Die israelische Belagerung des Nordens und das Wohlwollen Israels gegenüber Banden, die Hilfsgütertransporte plündern, haben im gesamten Gazastreifen zu gravierenden Lebensmittelengpässen und explodierenden Preisen geführt.
Von Ruwaida Kamal Amer, 972Mag, 4. Dezember 2024
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Mustafa Al-Darsh, ein 35-jähriger Vater von drei Kindern aus Gaza-Stadt, verbringt jeden Tag Stunden mit der Suche nach Lebensmitteln für seine Familie. An manchen Tagen gelingt es ihm, ein paar Konserven zu besorgen, an anderen Tagen muss sich seine Familie mit einfachem Reis begnügen. „Im Norden sehnen wir uns danach, Brot mit etwas Thymian zu essen“, sagt er gegenüber +972. Schon seit Monaten konnte er kein Mehl mehr finden.
Seit Anfang Oktober, als die israelische Armee den nördlichen Gazastreifen einkesselte und mit einer Vertreibungs- und Vernichtungsaktion begann, sind keine Waren – auch keine humanitären – mehr in das Gebiet gelangt. Anfang November warnte ein UN-Gremium vor einer drohenden Hungersnot in dem belagerten Gebiet im Norden des Streifens, in dem sich noch schätzungsweise 75.000 Palästinenser aufhalten. Lokale Organisationen haben seitdem die UN und internationale Organisationen aufgefordert, offiziell eine Hungersnot auszurufen. Da das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) nun gezwungen wurde, die Hilfslieferungen über den Kerem-Shalom-Übergang im Süden einzustellen, werden sich Hunger und Unterernährung in der Enklave noch weiter verschärfen.
Als Vater verzichtet Al-Darsh in der Regel auf seine eigenen Mahlzeiten, um sicher zu gehen, dass seine Frau und seine Kinder essen. „Unsere Körper sind durch den Mangel an Nahrung erschöpft – wir sind zu nichts mehr in der Lage“, erklärt er. Wenn es Nacht wird, ist er meist zu hungrig, um zu schlafen. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich den Verstand verliere, wegen dem, was wir durchmachen“, fügt er hinzu.
Oftmals findet Al-Darsh überhaupt nichts zu essen, und seine Kinder müssen mehrere Tage am Stück ohne Mahlzeiten auskommen. „Jeden Tag weine ich, weil sie kein Essen bekommen“, sagt er. „Sie fragen mich ständig nach Essen und erzählen mir, was sie essen wollen.“
„Im Norden von Gaza herrscht eine echte Hungersnot“, sagt Adnan Abu Hasna, ein Sprecher des UNRWA, gegenüber +972. „Die Situation ist sehr gefährlich: Es gibt keine Lebensmittel, kein Trinkwasser und keine Vorräte. Alle Gesundheitseinrichtungen sind zusammengebrochen, und es liegen Dutzende von Leichen auf den Straßen und unter den Trümmern“. Abu Hasna warnt, dass sich ohne internationalen Druck, der die Versorgung des Streifens mit Hilfsgütern vorantreibt, „die Hungersnot im Norden und Süden ausbreiten wird“.
Was Al-Darsh als einen „harten Hungerkrieg“ bezeichnet, eskaliert von Tag zu Tag mehr. „Sie behandeln uns wie Menschen, die es nicht verdienen zu leben, mit den ständigen Bombardierungen, der Zerstörung und dem Hunger“, beklagt er. „Wir wollen satt und nicht hungrig sterben. Das ist alles, worauf wir hoffen.“
Im Norden und im Süden durchleben wir dieselbe Krise
Vor dem Krieg, so Khaled Al-Attar gegenüber +972, war es beschämend, über Hunger zu sprechen. Für den 40-Jährigen aus der nördlichen Stadt Beit Hanoun ist das Wort auch heute noch mit dem gleichen Schamgefühl verbunden, selbst nachdem er zwei Monate lang eine Belagerung überlebt hat, die den Zugang zu Nahrungsmitteln blockiert. „Wir sind nicht an Hunger gewöhnt“, erklärt er, “aber wir sind ihm ausgesetzt – eine große Ungerechtigkeit, die von einer unmoralischen und unmenschlichen Besatzung ausgeht, die von den Vereinigten Staaten unterstützt wird.“
An manchen Tagen versucht Al-Attar, seinen Hunger durch die Einnahme von Salz und Wasser zu stillen. Seine Frau war kürzlich mehrere Tage lang bettlägerig, weil sie sich aufgrund des Nahrungsmangels nicht mehr bewegen konnte. „Die meiste Zeit des vergangenen Jahres waren wir auf Hülsenfrüchte und Konserven angewiesen“, berichtet er. „Jetzt gibt es nichts mehr; [hier] im Norden haben wir seit Beginn der Belagerung überhaupt keine Lebensmittel mehr gesehen.“
Auch wenn der nördliche Gazastreifen die Hauptlast der israelischen Hungerpolitik trägt, hungern die PalästinenserInnen im gesamten Gazastreifen. „Im Norden und im Süden durchleben wir dieselbe Krise: Wir haben alle keine Lebensmittel in unseren Häusern“, sagt Al-Attar, der sich auf Gespräche mit seinen Verwandten im Süden stützt.
