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Die Instrumentalisierung jüdischer Angst, von Tel Aviv bis Amsterdam

Die Rhetorik über „Pogrome“ und „Judenjagden“ zielt darauf ab, die Realität zu verschleiern, indem eine Massenhysterie erzeugt wird, die dann zur Durchsetzung einer rechtsextremen Agenda genutzt werden kann.

 

Von Em Hilton, +972Mag, 15. November 2024

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

 

„Morgen vor 86 Jahren war Kristallnacht – ein Angriff auf Juden und Jüdinnen, nur weil sie Juden sind, auf europäischem Boden. Jetzt ist sie wieder da; wir haben sie gestern in den Straßen von Amsterdam erlebt. Es gibt nur einen Unterschied: In der Zwischenzeit ist der jüdische Staat gegründet worden. Damit müssen wir uns jetzt auseinandersetzen.“

In dieser Erklärung des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu zu den Unruhen und der Gewalt im Zusammenhang mit dem Fußballspiel zwischen Maccabi Tel Aviv und Ajax Amsterdam in der vergangenen Woche gibt es viel zu entdecken. Die Ereignisse begannen bereits vor dem Spiel, als die Fans des israelischen Vereins durch die Stadt zogen, palästinensische Flaggen von den Fenstern von Wohnungen rissen, einen Taxifahrer angriffen und skandierten: „Lasst die IDF gewinnen und fickt die Araber“ (bei ihrer Rückkehr nach Israel wurden sie auch dabei gefilmt, wie sie skandierten: „Warum ist in Gaza keine Schule? Weil es dort keine Kinder mehr gibt!"). Nach dem Spiel am Donnerstagabend kam es stundenlang zu einer Reihe von Angriffen auf Maccabi-Fans durch Einheimische, von denen einige palästinensische Flaggen trugen und pro-palästinensische Parolen riefen, wobei bis zu 30 Menschen verletzt und fünf ins Krankenhaus eingeliefert wurden.


Viele prominente Medien und Staatsoberhäupter übernahmen bereitwillig die Darstellung, dass es sich bei den Unruhen um einen eindeutigen Fall von antisemitischer Gewalt handelte. Der israelische Präsident Isaac Herzog bezeichnete die Unruhen schnell als „Pogrom“. Geert Wilders, Vorsitzender der rechtsextremen „Partei für die Freiheit“, der derzeit größten Partei im niederländischen Repräsentantenhaus, bezeichnete sie als „Judenjagd“. Der niederländische König sagte zu Herzog: „Wir haben die jüdische Gemeinschaft der Niederlande während des Zweiten Weltkriegs im Stich gelassen, und letzte Nacht haben wir erneut versagt.“

In den sozialen Medien tauchten die denkbar krassesten Parallelen auf – einschließlich Memes von Anne Frank, die ein Maccabi Tel Aviv-Trikot trug – und trieben die Entwertung der Erinnerung an die Verfolgung der Juden und Jüdinnen durch die Nazis und ihre Verbündeten auf ein neues Niveau. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass diese Ereignisse den eigentlichen Jahrestag der Kristallnacht überschatten, und das in einer Zeit, in der die Folgen rassistischer, staatlich unterstützter Gewalt so aktuell erscheinen.


Nach dem 7. Oktober haben WissenschaftlerInnen aus den Bereichen Antisemitismus, Genozid und jüdische Geschichte davor gewarnt, dass besonders traumatische Episoden der jüdischen Geschichte heraufbeschworen werden, um Israels Angriff auf Gaza zu rechtfertigen und gegen KritikerInnen vorzugehen. Wie der Antisemitismusforscher Brendan McGeever klar und deutlich dargelegt hat, war der Vorfall in Amsterdam zwar brutal und verstörend, aber kein Pogrom – der Begriff für einen Angriff auf eine unterdrückte Gruppe mit Unterstützung der Behörden. Die Verbreitung dieses Begriffs und ähnlicher Begriffe im Anschluss an die Gewalttaten diente nur dazu, die Realität der Ereignisse zu verschleiern und eine Massenhysterie zu erzeugen.


Dies ist natürlich eine gängige Taktik der Rechtsextremen: Chaos und Angst erzeugen, um ihre Weltanschauung zu bekräftigen. Die Vertuschung der rassistischen Gewalt der Fans von Maccabi Tel Aviv durch die fahrlässige Berichterstattung eines Großteils der Mainstream-Medien hat dies in diesem Fall nur noch beschleunigt. In einer Zeit, in der echter Antisemitismus auf dem Vormarsch ist und sich jüdische Menschen auf der ganzen Welt besonders bedroht fühlen, war diese Instrumentalisierung jüdischer Angst besonders bitter.


