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Haaretz: Was habe ich gemacht, während Israel Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza tötete?

Die Israelis haben sich offenbar an die Gräueltaten des Gaza-Krieges gewöhnt, während sie ihr tägliches Leben weiterführen.


Von Michael Sfard, Haaretz, 28. Oktober 2024


(Originalbeitrag in englischer Sprache)


In der vergangenen Woche hat das israelische Militär die Stadt Beit Lahiya im nördlichen Gazastreifen bombardiert. Nach Angaben der örtlichen Gesundheitsdienste wurden etwa 80 Menschen durch die Bomben getötet. In Videos, die vom Sender Al Jazeera ausgestrahlt wurden, der derzeit in Israel nicht auf Sendung ist, dessen Berichte aber auf YouTube abrufbar sind, sieht man, wie kleine Kinder aus den Trümmern gezogen werden, ihre ganzen Körper mit weißlich-grauem Pulver bedeckt. Einige werden nicht überleben. Andere werden überleben, aber einen oder beide Elternteile verlieren und sich zu den Zehntausenden von Kindern im Gazastreifen gesellen, die durch den Krieg zu Waisen geworden sind.


Die ersten Berichte über den Beschuss stammen von 1.00 Uhr nachts, aber ich weiß nicht, um wie viel Uhr er tatsächlich stattfand. Ich weiß also nicht, ob ich, als unser Pilot die Bomben abwarf, gerade die dritte Folge der vierten Staffel der wunderbaren italienischen HBO-Produktion „Mein brillanter Freund“ sah oder ob ich bereits im Bett lag und einen der Krimis von Georges Simenon las. Aber ich kann ziemlich genau abschätzen, was ich während des Massenmordes am Vorabend gemacht habe.


Das israelische Militär belagerte zu diesem Zeitpunkt zwei Krankenhäuser im Flüchtlingslager Jabalya, stellte den Strom ab und beschoss die Umgebung. Nach Angaben der örtlichen Gesundheitsdienste im Lager wurden durch den Beschuss 46 Menschen getötet (21 davon waren Frauen und Kinder). Nun, während all dies in Jabalya geschah, aßen meine Familie und ich asiatisches Essen, das wir in einem Restaurant in Tel Aviv bestellt hatten, und später sah ich mir mit meinem jüngsten Sohn einen Actionfilm aus den späten 1980er Jahren an, damit er die filmischen Meisterwerke kennenlernte, mit denen ich aufgewachsen bin.

Schon in den ersten Tagen des Krieges wurde deutlich, dass sich die israelische Kriegsführung nicht den Beschränkungen des Völkerrechts beugen wird. Drei Tage nach Ausbruch des Krieges warnte ich in einem Artikel in dieser Zeitung: „In keinem Zusammenhang kann ein solches Vorgehen legal oder moralisch sein. Selbst eine Belagerung, eine militärische Strategie, die unter bestimmten Bedingungen legal sein kann, darf nicht beinhalten, dass der Zivilbevölkerung im belagerten Gebiet das Überlebensnotwendige vorenthalten wird.“ Zehn Tage später warnte ich: „Die unfassbare Grausamkeit, der wir ausgesetzt waren, ist in unsere Seelen eingedrungen. Und wie nuklearer Treibstoff hat sie uns in rasender Geschwindigkeit in eine moralische Hölle getrieben.“ Ich schrieb diese Worte, ohne mir der Tiefe des Abgrunds bewusst zu sein, auf den wir zusteuerten.


In den folgenden Wochen und Monaten hat Israel jeden Rest von Menschlichkeit verloren. Ein Verteidigungskrieg, der sich rechtfertigen ließe, hat sich in einen rücksichtslosen Rachefeldzug gegen 2,3 Millionen Menschen verwandelt. Seit über einem Jahr scheint die Vorgehensweise des israelischen Militärs in dem am dichtesten besiedelten und ärmsten Streifen der Welt von den Podiumsteilnehmern von Channel 14 gesteuert zu werden. Das Schlachtfeld ist voll von entsetzlichen Beweisen für beispiellose Kriegsverbrechen: die wiederholte gewaltsame Vertreibung von etwa anderthalb Millionen Einwohnern des Gazastreifens aus ihren Häusern und dann aus den Orten, in die sie geflüchtet sind, ohne die Zusage, dass sie nach Beendigung der Kämpfe zurückkehren dürfen; die Bombenangriffe, die, auch wenn sie nach Angaben des IDF-Sprechers Hamas-Aktivisten treffen sollen, in Wirklichkeit mit blutiger Gleichgültigkeit bei jedem Angriff Dutzende von BürgerInnen töten; die Kriegsstrategie, die zuweilen den vorsätzlichen Entzug humanitärer Hilfe und den Einsatz von Hunger als Methode der Kriegsführung beinhaltet, um militärische Erfolge zu erzwingen; die mittelalterliche Belagerung, die Israel in den letzten Wochen im nördlichen Gazastreifen verhängte und die Tausende von Kindern, Frauen, älteren Menschen und unschuldigen Männern tötet und verhungern lässt.