Nach Angaben der Vereinten Nationen verschlechtert sich die Ernährungslage in den zentralen und südlichen Gebieten des Gazastreifens „alarmierend“: Wegen des Mangels an Weizenmehl müssen Bäckereien schließen, und nur 16 Prozent der Bevölkerung können reduzierte monatliche Lebensmittelrationen erhalten. Laut Abu Hasna vom UNRWA kommen täglich nur 30 bis 35 Hilfslieferwagen in den Gazastreifen, „und diese Zahl reicht nicht einmal aus, um ein Wohnviertel oder eine einzige Straße zu versorgen. Wie kann das für die 2,3 Millionen Einwohner des Gazastreifens ausreichen?“
Der gravierende Mangel hat zu tragischen Zwischenfällen geführt, da die Menschen verzweifelt nach Lebensmitteln suchen. Am 23. November wurden drei Frauen getötet, nachdem, wie palästinensische Medien berichten, „Sicherheitskräfte“ das Feuer eröffneten, als Menschen in einer Bäckerei in Deir Al-Balah um Brot kämpften. Einige Tage später wurden zwei Kinder und eine 50-jährige Frau vor einer anderen überfüllten Bäckerei in derselben Stadt zu Tode gedrückt.
Osama Abu Laban, dessen 13-jährige Tochter Rahaf eines der Opfer war, warnte sie davor, an diesem Tag in die Bäckerei zu gehen. „Ich sagte ihr, sie solle nicht hingehen, denn der Ort war sehr überfüllt“, berichtet er gegenüber +972. „Tausende drängten sich, um Brot zu bekommen, und es gab keine Polizei, die für Ordnung sorgte.“ Das war das letzte Mal, dass Abu Laban seine Tochter lebend gesehen hat. „Sie ging in die Menschenmenge hinein, und kurz darauf brachten sie sie als Leiche zu mir heraus.“
Die Tragödie hat Abu Laban und seine Frau in einen Zustand des völligen Schocks versetzt. „Wir haben unerträgliche Umstände durchgemacht und leiden immer noch, aber niemand kümmert sich darum“, beklagt er. „Ich habe meine Tochter für einen Laib Brot verloren. Ich weiß nicht, was wir noch ertragen sollen.“
Salwa Khreis, eine 50-Jährige Frau aus Beit Lahiya, floh im vergangenen Dezember aus dem Norden in die von den israelischen Behörden versprochene „humanitäre Zone“ in Al-Mawasi bei Khan Younis. „Ich hatte Angst, dass meine zehn Enkelkinder verhungern würden“, sagte sie gegenüber +972, “aber jetzt suche ich verzweifelt nach Nahrung, um sie zu ernähren.“ Manchmal suche sie auf den nahe gelegenen Feldern nach essbaren Pflanzen, während ihre drei Söhne jeden Morgen auf Nahrungssuche gehen. „Einmal kommen sie mit Konserven zurück, ein anderes Mal mit nichts“, berichtet sie.
