Hat der Völkermord in Gaza die Sicherheit eines einzigen Menschen in Israel erhöht? Sind wir sicherer, während wir auf die Reaktion des Irans auf die Ermordung Haniyehs warten?
Von Orly Noy, 2. August 2024, 972Mag in Kooperation mit Local Call
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Wir stehen nun vor dem regionalen Krieg von Gog und Magog, den Benjamin Netanjahu so entschlossen war, zu entfachen. Jeder von uns versucht nun mit Entsetzen zu erahnen, wie die Reaktion auf die jüngsten Attentate aussehen wird - die unsere Führer als "brillante Leistung" von Israels ausgeklügelter Kriegsmaschinerie feiern - und ob unsere Kinder sie überleben werden. Wir denken jetzt über das Schicksal der Geiseln nach und haben Angst das zu sagen, von dem wir wissen, dass es wahr sein könnte.
Vielleicht ist jetzt ein Moment, innezuhalten und zu fragen: Gab es wirklich keinen anderen Weg? War dieses Versinken in einer abgrundtiefen Hölle ein unausweichliches Schicksal?
Eine iranische Antwort auf die Ermordung des Hamas-Führers Ismail Haniyeh in Teheran wird kommen, ebenso wie eine Vergeltung der Hisbollah für die Ermordung ihres Kommandeurs Fuad Shukr - auch wenn deren Intensität oder Art nicht bekannt ist. Masoud Pezekshian, der neue iranische Präsident und der gemäßigtere der Kandidaten der Islamischen Republik, versprach, sich von der Kriegstreiberei seines Vorgängers zu distanzieren und den Iran auf den Weg des Dialogs mit dem Westen zurückzuführen. Doch die Ermordung Haniyehs unmittelbar nach Pezekshians Amtsantritt zwingt den Präsidenten in die Defensive. Er muss nun seine Führungsqualitäten unter Beweis stellen, auf diese eklatante Verletzung der Souveränität seines Landes reagieren und sein Bündnis mit der Hamas vertiefen.
"Todeswürdig" ist wahrscheinlich die am häufigsten gebrauchte Formulierung im öffentlichen Diskurs Israels, um die jüngsten Attentate zu beschreiben. Es ist eine von vielen Rechtfertigungen, die Israel für seine ungehemmte Gewalt in den letzten zehn Monaten gefunden hat. Aber es hat etwas Erschreckendes an sich, dass die Frage, ob jemand als "todeswürdig" gilt oder nicht, unser Schicksal hier mehr bestimmt als die Frage, ob wir ZivilistInnen lebenswert sind.
Seit den Massakern vom 7. Oktober hat Israel an jeder Kreuzung den Weg der Gewalt und der Eskalation gewählt. An Rechtfertigungen hat es nie gefehlt: Wir müssen mit aller Härte auf die Anschläge reagieren; wir müssen diejenigen verfolgen, die sie initiiert und ausgeführt haben; wir müssen den Druck verstärken, bis sie die Geiseln zurückgeben; wir müssen den Libanon als Antwort auf die Raketen angreifen; wir müssen dem Iran signalisieren, dass wir zu seiner Unterstützung der Hisbollah nicht schweigen werden.
Letztlich ist die automatische Entscheidung für eine gewaltsame Eskalation jedoch selbstmörderisch. Diese Haltung ist so weitreichend, dass sie uns nicht erlaubt, grundlegende, existenziell wichtige Fragen zu stellen: Hat der verbrecherische Völkermord, den wir in Gaza begehen, die Sicherheit eines einzigen Menschen in Israel erhöht? Sind wir jetzt, während wir auf die iranische Antwort warten, sicherer? Steht Israel auf der Weltbühne besser da, als es am 7. Oktober der Fall war?
Die offensichtliche Antwort auf all diese rhetorischen Fragen ist ein eindeutiges Nein. Warum also setzen wir diesen zerstörerischen Weg fort, wenn der Preis, den wir dafür zahlen, immer höher wird? Warum feiern vernünftige Menschen den Tod Haniyehs als eine brillante Operation, wenn wir nicht einmal den Preis abschätzen können, den sie kosten wird?
Es ist einfach, Netanjahu alles in die Schuhe zu schieben, zu sagen, dass der Krieg seinem politischen Überleben dient und dass er ein Interesse daran hat, ihn auf unbestimmte Zeit fortzusetzen. Das ist richtig, aber es ist ein zu einfacher Ausweg. Netanjahu hat sich in der Tat dafür entschieden, das Leben zehntausender Palästinenser in Gaza, das Leben israelischer Geiseln und unsere kollektive Sicherheit für seinen persönlichen Vorteil zu opfern. Aber die israelische Öffentlichkeit hat sich von Anfang an mit erschreckender Freude auf den tödlichen Weg begeben, den Netanjahu vorgegeben hat.
Es sind nicht nur die Rachegelüste, die nach dem 7. Oktober durch die israelische Gesellschaft strömten und eine Mordlust entfachten, wie wir sie nicht kannten. Es ist die Auslöschung der Fähigkeit, sich etwas anderes als sinnlose Gewalt vorzustellen. Die israelische Öffentlichkeit ist mit der beunruhigenden Tatsache konfrontiert, dass ihr die Mittel fehlen, ihre eigenen Interessen zu hinterfragen und zwischen verschiedenen strategischen Handlungsoptionen zu entscheiden. Denn im israelischen Werkzeugkasten befindet sich nichts außer einem Hammer - und ein Land ohne eine Auswahl an Werkzeugen ist ein sehr gefährliches Land für seine BürgerInnen, und noch mehr für die von ihm okkupierte Bevölkerung.
Zehn Monate nach dem Massaker hätte die israelische Gesellschaft ganz woanders sein können. Sie könnte bereits dabei sein, sich von ihrem schrecklichen Trauma zu erholen, und alle Geiseln wären lebend nach Hause zurückgekehrt. Zehntausende von BürgerInnenn wären nicht aus ihren Häusern im Norden und Süden evakuiert worden, und das Leben so vieler Soldaten wäre verschont geblieben. Der Gazastreifen wäre nicht zum Hiroshima des Nahen Ostens geworden, mit fast zwei Millionen belagerten PalästinenserInnen, die entwurzelt und ausgehungert sind. Stattdessen haben uns zehn Monate krimineller Entscheidungen an einen sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Abgrund gebracht, den sich nicht einmal die größten Pessimisten unter uns hätten vorstellen können.
Das ist keine Weisheit im Nachhinein. Es gab diejenigen unter uns, die vor den Folgen des schrecklichen Weges gewarnt haben, den Israel von Anfang an eingeschlagen hat, und die für eine Alternative eingetreten sind. Wir wurden als DefätistInnen, als LeugnerInnen der Massaker und als Hamas-AnhängerInnen denunziert.
Selbst jetzt, vor dem Hintergrund des Jubels nach den Attentaten, wiederholen wir: Dies ist ein zerstörerischer, törichter, gefährlicher Weg, und wir können den Kurs immer noch ändern.
Aber eine Gesellschaft, die sich einen gewaltfreien Ansatz nicht vorstellen kann, ist zum Untergang verurteilt. Und es ist erschreckend zu sehen, wie wir diesen Weg immer noch sehenden Auges beschreiten.
Orly Noy ist Redakteurin bei Local Call, politische Aktivistin und Übersetzerin von Lyrik und Prosa aus dem Persischen. Sie ist Vorsitzende des Vorstands von B‘Tselem und Aktivistin in der politischen Partei Balad.
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