Eine zerstörte Universität im Norden des Gazastreifens wird zum Zufluchtsort
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Der Beitrag von Ruwaida Amer erinnert an den Scholastizid in Gaza. Israels Vernichtung umfasst die systematische Zerstörung des Bildungswesen, der Schulen, der akademischen Gebäude (alle zwölf Universitäten im Gazastreifen wurden zerstört), die tödlichen Angriffe auf Gelehrte und Intellektuelle und auf 94 Universitätsprofessoren, vom Dichter und Literaturprofessor Refaat Alareer über den Dekan der Krankenpflege der Islamischen Universität von Gaza, Nasser Abu Al-Nour, bis zum Wissenschaftler und Rektor Sufyan Tayeh – sowie die Ermordung zahlloser StudentInnen. Sufyan Tayeh beispielsweise war Physikprofessor und zählte im Jahr 2021 zu den zwei Prozent der führenden Wissenschaftsforschern der Welt, er galt als führender Forscher in Physik und angewandte Mathematik. Sufyan Tayeh wurde zusammen mit seiner Frau und seinen vier kleinen Kindern im Dezember 2023 durch einen israelischen Luftangriff getötet.
Vor einem Jahr, im April 2024, zeigten sich die Vereinten Nationen „zutiefst besorgt“ über einen sogenannten Scholastizid in Gaza – d.h. der Auslöschung jeglicher Bildungsmöglichkeiten – und sprachen von einer systematischen Zerstörung des Bildungssystems und der Bildungsinfrastruktur in Gaza durch die israelische Armee. Damals waren bereits 80 Prozent aller Schulen beschädigt oder vollständig zerstört. Laut aktuellen Daten, die der Wissenschaftler Yusuf Sayed von der Universität Cambridge im April auf der Hamburger Konferenz „Academia under Attack“ vorstellte, gelten heute rund 92 Prozent der Bildungsinfrastruktur in Gaza als beschädigt und 85 Prozent sogar als vollständig zerstört.
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Tausende von PalästinenserInnen, die erneut aus ihren Häusern vertrieben wurden, drängen sich auf dem Campus der Islamischen Universität westlich von Gaza-Stadt zusammen, wo das Verbrennen von Büchern die einzige Möglichkeit ist, Wasser zu kochen, Essen zu erhitzen und sich warm zu halten.
Von Ruwaida Amer, +972Mag, 15. April 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache und mit dazugehörendem Bildmaterial)
In den frühen Morgenstunden des 22. März verließen Omar Al-Za'anin, 60, und seine sechsköpfige Familie bei starkem Regen eilig ihr Haus im nördlichen Gaza-Viertel Beit Hanoun. Fünf Nächte zuvor, als Israel eine Welle tödlicher Angriffe auf die Enklave auslöste und dabei 400 Menschen tötete und Hunderte verletzte, warf die Armee Evakuierungsflugblätter über Al-Za'anins Viertel ab, erklärte es zur „Kampfzone“ und forderte die BewohnerInnen auf, sofort in bekannte Schutzzonen im Westen von Gaza-Stadt zu evakuieren.
Während viele den nördlichen Gazastreifen in Richtung Khan Younis verließen, suchten Hunderte von Familien Zuflucht in der Islamischen Universität westlich von Gaza-Stadt, die seit der Bombardierung des Campus durch Israel nur wenige Tage nach dem 7. Oktober schwer beschädigt ist. Die Familie von Al-Za'anin war eine von ihnen.
„Ich habe nicht einmal in Erwägung gezogen, in UNRWA-Schulen Zuflucht zu suchen, weil die Armee diese immer wieder ins Visier nimmt“, erklärt er und hielt die Universität für die sicherste Option.
Nach mehreren Vertreibungen hatte sich die Familie von Al-Za'anin während des letzten Waffenstillstands gerade wieder sicher gefühlt, als sie nach Beit Hanoun zurückkehrte. „Wir wollten unsere landwirtschaftlichen Flächen bestellen und unser Leben und das unserer Kinder wieder aufbauen - wir dachten, das Leiden sei vorbei“, sagt er gegenüber +972. Jetzt, so fuhr er fort, „stehen wir immer noch unter dem Schock der Rückkehr des Krieges“, da Israel den Gazastreifen mit neuer Intensität angreift.