Keiner von Khreis' Söhnen kann Arbeit finden, und angesichts des exorbitanten Anstiegs der Lebensmittelpreise ist das, was an Trockenwaren oder frischem Gemüse übrig geblieben ist, für sie zu teuer geworden. „Säcke mit Mehl sind sehr rar, und wenn ich einen 25-Kilo-Sack finde, kostet er 60 Dollar“, erklärt sie. „Ein Kilo Tomaten kostet 20 Dollar, ein Kilo Auberginen 10 Dollar. Woher soll ich das Geld nehmen, um das zu kaufen?“
Als Diabetikerin leidet Khreis aufgrund des Mangels an Lebensmitteln nun unter täglichen Krankheitsschüben. In den meisten Nächten können ihre Enkelkinder nicht schlafen, weil sie vor Hunger weinen. „Ich lüge sie an und sage ihnen, dass wir morgen viel zu essen haben werden. Aber dann kommt der nächste Tag, und ich weiß nicht, was ich ihnen zu essen geben soll. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Herz vor lauter Traurigkeit stehen bleiben wird.“
Andere BewohnerInnen des Gazastreifens, die mit +972 sprachen, berichteten von einer ähnlichen Lebensmittelknappheit im gesamten Streifen. „Wir erleben im südlichen Gazastreifen eine echte Hungersnot“, sagt die 23-jährige Reem Al-Ghazal aus Gaza-Stadt, die derzeit in Al-Mawasi untergebracht ist. „Wir haben kein Mehl; ein Sack kostet etwa 100 Dollar. Wir sind auf Brot mit ein wenig Thymian und Konserven angewiesen, die ebenfalls nicht mehr verfügbar sind. Welchen Sinn hat es, uns auf diese Weise auszuhungern?“ Ihre Verwandten im Norden, fügt sie hinzu, haben „seit vielen Tagen nichts mehr gegessen“.
Louay Saqr, ein 38-Jähriger Mann, der in Deir Al-Balah wohnt, nachdem er aus Gaza-Stadt vertrieben wurde, beschreibt ähnliche Nöte. „Wir Erwachsenen sind vielleicht toleranter gegenüber diesem Leid, aber wir haben Kinder und ältere Menschen“, sagte er. „Meine Mutter erkrankte an Unterernährung und war gezwungen, ins Krankenhaus zu gehen und dort eine ganze Woche lang zu bleiben. Ich rufe meine Freunde in Khan Younis oder Al-Mawasi an, um sie zu fragen, ob sie auf den Märkten Lebensmittel zum Verkauf anbieten, aber ihre Lage ist genauso schwierig wie unsere.“
Schutz für die Plünderer
Am 16. November passierte ein Hilfskonvoi mit 109 Lastwagen den Grenzübergang Kerem Shalom, um Lebensmittel in den südlichen Gazastreifen zu transportieren. 98 dieser Lastwagen wurden von bewaffneten Männern im Inneren des Streifens geplündert, wobei die Fahrer verletzt wurden und großer Schaden entstand. Der Vorfall, der in seinem Ausmaß zwar ungewöhnlich ist, verdeutlicht, wie der Zusammenbruch der Sicherheit im Gazastreifen die Nahrungsmittelkrise verschärft hat: Von der mageren Menge an Hilfsgütern, die in den Gazastreifen gelangt, werden bis zu 30 Prozent geplündert und gestohlen, meist von organisierten kriminellen Banden.
Die UNO hat festgestellt, dass diese bewaffneten Gruppen in Gebieten unter israelischer Militärkontrolle operieren und „möglicherweise von einem passiven, wenn nicht gar aktiven Wohlwollen“ oder „Schutz“ der israelischen Streitkräfte profitieren. Eine Gruppe von 29 großen internationalen Organisationen, darunter Save the Children, Oxfam und der Norwegische Flüchtlingsrat, beschuldigte die israelische Armee, die Plünderung humanitärer Hilfsgüter zu fördern, indem sie palästinensische Polizeikräfte angreift, die versuchen, dagegen vorzugehen, oder tatenlos zusieht, wie Banden Lastwagen plündern und deren Fahrer überfallen.
Der palästinensische Politologe Muhammad Shehada ist der Ansicht, dass Israel diese kriminellen Organisationen unterstützt, um eine Alternative zur Hamas, der Palästinensischen Autonomiebehörde und dem UNRWA zu finden und den Gazastreifen zu kontrollieren. Die Plünderungen und der Zusammenbruch der Ordnung im Gazastreifen dienen seiner Ansicht nach auch einem politischen Interesse Israels. „Die Armee hat eine Rechtfertigung dafür gefunden, die Einfahrt von Lastwagen zu verhindern, indem sie sagt, dass diese zwar einfahren dürfen, aber von Palästinensern gestohlen und geplündert werden“, erklärt er gegenüber +972.
