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Interview mit einem Arzt aus Gaza: "Eine schwangere Frau verlor ihren Mann, ihre Kinder, ihr Bein - und ihr Baby"

Der Beruf des Arztes im Gazastreifen ist heute mit einem fast unauslöschlichen Trauma verbunden. Dr. Mohammed Abu Mughaisib hat dies aus erster Hand erfahren, von Khan Younis bis Rafah - aber er arbeitet weiter, obwohl seine Familie den Gazastreifen verlassen hat.


Interview von Nesrine Malik, The Guardian, 29. Juli 2024


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Dr. Mohammed Abu Mughaisib ist der stellvertretende medizinische Koordinator von Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Palästina. Seine Arbeit erstreckt sich auf Nablus, das Westjordanland, Jerusalem und Gaza.

 

Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit.

Alles ändert sich dauernd. Wir öffnen und schließen ständig etwas. Letzten Dezember haben wir zum Beispiel ein Feldkrankenhaus in Rafah eröffnet. Wir hatten einen Operationssaal mit 60 Betten und eine Ambulanz zur Behandlung von PatientInnen mit Traumata und Verbrennungen. Leider mussten wir das Krankenhaus im Mai dieses Jahres evakuieren. Wir mussten bereits im Februar aus Khan Younis evakuiert werden, als dort eine Militäroperation stattfand. Dasselbe gilt für Gaza Stadt - im April mussten wir das al-Shifa-Krankenhaus evakuieren. Jetzt sind wir nur noch im Nasser-Krankenhaus [in Khan Younis] tätig. Wir haben zwei Operationssäle und eine Ambulanz. Seit wir vor zwei Monaten eröffnet haben, sind wir voll ausgelastet. Wir entlassen einen Patienten und nehmen fünf auf.

Wir haben auch eine Klinik an der Westküste von Khan Younis, die medizinische Grundversorgung und Frauengesundheit für die Binnenflüchtlinge dort anbietet. Wir haben die Aktivitäten in Gaza-Stadt im Norden teilweise wieder aufgenommen. Wir haben dort noch einige MitarbeiterInnen, etwa zwanzig palästinensische Staatsangehörige, die Gaza-Stadt nach dem Evakuierungsbefehl nicht verlassen wollten. Sie haben wirklich sehr gelitten. Sie mussten eine Zeit lang hungern. Jetzt sitzen sie fest, und wir haben eine Klinik eröffnet, in der Trauma- und Verbrennungspatienten versorgt und physiotherapeutisch betreut werden.


Welche Art von Verletzungen und Krankheiten behandeln Sie?

Alle Arten von Trauma-Verletzungen. Etwa 60 % sind Kinder und Frauen. Schwere Fälle, vor allem Explosionsverletzungen an den unteren Extremitäten und im Bauchbereich. Komplizierte Verletzungen. Es ist uns gelungen, eine Patientin aus Gaza-Stadt zu evakuieren, eine Frau von Mitte 20. Sie war schwanger. Sie hatte eine Explosionsverletzung, die sie sich bei einem Luftangriff auf ihr Haus zugezogen hatte. Sie verlor ihren Mann, ihre Kinder, ihr Bein wurde amputiert, und sie verlor auch ihr Baby. Es war wirklich sehr schwierig für alle, für das medizinische Personal, diesen Fall zu sehen.


Wie sieht es mit der Versorgung aus?

Seit Beginn der Operation in Rafah am 6. Mai haben wir keine medizinischen Hilfsgüter mehr erhalten. Wir haben Lastwagen, die auf der ägyptischen Seite der Grenze warten. Wir haben Lastwagen im Norden, die mehrmals gecancelt wurden. Wir schlagen jetzt Alarm: Wenn wir in den nächsten Wochen keine Lieferungen erhalten, müssen wir unsere Tätigkeit möglicherweise einstellen.


Das muss einen hohen Tribut an das Personal fordern ...

Das medizinische und das nichtmedizinische Personal - wir sind alle bestürzt. Manchmal sagen wir, wir können froh sein, dass es unseren Familien gut geht, dass es mir gut geht. Wir sehen Kinder mit Amputationen, Kinder, die ihre ganze Familie verloren haben. Es ist sehr schwierig, emotional und psychologisch. Wir versuchen, damit fertig zu werden, denn das wird nicht aufhören, solange der Krieg nicht zu Ende ist.


Wo waren Sie am 7. Oktober, als der Angriff auf Gaza begann?

Ich war in Gaza-Stadt in meinem Haus und wusste, dass nach diesem [den Hamas-Angriffen] etwas passieren würde. Also zog ich mit meiner Familie in das Büro von Ärzte ohne Grenzen in Gaza-Stadt, um richtig arbeiten zu können und die Maßnahmen zu koordinieren. Ich blieb etwa 10 Tage in dem Büro. Am Anfang gelang es uns, zumindest die Krankenhäuser mit Notvorräten zu versorgen und die verbliebenen Teams zu organisieren.


Wann haben Sie das Büro verlassen?

Eines Tages erteilte die IDF der Bevölkerung von Gaza-Stadt den Befehl, in den Süden zu evakuieren. Wir besprachen uns mit unseren Managern im Büro in Jerusalem, und man riet uns, die Anweisungen zu befolgen, da es sich eine ernste Warnung handelte. Also zog ich mit meiner Familie in das mittlere Gebiet [von Gaza], in das Lager Nuseirat. Ich habe einen Freund dort, der mich und meine Familie in seinem Haus aufgenommen hat.