Die Frage, die wir uns nach diesen Ereignissen und dem sie umgebenden Diskurs stellen müssen, lautet: Welcher Art von Politik dient dies? Es liegt sicherlich im Interesse der israelischen Regierung, die Gewalt als ausschließlich durch antijüdischen Rassismus motiviert darzustellen und damit alle Bemühungen zu unterbinden, sie mit dem völkermörderischen Krieg in Gaza in Verbindung zu bringen. Die israelische Führung ist wild entschlossen, den zionistischen Grundsatz zu bekräftigen, dass Israel der einzige sichere Ort für Juden ist und dass Muslime und Araber eine existenzielle Bedrohung für uns darstellen, wo auch immer sie sind. Um uns in Angst zu halten, müssen sie uns bei Stange halten – wie sonst wollen sie weiterhin Zustimmung für den Krieg erzeugen?


Je länger der massive Angriff auf den Gazastreifen andauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Feindseligkeit gegenüber Israelis im Ausland weiterhin zu Gewalt führt und dass das Umschlagen der israelfeindlichen Stimmung in Antisemitismus immer schwieriger einzudämmen ist. Dies haben wir in Amsterdam gesehen, als Menschen bei Übergriffen auf Maccabi-Fans „kanker jood“ (Krebsjude) riefen.


Dies ist ein klares und erschreckendes Beispiel dafür, dass Israel nicht das ist, was es immer behauptet hat: die Antwort auf die Frage nach der Sicherheit der Juden. Wenn Israel ständig erklärt, dass es im Namen der jüdischen Sicherheit einen Krieg gegen die PalästinenserInnen führt, und dabei die begeisterte Unterstützung prominenter jüdischer Organisationen auf der ganzen Welt genießt, scheint es unvermeidlich, dass es zu einem Abgleiten von Anti-Israel-Feindschaft zu Antisemitismus kommt. Darüber hinaus hat das Versagen der internationalen Gemeinschaft, Israel zur Verantwortung zu ziehen, Verschwörungstheorien über die jüdische Macht nur verschlimmert, die wiederum von den Mechanismen des westlichen Imperialismus ablenken. 


Das macht Gewalt gegen Juden und Jüdinnen im Namen der Wut gegen Israel nicht akzeptabel - keineswegs. Aber um sie zu bekämpfen, müssen wir erkennen, dass Israels Vorgehen die Sicherheit von Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt gefährdet, und versucht, Distanz zwischen Diaspora-Juden und den Machenschaften eines an unserer Sicherheit völlig desinteressierten Nationalstaates zu schaffen.

 

Handlanger der extremen Rechten

Doch der Kern des Problems wird immer noch nicht erkannt. Wir leben nicht im Jahr 1938, sondern im Jahr 2024. Was in Amsterdam geschah, ist im Wesentlichen keine Geschichte über Antisemitismus, sondern vielmehr eine Geschichte über Europas rasch eskalierende Islamophobie und Rassismus. Die hässliche Wahrheit ist, dass weniger als ein Jahrhundert, nachdem die jüdische Bevölkerung von den Nazis und ihren Verbündeten in ganz Europa gejagt und ausgerottet wurde, die angebliche Fürsorge für Juden und Jüdinnen nun als Erfüllungsgehilfe für die Ambitionen der extremen Rechten fungiert, die unsere Ängste als Knüppel gegen Muslime, Araber und Migranten aus dem globalen Süden schwingen.

Diese regressiven politischen Kämpfe sind seit dem 7. Oktober in vollem Gange und werden durch die von israelischen Führern und rechtsgerichteten jüdischen Organisationen auf der ganzen Welt verbreitete Behauptung gerechtfertigt, dass die Unterstützung Palästinas eine direkte Bedrohung für die Sicherheit und das Wohlergehen der Juden darstellt. Die Reaktion der niederländischen Behörden auf die Ereignisse der vergangenen Woche war in dieser Hinsicht alarmierend: Wilders bezeichnete Amsterdam als „das Gaza Europas“ und schwor, „Marokkaner, die Juden vernichten wollen“, zu deportieren. Und er ist mit diesem Bestreben nicht allein: Die niederländische Regierung als Ganzes erwägt die Möglichkeit, DoppelstaatsbürgerInnen, die des „Antisemitismus“ überführt wurden, die Staatsbürgerschaft zu entziehen.


Solche Schritte sind das unvermeidliche Ergebnis der extremen Rhetorik gegen Israel-KritikerInnen, die sich im letzten Jahr aufgebaut hat. Von der Verleumdung von Pro-Palästina-Protesten als „Hassmärsche“ und der Schaffung moralischer Panik über „No-Go-Zonen“ für Juden bis hin zur gewaltsamen polizeilichen Verfolgung und Verhaftung friedlicher Demonstranten erleben wir den Zerfall des Antizionismus zu einer Form von Terrorismus und Europafeindlichkeit. Die „Bekämpfung des Antisemitismus“ wird immer mehr zum Synonym für die Aufrechterhaltung der Macht des Staates - nicht zuletzt seiner Macht, andere Minderheiten zu bestrafen und zu überwachen.