Dresden verblasst im Vergleich zu dem, was wir in Gaza getan haben. Wir haben wahllos bombardiert, eindeutig zivile Ziele in Schutt und Asche gelegt und die zivile Infrastruktur zerstört, die das Leben im Gazastreifen ermöglichte. Gaza wurde zu einem riesigen Ground Zero. Wir haben etwa zwei Prozent der Bevölkerung getötet, die überwiegende Mehrheit der Opfer waren ZivilistInnen.


Und das Schlimmste daran ist, dass wir uns daran gewöhnt haben. Die Israelis zucken nicht mit der Wimper, wenn sie Berichte über Dutzende von Kindern und Frauen hören, die bei einem Bombenangriff getötet wurden. Es kümmert sie einfach nicht. Diese Anschläge, bei denen Dutzende von Menschen, die genau wie wir lieben, träumen, leiden, Familie und Freunde haben, von unserem Militär abgeschlachtet werden (mir fällt kein anderes Wort ein), sind zur Routine geworden. Früher wurde über jeden Tod von „Unschuldigen“ ausführlich berichtet und löste sogar eine öffentliche Debatte aus. Heute, ein Jahr nach Kriegsbeginn, schaffen es Berichte über Vertriebenenlager, in denen Flüchtlinge verbrannt wurden (und das ist keine Metapher!), kaum noch in die flüchtigen Kriegsnachrichten auf den Websites. Wir vernichten, ja, v-e-r-n-i-c-h-t-e-n, das Leben im Gaza-Streifen. Und die besten HBO-Serien erscheinen weiterhin auf unseren Streaming-Plattformen.


Ich habe mich immer gefragt (wie viele vor mir), wie das Leben der „normalen“ Menschen aussah, während ihr Land Gräueltaten verübte, wie es sich anfühlte, eine Stunde von täglichen Massentötungen entfernt zu sein. Haben die Menschen auf der anderen Seite der Belagerung ein „normales“ Leben geführt? Gingen sie noch ins Kino, tranken sie noch Kaffee mit Freundinnen und Freunden? Warum haben sie nicht rebelliert, sich den Vernichtungswerkzeugen entgegengestellt und sie mit ihrem Körper aufgehalten? Ich habe nie eine Antwort auf diese Frage gefunden, da ich nicht in einem solchen Land gelebt habe.


Nun aber weiß ich es.


Ich muss berichten, dass das Leben immer noch aus Banalitäten besteht. Ein neues Paar Schuhe für das Kind kaufen, das Auto reparieren, ein Familienstreit am Feiertagstisch und ein Morgenkaffee in einem Café in der Nähe. Es stimmt, wir hören Luftangriffsalarm und schmerzliche Nachrichten über gefallene Soldaten, viele Israelis sind auf der Flucht, und der Gedanke an unsere Geiseln verschlägt einem den Atem. Diese Routine verstärkt nur den Kontrast: Wie kann die Sonne am Morgen aufgehen und in den Cafés noch Kaffee und Croissants verkauft werden, während unsere Schwestern und Brüder in der Hölle der Gaza-Tunnel verrotten?


Nur sehr wenige Israelis sind gegen diesen grausamen Krieg. Ein Krieg, der das Leben von Hunderttausenden in Gaza zur Hölle macht und auch die Rückkehr unserer Geiseln verhindert. Nur wenige schaffen es, die nationalistische, militaristische Indoktrination der israelischen Mainstream-Medien zu durchschauen, deren Verrat an ihrer Berufung und ihre bewusste Entscheidung, uns nichts von dem zu sagen, was wir in Gaza tun, in die Geschichtsbücher eingehen wird. Nur sehr wenige hören die Stimmen, die aus Gaza kommen, und auch sie sind wie gelähmt. Dieser Krieg hat das Stadium erreicht, in dem die Gesellschaft des Gazastreifens tot ist, und noch immer können wir an nichts anderes denken, als Petitionen zu unterschreiben, zu demonstrieren, Petitionen einzureichen und Meinungsartikel zu schreiben. Aber das ist, wie mir einmal jemand über meine Petitionen beim Obersten Gerichtshof sagte, gleichbedeutend mit dem Versuch, den Ozean mit einem Teelöffel trocken zu legen.

Generationen von Israelis werden mit dem leben müssen, was wir im letzten Jahr in Gaza getan haben. Generationen von Israelis werden ihren Kindern und Enkelkindern erklären müssen, warum wir uns so verhalten haben. Einige werden erklären müssen, warum sie sich nicht geweigert haben, zu bombardieren. Und einige werden erklären müssen, warum sie nicht mehr getan haben, um das Grauen zu beenden.


Michael Sfard gehört zu Israels renommiertesten Anwälten und ist Experte für Humanitäres Völkerrecht und Kriegsrecht.




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