bildschirm zu sehen, wie du rund um die Uhr Live-Nachrichten aus dem Norden Gazas sendest.

 

Sie war es leid, dich berichten zu sehen, hungrig und unfähig, Nahrung zu finden. Du hast über deinen Hunger berichtet, hast deinen Bruder und deinen Vater im Krieg verloren, wurdest verhaftet und im al-Shifa-Krankenhaus gefoltert, von deiner vertriebenen Frau und deinen Kindern im Süden des Gazastreifens getrennt.

 

Die Welt war deiner überdrüssig, bis der Bildschirm über deine Ermordung berichtete, bei der dir der Kopf vom Körper getrennt wurde - ein brutales Spiegelbild des Krieges, über den du berichtet hast.

 

Du warst ein freundlicher, bescheidener und zuverlässiger Kollege.

 

Meine Kollegin Marah Al-Wadiya erzählte mir, wie du nach jedem israelischen Angriff in ihrem Gebiet nach ihrem Haus gesehen und ihr versichert hast, dass es in Ordnung sei.

 

Ein anderer Kollege, Mohammad Al-Zaanin, erzählte, dass du nach seiner Familie im Norden geschaut hast und dein Bestes getan hast, um ihnen eine Unterkunft zu verschaffen, nachdem ihr Haus zerstört worden war. Mohammad wird auch nicht vergessen, wie du Brot für seine Mutter gebracht hast.

 

Dein Tod ist die jüngste Erinnerung daran, wie Israel so viele von uns zum Schweigen gebracht hat, zu viele, um sie zu nennen, aber jeder von ihnen ist für immer in unserem Gedächtnis als ein Held verankert, der zu früh von uns gegangen ist. Und das alles, weil sie Journalistinnen und Journalisten waren.

 

Seit wann sind JournalistInnen Zielscheiben? Seit die Welt dem Gazastreifen den Rücken gekehrt hat, uns die Menschlichkeit genommen und uns in Kriegs- und Krisenzeiten den internationalen Schutz und die Menschenrechte verweigert hat.

 

Aber von nun an werde ich nicht mehr fragen, wo die Welt ist. Welche Welt? Hier gibt es keine Welt. Nicht einmal unsere zerfetzten Köpfe in Presseuniformen oder die verstümmelten Körper unserer Kinder können etwas daran ändern.

 

Diese falsche Welt ist nicht unser Ort, lieber Ismail. Vielleicht schläfst du heute zum ersten Mal seit 300 Tagen wieder friedlich und behaglich und verstehst die vollständige Bedeutung von "Wahrheit".

 

Die Wahrheit, die alle BewohnerInnen des Gazastreifens inzwischen gut kennen: Es ist nur eine Frage der Zeit. Wir alle warten darauf, dass wir in diesem Krieg an die Reihe kommen, und im Himmel werden wir niemandem vergeben.

 


Maram Humaid ist digitale Korrespondentin von Al Jazeera English in Gaza.


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