Nachdem die PalästinenserInnen auf Anweisung der israelischen Armee nach Westen geflohen waren, wurden sie schon bald darauf von Panzern, Drohnen und Scharfschützen eingekesselt und unter Beschuss genommen.
Von Mahmoud Mushtaha, 10. Juli 2024, +972Mag
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Am Sonntag, dem 7. Juli, befahl die israelische Armee den BewohnerInnen von drei Stadtvierteln im Osten von Gaza-Stadt, vor einer erneuten Bodeninvasion unverzüglich in Richtung Westen zu evakuieren. Tausende von vertriebenen Familien verließen ihre Unterkünfte und suchten verzweifelt nach einem Platz zum Übernachten in den westlichen Stadtteilen. Innerhalb weniger Stunden griffen die israelischen Streitkräfte jedoch genau diese Gebiete an.
Der Evakuierungsbefehl kam weniger als zwei Wochen, nachdem die israelischen Streitkräfte erneut in das Viertel Shuja'iya im Osten von Gaza-Stadt eingedrungen waren. Angesichts der anhaltenden Vertreibungen und Bodenangriffe in den südlichen Städten Khan Younis und Rafah sowie der Bombardierungen im gesamten Gazastreifen - auch in ausgewiesenen „sicheren Zonen“ - gibt es für die PalästinenserInnen keine Möglichkeit, sich den israelischen Angriffen zu entziehen.
Mahmoud Al-Shawa, 28, floh mit seiner Familie aus dem östlichen Stadtteil Al-Tuffah, nachdem die Armee sie am Sonntag dazu aufgefordert hatte. Er berichtete, wie Tausende andere Vertriebene aus Al-Tuffah, Al-Daraj und der Altstadt in den wenigen verbliebenen Räumen von Universitätsgebäuden und UN-Schulen Zuflucht suchten. Nachdem sich diese schnell füllten, waren viele gezwungen, auf der Straße zu schlafen.
Al-Shawas Familie hatte das Glück, in der Al-Zeitoun Preparatory School im westlichen Stadtteil Al-Rimal vorübergehend Schutz zu finden, aber auch das bot keine Sicherheit vor dem, was bald darauf folgen sollte. „Gegen zwei Uhr nachts begannen die Bombardierungen aus allen Richtungen“, berichtet er gegenüber +972. „Der Himmel stand in Flammen. Alle haben geschrien.“
„Wir waren auf dem Schulhof, und Granatsplitter fielen auf uns“, so Al-Shawa weiter. „Wir versuchten, Schutz in den Klassenzimmern zu finden, aber die Quadcopter-Drohnen schossen direkt auf uns. Plötzlich fiel mein Cousin zu Boden - er war am linken Arm von einem Schrapnell getroffen worden. Auf dem Boden lagen Dutzende Körper. Ich bin überzeugt davon, dass Menschen getötet wurden. Ich versuchte, meine Mutter aus dem Chaos zu führen, aber plötzlich blieb sie stehen und erbrach sich aufgrund der vielen Leichen auf dem Boden. Ich hielt ihr die Augen zu, damit sie sie nicht sehen musste.“
„Wir hörten das Geräusch von Panzern der Armee, und dann schrie jemand: Die Armee hatte das Hauptquartier der UNRWA [Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge] umstellt, das nur wenige Meter von uns entfernt war“, fuhr er fort. „Irgendwie konnten wir aus der Schule fliehen, mit israelischen Panzern im Rücken und Quadcoptern, die aus dem Himmel auf uns schossen. Es war wie ein Erdbeben oder der Ausbruch eines Vulkans. Es herrschte völlige Dunkelheit - nur die Farbe von Blut und Raketen erhellte die Umgebung.“
Al-Shawa und seine Familie erreichten schließlich die Majda-Wasila-Schule, die etwas weiter von den anrückenden israelischen Truppen entfernt war. Doch als sie aus ihrem ersten Unterschlupf flohen, sahen sie zwei gelähmte Mädchen in Rollstühlen, die wahrscheinlich im nahe gelegenen UNRWA-Rehabilitationszentrum Schutz gesucht hatten und nun auf sich allein gestellt waren. In der Menge der Flüchtenden, so erzählte Al-Shawa, liefen die Mädchen Gefahr, zertrampelt zu werden - aber er konnte ihnen nicht helfen.
Nach Angaben des zivilen Rettungsdienstes in Gaza wurden in dieser Nacht Dutzende von Menschen bei israelischen Angriffen getötet oder verwundet. Aufgrund der intensiven Militäroperationen in dem Gebiet konnten die Notfallteams die Opfer jedoch nicht erreichen, um die Zahlen zu überprüfen, und Al-Rimal ist zu einer Geisterstadt geworden.