Jeder Tag beginnt mit der Überlegung, wie man Wasser und Brot beschaffen kann. „Wir leben von Hilfsgütern, wir haben überhaupt kein Einkommen. Alles ist teuer, doppelt so teuer“, erklärt Al-Za'anin. Trotz des Befehls der israelischen Armee, den Westen zu evakuieren, fühlt sich die Universität nicht viel sicherer an als Beit Hanoun. „Ich bitte die Welt, uns mit Menschlichkeit zu begegnen, den Krieg zu beenden und uns die Chance zu geben, mit unseren Kindern zu leben.“
Der Unterschlupf ist auch eine schmerzhafte Erinnerung für die Vertriebenen daran, dass die Jugend des Gazastreifens seit anderthalb Jahren nichts mehr hat, was einer vernünftigen Ausbildung gleichkommt. „Universitäten sind dazu da, unsere Kinder auszubilden, und nicht als Zufluchtsort für die Vertriebenen“, sagt Al-Za'anin. Im Januar letzten Jahres waren alle Schulen im Gazastreifen geschlossen worden, darunter auch alle zwölf Universitäten, die zu verschiedenen Zeitpunkten Ziel israelischer Angriffe waren. Die 90 000 UniversitätsstudentInnen, die vor dem Krieg im Gazastreifen eingeschrieben waren, konnten ihr Studium das zweite Jahr in Folge nicht fortsetzen, zudem wurden Tausende von StudentInnen und DozentInnen getötet.
Für Suham Naseer, eine 50-jährige Mutter von acht Kindern, ist die Islamische Universität der achte Ort, an den sie und ihre Familie seit dem Beginn des israelischen Angriffs im Oktober 2023 vertrieben wurden. Naseer erklärt, dass die Menschen, die in der Universität Zuflucht gefunden haben, gezwungen sind, die verstreuten akademischen Bücher einzusammeln und zu verbrennen, um Essen zu erhitzen, Wasser zu kochen und sich warm zu halten, weil sie verzweifelt nach Brennstoff suchen.
Wie Al-Za'anin waren auch Naseer und ihre Familie nach dem Waffenstillstand nach Beit Hanoun zurückgekehrt. „Wir dachten, der Krieg sei vorbei und wir seien dem Tod entkommen, aber plötzlich kehrten der Krieg und die schweren Bombardierungen zurück“, sagte sie. Die nicht enden wollenden Umsiedlungen sind für ihre Familie immer schwerer zu ertragen: „Wenigstens sind die Toten von diesem Leid erlöst worden“, sagte Naseer.
Subhi Al-Kharawat, 35, aus Beit Hanoun suchte wegen seiner kranken Frau und seines neugeborenen Kindes Zuflucht in der Universität, nachdem er in den ersten 16 Monaten des Krieges im südlichen Gazastreifen Schutz gesucht hatte. „Wenn ich keine Familie hätte, wäre ich zu Beginn des Krieges niemals in den Süden geflüchtet – es war ein Versuch, meine Kinder vor dem Tod zu retten“, sagt er gegenüber +972.
Mitte Februar, als der Waffenstillstand noch in Kraft war, brachte Al-Kharawats Frau auf der langen Reise vom südlichen Gazastreifen in den Norden ein Kind zur Welt. Sie hatte keine Gelegenheit, sich von der Geburt und der anstrengenden Reise richtig zu erholen - nicht einmal innerhalb der Universitätsmauern. "Alle um mich herum sind damit beschäftigt, hier Zelte aufzustellen und Wasser und Lebensmittel zu besorgen. Unsere Tage sind mit der Suche nach dem Lebensnotwendigen ausgefüllt", sagt er.
In der Nacht hört der Beschuss nicht auf. "Wir wollen, dass die Welt damit aufhört. Genug des Krieges. Wir sind alle so unendlich müde", sagt Al-Kharawat.
Khalil Issa Naseer, 52, aus Beit Hanoun kam mit nichts als einem Zelt an der Islamischen Universität an, nachdem er am 18. März, als Israel den Waffenstillstand brach, gewaltsam aus seinem Haus vertrieben wurde. Als die Armee Naseer und seinen drei Kindern befahl, von Beit Hanoun in den westlichen Gazastreifen zu flüchten, kannten sie den Ablauf. „Die Besatzungstruppen geben uns eine kurze Frist, um zu gehen, und greifen uns dann mit Artilleriegranaten und Flugzeugen an“, erklärt er.
Das Universitätsgebäude ist überfüllt, und es ist schwierig für Naseer und seine Familie, sich einzuleben. „Wir suchen nach einem Quadratmeter Land, entweder um ein Zelt aufzuschlagen oder um ein Grab zu finden, in dem wir begraben werden können“, erklärt er gegenüber +972. Da Israel seit über sechs Wochen jegliche humanitäre Hilfe an der Einreise in den Gazastreifen hindert, ist selbst die Beschaffung von Wasser wie eine Schatzsuche, so Naseer. „Die Besatzung hat uns von Wasser, Strom und Lebensmitteln abgeschnitten.“
Obwohl Naseer vorerst eine Unterkunft gefunden hat, weiß er, dass das Gefühl der Sicherheit nur vorübergehend ist. „Wir fühlen uns in Gaza nie sicher“, sagt er. "Die Islamische Universität, an der unzählige Ärzte, Ingenieure und Professoren ausgebildet wurden, ist bereits in Schutt und Asche gelegt worden. Was wird nun mit ihr geschehen?"
Ruwaida Amer ist eine freiberufliche Journalistin aus Khan Younis.

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