Es gibt unzählige Fälle aus dem vergangenen Jahr, in denen der europäische Nationalismus beschworen wurde, um den Kampf gegen Antisemitismus mit einer fremdenfeindlichen, einwanderungsfeindlichen Agenda zu verbinden. In Frankreich beispielsweise wurde der erste „Marsch gegen Antisemitismus und für die Republik“ von der Anführerin der Rassemblement National, Marine Le Pen, angeführt, die anschließend die derzeitige französische Regierung erfolgreich zur Verabschiedung drakonischer Anti-Einwanderungsgesetze drängte, die sich speziell gegen People of Color richten. Einst als Staatsfeinde verfolgt, sind Juden und Jüdinnen nun zu einer Vorzeigeminderheit geworden, in deren Namen Frankreich muslimische Gemeinschaften ausgrenzt und angreift.


Ähnliche politische Veränderungen haben in Großbritannien stattgefunden, wo die Ereignisse des letzten Jahres eine neue Art der Debatte hervorgebracht haben, in der die Unterstützung der jüdischen Gemeinschaft zu einem britischen Wert innerhalb der politischen Elite geworden ist, während die Unterstützung Palästinas als ausländischer Import betrachtet wird. Einwanderungs- und Anti-Terror-Gesetze wurden eingesetzt, um UnterstützerInnen Palästinas ins Visier zu nehmen; in einem Fall griff ein ehemaliger Minister der Konservativen Partei persönlich in das Verfahren ein, um das Visum eines internationalen Studenten zu entziehen, der auf einer Pro-Palästina-Demonstration sprach. Und im August heizten rechtsextreme Führer wie Tommy Robinson die Krawalle im Vereinigten Königreich an, indem sie die Notwendigkeit anführten, die Straßen von der „Hamas“ zurückzuerobern. 


In Deutschland hat die Polizei pro-palästinensische Demonstrationen mit extremer Gewalt verboten und unterdrückt – und gingen auch gegen deutsche Juden/Jüdinnen und Israelis vor, die gegen Israels Vorgehen in Gaza protestieren. Erst vor zwei Wochen verabschiedete der Bundestag eine umstrittene Entschließung zum Antisemitismus, die erstmals nach dem 7. Oktober vorgeschlagen wurde und die Kürzung staatlicher Mittel für Organisationen vorsieht, die zum Boykott gegen Israel aufrufen. Ein weiteres Gesetz, das Anfang des Jahres verabschiedet wurde, verlangt von neuen deutschen Staatsbürgern, dass sie das „Existenzrecht Israels“ anerkennen.


Von Netanjahu und Wilders bis hin zu Robinson und Le Pen - überall liegt es im Interesse rechtsextremer Führer, Juden/Jüdinnen als Fußsoldaten in ihrem Krieg gegen die zu rekrutieren, die sie am meisten verachten. Da sie zunehmend daran arbeiten, die Grenze zwischen Antisemitismus und Antizionismus zu verwischen, müssen wir uns dieser Vermischung widersetzen und gleichzeitig an der Seite der jüdischen Gemeinden gegen die sehr reale Bedrohung stehen, die unkontrollierter Antisemitismus darstellt.


Aber auch Juden/Jüdinnen sollten sich daran erinnern, dass die extreme Rechte nicht unsere Verbündeten ist. Auch wenn wir nicht die aktuellen Ziele ihres Zorns sind, hat Antisemitismus schon immer den weißen Nationalismus und die weiße Vorherrschaft geschürt. Wenn wir zulassen, dass jüdische Ängste als Rammbock gegen andere Minderheiten eingesetzt werden, erhöht das nur unsere eigene Unsicherheit. Wir müssen dringend nach neuen Wegen für jüdische Sicherheit suchen, und zwar in Solidarität mit anderen marginalisierten Gemeinschaften und nicht im Gegensatz zu ihnen.


Jüdische Gruppen des linken Flügels wie Oy Vey Amsterdam, der Jewish Bloc in London, Jews for Racial and Economic Justice in New York und viele andere stehen an der Spitze dieser Art von Organisation und bilden solidarische Koalitionen, die anderen als Inspiration dienen können. Es ist beunruhigend zu sehen, wie diese Bemühungen vom jüdischen Establishment in Grund und Boden gestampft werden.


Und wir müssen uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Unterstützung Israels in Europa angesichts von mehr als 400 Tagen Völkermord, Zerstörung und Tod durch das israelische Militär in Gaza letztlich dazu dient, ein rechtsextremes politisches Projekt im eigenen Land zu stützen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Geschichte der Unruhen in Amsterdam neu erzählt wird, um die seit langem bestehende Islamophobie und das eskalierende Anti-Migranten-Projekt der extremen Rechten zu stärken. 

 

Em Hilton ist eine jüdische Autorin und Aktivistin mit Sitz in London. Sie ist Direktorin für Großbritannien und Politik bei Diaspora Alliance, Mitbegründerin von Na'amod: British Jews Against Occupation, und sitzt im Vorstand des Center for Jewish Non-Violence.




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