Wenn wir versuchen zu evakuieren, werden wir erschossen; wenn wir bleiben, werden wir getötet
Wie Al-Rimal wurde auch das Viertel Al-Sabra im Südwesten von Gaza-Stadt am Sonntagabend ohne Vorwarnung vom israelischen Militär angegriffen. Viele vertriebene Familien hatten nach dem anfänglichen Evakuierungsbefehl aus den östlichen Stadtvierteln Zuflucht gesucht. Doch gegen 23 Uhr hörten die AnwohnerInnen Explosionen und israelische Hubschrauber in der Gegend. „Was wir sahen, war kein sicheres Gebiet, sondern ein Schlachtfeld“, sagte Alaa Sbaih, eine 24-jährige Bewohnerin von Al-Sabra, gegenüber +972.
Zuvor hatte Sbaih ihr Haus für Verwandte geöffnet, die aus dem östlichen Stadtteil Al-Daraj geflohen waren. Doch bald saßen sie in der Falle: Als die Bombardierungen am nächsten Tag weitergingen, entdeckten sie, dass israelische Scharfschützen auf den nahe gelegenen Gebäuden der Al-Azhar-Universität, der Islamischen Universität und dem Al-Sousi-Turm Stellung bezogen hatten und auf jeden schossen, der sich bewegte.
Sbaih hat Angst, sich den Fenstern zu nähern, um zu sehen, was draußen vor sich geht - und das aus gutem Grund. „Unser Nachbar aus der Al-Qasas-Familie versuchte zu fliehen, aber als er sein Auto erreichte, schoss ein Scharfschütze auf ihn und ließ ihn blutend auf der Straße liegen, während seine Kinder nach ihm schrien“, berichtet Sbaih. In der Tat haben israelische Soldaten gegenüber +972 und Local Call ausgesagt, dass palästinensische ZivilistInnen im gesamten Gazastreifen routinemäßig erschossen werden, nur weil sie sich in Gebieten aufhalten, in denen israelische Streitkräfte operieren, oder auch nur, weil sie aus einem Fenster schauen.
Erst am Montagnachmittag erließ die israelische Armee schließlich einen zweiten Evakuierungsbefehl und wies die Menschen in den westlichen Vierteln Al-Sabra, Al-Rimal und Tal Al-Hawa an, nach Süden in die Stadt Deir Al-Balah zu evakuieren. Da die israelischen Streitkräfte jedoch in dem Gebiet bleiben, stehen Sbaih und ihre Angehörigen vor einer unmöglichen Entscheidung. „Wir haben keine andere Wahl als den Tod: Wenn wir versuchen zu evakuieren, werden wir erschossen, und wenn wir bleiben, werden wir getötet.“
Maher Mamdooh, 21, erzählte +972, dass er mit mehr als 30 seiner Verwandten erst vor zwei Wochen aus Shuja'iya zwangsumgesiedelt wurde und dann zwischen Sonntagnachmittag und Montagmorgen dreimal fliehen musste: von Al-Daraj zur Grenze von Al-Rimal, dann ins Zentrum von Al-Rimal und schließlich weiter nach Norden nach Jabalia. Während dieser Tortur verlor er sein gesamtes Hab und Gut und wurde von einigen seiner Verwandten getrennt.
„Wir flohen mitten in der Nacht aus dem Haus, wir rannten in alle Richtungen und niemand wusste, wohin er gehen sollte“, berichtete er. „Überall gab es Explosionen, und wir waren von Hubschraubern, Quadcoptern und Panzern umgeben. Meine Verwandten waren bei uns, aber jetzt wissen wir nicht, wo sie hin sind. Es war eine Nacht wie in der Hölle.“
Am Mittwoch erließ die israelische Armee einen dritten neuen Evakuierungsbefehl, der die PalästinenserInnen aufforderte, aus dem gesamten Gebiet von Gaza-Stadt zu fliehen. Die erneute Offensive hat auch die beiden verbliebenen Krankenhäuser in Gaza-Stadt gezwungen, ihre Türen zu schließen: Al-Ahli - das von Raketen getroffen wurde - und die Patient's Friends Benevolent Society. Al-Shifa, das größte Krankenhaus in Gaza, liegt seit der israelischen Belagerung des Gebiets im März in Trümmern.
Nach neun Monaten der endlosen Vertreibung, des Tötens und des Verhungerns ist das Leben laut Mamdooh längst unerträglich geworden. „Wie oft müssen wir noch sterben? Es gibt keine Möglichkeit mehr für Israel, uns zu töten. Niemand auf der Welt kann fühlen, was ich jetzt fühle.“
+972 hat die israelische Armee um eine Stellungnahme gebeten. Ihre Antwort wird hier veröffentlicht, sobald sie vorliegt.
Mahmoud Mushtaha ist ein freiberuflicher Journalist und Menschenrechtsaktivist aus Gaza.
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