Wie viele waren Sie?

Meine drei Kinder, meine Frau und mein Vater - er ist 85 Jahre alt. Außerdem kamen meine Schwester, ihr Mann und ihr Sohn zu uns, als wir Gaza-Stadt verließen. Meine jüngste Tochter ist 14, meine Söhne sind 21 und 20.


Wie lange waren Sie im Lager? Und wie sahen die Bedingungen aus?

Ich blieb fast 80 Tage im Lager Nuseirat. Das Lager war voll von Menschen wie uns, die aus Gaza-Stadt im Norden gekommen waren. Laut der israelischen Seite war es damals eine „sichere Zone“; tatsächlich jedoch gab es fast jeden Tag Luftangriffe auf das Lager und es gab viele Opfer.


In welchem Zustand befanden Sie sich geistig?

Es war das erste Mal, dass wir umziehen mussten. Ich habe die letzten 20 Jahre in Gaza gelebt. Auch vorher habe ich während der Kriege gearbeitet, aber wir haben unsere Häuser nie verlassen. Wir haben alles zurückgelassen: unser Haus, unsere Erinnerungen, alles. Wir dachten, wir würden nach 10 Tagen zurückkommen. Es war ganz anders, als wir erwartet hatten. Es war sehr schwierig, an trinkbares Wasser zu kommen. Es gab keine Lebensmittel auf dem Markt. Es gab keinen Strom.

Die Spezialisten für psychische Gesundheit in der Welt müssen wirklich einen neuen Begriff nur für Gaza entwickeln, für das, woran wir psychologisch leiden. Es ist eine Mischung aus PTBS, Angst, Beklemmung und Depression. Man weiß nicht, wohin man gehen soll. Man ist nicht mehr zu Hause. Man weiß nicht, was passieren wird. Man weiß nicht, ob das Haus neben einem angegriffen wird und man Kollateralschäden davonträgt. Einmal, in dem Moment, als ich Nuseirat verließ, erhielt ich einen Anruf, dass vor dem Haus, in dem wir Schutz gesucht hatten, ein Luftangriff stattgefunden hatte. Normalerweise sitzen meine beiden Söhne draußen mit anderen jungen Menschen und unterhalten sich. In diesem Moment waren sie im Haus. Stellen Sie sich vor, sie wären draußen gewesen; Gott bewahre - sie hätten verletzt oder getötet werden können. Damals wurden etwa 24 Menschen getötet, und die Hälfte von ihnen war einfach nur gerade zufällig auf der Straße.


Sie haben also beschlossen, dass es nicht sicher war und haben wieder evakuiert?

Die Lage wurde immer angespannter. Ich beschloss mit meiner Frau und meiner Schwester, dass wir wieder evakuieren müssen. Wir diskutierten stundenlang darüber, wohin wir gehen sollten, wie wir gehen sollten. Meine Schwester arbeitet bei der UNO. Und ihre Arbeit bot ihr eine Unterkunft im Westen von Rafah. Es war nur ein Zimmer, und wir waren neun Personen. Wir hatten nicht genug Matratzen, einige von uns lagen auf Decken auf dem Boden. Es war zu dieser Zeit sehr, sehr kalt, aber wir hatten keine andere Wahl. Wir fühlten uns zumindest ein wenig sicher, da Rafah zu dieser Zeit nicht angegriffen wurde.


Wie kamen Sie an Lebensmittel, Wasser, Hygieneartikel, Gesundheitsprodukte usw.?

Nichts war einfach. Es war sehr teuer. Zehnmal mehr als der normale Preis. Und es gab nur wenige Möglichkeiten. Wir haben uns hauptsächlich von Konserven und ein paar Keksen ernährt, die die UNO verteilt hat. Das war wirklich nur dazu da, uns am Leben zu erhalten und den Magen zu füllen. Ich habe einen Bruder im Vereinigten Königreich und einen Bruder in den USA. Beide haben versucht, uns aus dem Gazastreifen zu evakuieren. Im Februar gelang es ihnen, meine ganze Familie – mit Ausnahme von mir –nach Ägypten zu evakuieren. Wir gingen alle zusammen zum Grenzübergang Rafah, mein Name stand jedoch nicht auf der Liste. Sie ließen meine Familie passieren. In dem Moment, als die ägyptische Seite ihre Pässe abstempelte, war ich total erleichtert. Es war, als hätte ich all die Zeit einen Berg auf der Brust gehabt, der nun weggenommen wurde. Für mich war es eine große Verantwortung. Ich hatte Angst um sie. Von diesem Tag an konnte ich mich mehr auf meine Arbeit konzentrieren.


Sind Sie danach wieder weitergezogen?

Ich bin erst letzten Monat umgezogen, als die Militäroperation in Rafah begann und der Ort, an dem ich wohnte, nicht mehr in der humanitären Zone lag. Jetzt wohne ich in diesem Zelt in al-Mawasi. Letzte Woche habe ich zwei Tage lang im MSF-Büro geschlafen, weil die Lage sehr angespannt war. Es flogen Kugeln, einige Zelte wurden getroffen und Menschen wurden verletzt. Aber dann bin ich zurückgekommen.




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