Jihad Islim, Generalsekretär der Private Transport Association in Gaza, macht ebenfalls Israel für diese Diebstähle verantwortlich. „Wenn Israel diese Hilfsgüter hätte schützen wollen, hätte es das tun können, aber es zielt darauf ab, Chaos und Instabilität im Gazastreifen zu verbreiten“, argumentiert er. „Diese Banden haben bereits neun Fahrer erschossen.“
Islim schätzte den Wert der aus den Lastwagen gestohlenen Waren auf mehrere Millionen Dollar und warnte davor, dass dieses Phänomen die ohnehin schon extreme Hungersnot im Gazastreifen noch verschlimmern werde. Aufgrund der weit verbreiteten Plünderungen kommt ein Großteil der Hilfsgüter nicht mehr bei den Bedürftigen an, sondern landet auf Märkten, auf denen Kisten mit der Aufschrift „Von den Vereinten Nationen bereitgestellte Hilfe“ für bis zu 700 Prozent des ursprünglichen Preises verkauft werden.
Am systematischsten sind die Plünderungen zwischen dem Grenzübergang Kerem Shalom und der südlichen Stadt Rafah, einem Gebiet des Gazastreifens, das die Banden effektiv kontrollieren. Aber auch entlang der Salah Al-Din-Straße, der wichtigsten Nord-Süd-Verbindung des Gazastreifens, wird geplündert. Mohammed, ein 45-jähriger palästinensischer LKW-Fahrer, sprach mit +972 über die Erfahrungen bei der Lieferung von Hilfsgütern während des Krieges, die er als die „schwierigste und gefährlichste“ Zeit seiner 20-jährigen Karriere bezeichnete.
Zu Beginn des Krieges stellte die israelische Armee die größte Bedrohung für die Hilfsgütertransporter dar, die oft auf diejenigen zielten, die nach Norden fuhren. „Wir riskierten unser Leben, aber unser Moralgefühl drängte uns dazu, die Hilfslieferungen an unser Volk fortzusetzen“, sagte er. In den letzten vier Monaten fürchteten die Fahrer jedoch, von verschiedenen Banden, die entlang der Salah Al-Din-Straße operieren, überfallen zu werden.
„Es beginnt im Osten Rafahs, dann im Miraj-Gebiet [im Norden Rafahs] und manchmal in der Nähe des Europäischen Krankenhauses [in Khan Younis]; dann gibt es den Bani Suheila-Kreisverkehr und die Einfahrt nach Deir Al-Balah: Das sind die Gebiete, in denen die meisten Diebesbanden unterwegs sind“, erklärt Mohammed.
Die bewaffneten Männer schießen normalerweise zunächst auf die Räder der Lastwagen oder direkt auf die Fahrer. „Wir versuchen so schnell wie möglich zu fahren, um an diesen Banden vorbeizukommen“, sagt Mohammed, „aber sie sind sehr zahlreich. Die heftigen Schüsse könnten uns das Leben kosten. Im Oktober wurde ein Kollege von mir durch diese Schüsse verwundet, und ein anderer Kollege verließ den Lkw, als seine Räder explodierten.“
Saeed Daqqa, ein 32-jähriger Palästinenser aus Al-Fukhari, östlich der Salah Al-Din Straße in der Nähe von Khan Younis, sagt gegenüber +972, dass er Schüsse hört, wenn Hilfsgütertransporter in die Gegend kommen. „Wir wissen, dass es sich um Schüsse der Banden handelt, die die Salah Al-Din Straße kontrollieren. Wir sind alle sehr verärgert darüber: Wir brauchen Hilfsgüter, und wenn sie gestohlen werden, können wir sie nur auf dem Markt zu sehr hohen Preisen finden.“
Am 18. November gab das Innenministerium von Gaza bekannt, dass 20 Bandenmitglieder in einem heftigen Schusswechsel mit der Polizei getötet worden seien. „Die Polizei kündigte eine Operation an, um die Diebe, die die Lastwagen stehlen, zu verfolgen“, sagte Daqqa. „Dies könnte der Anfang der Hoffnung sein, dass wir die Hungersnot im Süden beenden können.“
Auf den Vorwurf, dass die israelische Armee bei der Plünderung von Hilfskonvois durch bewaffnete Banden ein Auge zudrückt, erklärte ein Sprecher, dass die Armee „alle operativ durchführbaren Maßnahmen ergreift, um Schäden für die Zivilbevölkerung, einschließlich Hilfskonvois und -mitarbeiter, zu begrenzen“, und fügt hinzu, dass sie „die Einfuhr humanitärer Hilfe in den nördlichen Gazastreifen sowohl durch den Erez-Übergang als auch durch die Ermöglichung von Hilfskonvois aus dem Süden in den Norden erleichtert“.
Ruwaida Kamal Amer ist eine freiberufliche Journalistin aus Khan Younis.
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