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Die verzweifelte Suche nach geliebten Menschen unter den Trümmern in Gaza: „Meine Kinder fragen mich jeden Tag, wo Papa ist.“

Bel Trew in Jerusalem und Nedal Hamdouna in Gaza sprechen mit Familien, die anhand von Fotos tausender nicht identifizierter Leichen und Fotos von Toten aus eingestürzten Gebäuden versuchen herauszufinden, was mit ihren Familienmitgliedern während des 15-monatigen Krieges Israels in dem belagerten Gebiet geschehen ist.


Von Bel Trew und Nedal Hamdouna, The Independent, 23.01.2025

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

In den letzten Tagen hat Wissam, 40, Dutzende von verwesenden Leichen gesehen, die bei der verzweifelten Suche nach ihrem vermissten Ehemann aus den Trümmern in Gaza geborgen wurden. Die palästinensische Mutter von vier Kindern hat außerdem 2 000 Fotos von nicht identifizierten Leichen, die in dem 15-monatigen Krieg getötet wurden, in einem Album in ihrem nächstgelegenen Hauptkrankenhaus durchgesehen.

Seitdem am Sonntag (19.01.2025) ein Waffenstillstand in Gaza in Kraft getreten ist, haben Ersthelfer und Familien endlich Zugang zu den von den Kämpfen abgeschotteten Gebieten. Dort haben sie sich durch die Zerstörung gekämpft, um verweste Überreste zu bergen, die zum Teil so verbrannt, zerfetzt und in einigen Fällen von wilden Tieren halb zerbissen waren, dass Wissam sagt, sie prüfe nur die Zähne. Wenn sie welche haben.

Dennoch konnte sie ihren Mann, den 43-jährigen Yousef, nicht finden, der vor fast einem Jahr verschwand, als er nach seiner Mutter Fathia sehen wollte, die ebenfalls vermisst wird. „Jeden Tag fragen mich meine Kinder: 'Wo ist Papa? Ist er tot? Wurde er verhaftet? Kommt er nach Hause?'“, sagt sie, und ihre Stimme bricht vor Schmerz. „Es gibt so viele Familien in meiner Lage. Ich hoffe, dass jemand bei dieser Katastrophe helfen kann. Wo sind sie?“

Seit Beginn des von den USA und Katar vermittelten Waffenstillstands zwischen Israel und der militanten Hamas haben betroffene Familien im gesamten Gazastreifen den langen Marsch durch eine Landschaft der Zerstörung angetreten, um nach ihren Häusern zu sehen, ihre Vermissten zu finden – und schließlich ihre Toten zu begraben. ZivilistInnen und Sanitäter berichten, dass sie Knochen und Schädel unter zerstörten Häusern finden, verrottende Leichen aus Bombenkratern ausgraben und über offene Gräber stolpern.

Wissam und ihre Familie flohen Ende 2023 aus ihrem Haus in Khan Younis in die sogenannte humanitäre Zone al-Mawasi. Youssef verschwand im vergangenen März, als er nach Khan Younis zurückkehrte, um nach seiner Mutter zu sehen, die dort mit weiteren Mitgliedern seiner Familie Zuflucht gesucht hatte. Mehr als einen Monat nach seinem Verschwinden gelang es Wissam, Nachbarn zu erreichen, die sagten, dass ihr Gebäude in der Nacht, in der er ankam, von einem Luftangriff getroffen wurde. Als sich die israelischen Streitkräfte im April aus Khan Younis zurückzogen, konnten die Rettungskräfte 14 der 19 Familienmitglieder, die dort vermutet wurden, wieder finden. Jetzt, da ein Waffenstillstand herrscht, ist Wissam erneut zurückgekehrt, um nach ihrem Mann, seine beiden Brüder, seine Mutter und seinen Neffen zu suchen.

„Als ich während des Waffenstillstands nach Khan Younis zurückkehrte, gab es so viele verwesende Leichen, die erst kürzlich aus den Trümmern und von den Straßen geholt worden waren. Wir konnten nur die Zähne untersuchen“, sagt sie und fügt hinzu, dass sie persönlich 33 Leichen überprüft hat.

„Es ist unmöglich zu beschreiben. Als sie die Leichen herausholten, gab es Kinder, deren Gesichter teilweise von Hunden aufgefressen worden waren“, fügt sie hinzu. „Ich habe 2 000 Fotos von Leichen in einem Album des Nasser-Krankenhauses durchgesehen, um sie zu finden. Im Moment können wir ihren Tod nicht bestätigen – sie werden einfach vermisst.“

Nach den blutigen Angriffen der Hamas-Kämpfer am 7. Oktober 2023, bei denen sie mehr als 250 Menschen, darunter auch Kinder, als Geiseln nahmen und mehr als 1.200 Menschen töteten, hat Israel ein beispielloses Bombardement des Gazastreifens eingeleitet.

Nach Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörden hat der israelische Angriff seither über 47 000 Menschen getötet und mehr als 90 Prozent der 2 Millionen Einwohner vertrieben. Außerdem wurden weite Teile des Gazastreifens dem Erdboden gleichgemacht, wobei nach Schätzungen der Vereinten Nationen 92 Prozent der Häuser beschädigt oder zerstört wurden.

Aus einer in diesem Monat veröffentlichten UN-Schadensbewertung geht hervor, dass es bis zu 21 Jahre dauern und bis zu 1,2 Mrd. Dollar (974 Mio. Pfund) kosten wird, um die mehr als 50 Millionen Tonnen Schutt zu beseitigen, die nach der Katastrophe übrig geblieben sind.

Aber sie kann nur dann wirklich beginnen, wenn diese erste sechswöchige Phase der Waffenruhe hält. Im Rahmen der drei Phasen der Vereinbarung, die am Sonntag begonnen hat, muss Israel seine Truppen aus dem zentralen Gazastreifen abziehen und während einer ersten sechswöchigen Phase die Rückkehr der PalästinenserInnen in den Norden erlauben. Mindestens 33 Geiseln werden im Gegenzug für die Freilassung palästinensischer Gefangener freigelassen. Auch für die nächsten Phasen sollen Verhandlungen aufgenommen werden.

In der Waffenpause suchen Familien verzweifelt nach ihren Angehörigen.

Lina Aldaba berichtet, dass ihre geliebte 13-jährige Tochter Aya im November 2023 durch israelische Scharfschützen getötet wurde, als sie versuchte, einen Wasserkanister auf dem Gelände der Mädchenschule in Gaza-Stadt, in der die Familie Zuflucht gefunden hatte, aufzufüllen. Lina berichtet, dass sie zusammen mit ihrem Sohn beim Versuch, ihrer Tochter zu helfen, ebenfalls angeschossen wurde. Die israelischen Streitkräfte haben bestritten, ZivilistInnen ins Visier genommen zu haben, und behaupten, sie hielten sich an das Völkerrecht.

Unter schwerem Beschuss, als die israelische Bodenoffensive vorrückte, musste Ayas Familie sie eilig in einem flachen Grab begraben, wobei Schultischplatten und Betonstücke zum Abdecken auf dem Gelände der Mädchenschule verwendet wurden. Lina berichtet, dass die israelische Armee daraufhin die Schule stürmten und ihre sofortige Evakuierung anordneten.

Während des Waffenstillstands kehrten Ayas Familienmitglieder, die weiter in den Süden geflohen waren, zum ersten Mal zurück, um sie ordnungsgemäß zu beerdigen, und mussten feststellen, dass das Grab offen und der Boden mit Knochen übersät war.

„Mein Onkel hat versucht, die Grabstelle zu finden, aber das Grab war leer – er fand Schädel, Beine, Knochen von ihrer Brust, so glauben wir, und ihr Haar, verstreut in und um die Grabstelle herum“, sagt ihre Mutter und schickt Fotos von verstreuten menschlichen Skelettteilen.

„Wir dachten, dass es vielleicht Hunde waren, die das getan haben, aber Hunde graben nicht auf diese Weise, und sie können das Grab nicht geöffnet haben. Das Grab war gut gemacht“, fügt Ayas Onkel Moein hinzu, der glaubt, dass die israelischen Streitkräfte es geöffnet haben.

Ahmed Kilani, 36, der aus der nördlichen Stadt Beit Lahia nach Khan Younis vertrieben wurde, sagt, dass er während des Waffenstillstands auch versucht hat, die Leiche seines Bruders Mohamed zu finden. Mohamed wurde getötet, als er mit seinem Fahrrad zwischen Beit Lahia und Beit Hanoun unterwegs war, um Familien mit Lebensmitteln zu versorgen. Wegen der Heftigkeit der Kämpfe lag seine Leiche 22 Tage lang auf der Straße. „Keiner unserer Verwandten war in der Lage, seine Leiche zu erreichen, und uns wurde auch geraten, nicht unser Leben zu riskieren, um sie zu bergen.“

Einen Monat später wurde Mohammed von Nachbarn eilig begraben, aber als die Familie am Sonntag zu der Stelle zurückkehrte, konnten sie die Leiche ebenfalls nicht finden – die Bombardierung war so heftig gewesen, dass die Landschaft nicht wiederzuerkennen war.

„Mohammed war ein großartiger Bruder. Er ist ein großartiger Mensch, besonders für meine Mutter. Einen Bruder zu verlieren, ist genauso schwer wie einen Vater zu verlieren“, sagt Ahmed.

Auch für Wissam geht die Suche weiter. Sie sagt, sie habe sich an das Rote Kreuz und andere Organisationen gewandt, um herauszufinden, ob ihr Mann und die vier vermissten Verwandten möglicherweise verhaftet wurden und ihre Leichen deshalb nicht gefunden wurden. Aber sie konnte nichts in Erfahrung bringen.

„Ich hoffe, dass jemand bei dieser Katastrophe helfen kann. So viele Familien der Verwundeten, Toten und Festgenommenen haben keine Informationen“, sagt sie verzweifelt. „Sie suchen immer noch nach all diesen vermissten Menschen und haben keine Ahnung – wo sind sie? Ob sie getötet, vermisst, verhaftet oder verletzt wurden? Wir haben einfach keine Ahnung.




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