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Die Entmenschlichung der PalästinenserInnen durch die israelische Gesellschaft ist nun absolut geworden

In der Vergangenheit mögen Israels moralische Debatten über seine Militäraktionen begrenzt und heuchlerisch gewesen sein, aber zumindest existierten sie. Diesmal nicht.


Von Meron Rapoport, 972Mag in Kooperation mit Local Call, 23. August 2024

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Um 5:40 Uhr am 10. August schickte ein Sprecher der israelischen Armee eine Nachricht an Reporter, in der er sie über einen israelischen Luftangriff auf ein „militärisches Hauptquartier, das sich auf dem Gelände der Al-Taba'een-Schule in der Nähe einer Moschee in der Gegend von Daraj [und] Tuffah befindet, die als Zufluchtsort für die BewohnerInnen von Gaza-Stadt dient“, informierte.


„Das Hauptquartier“, so der Sprecher weiter, “wurde von Terroristen der Hamas-Terrororganisation als Unterschlupf genutzt, und von dort aus haben sie Terroranschläge gegen IDF-Kräfte und Bürger des Staates Israel geplant und gefördert. Vor dem Angriff wurden viele Schritte unternommen, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass ZivilistInnen zu Schaden kommen, einschließlich des Einsatzes von Präzisionsmunition, visueller Ausrüstung und nachrichtendienstlicher Informationen.“


Kurz nach dieser Ankündigung gingen erschütternde Bilder aus der Al-Taba'een-Schule um die Welt, auf denen Haufen von zerstückeltem Fleisch und Leichenteile zu sehen waren, die in Plastiksäcken abtransportiert wurden. Die Bilder wurden von Berichten begleitet, wonach rund 100 PalästinenserInnen bei dem israelischen Angriff getötet wurden und viele weitere im Krankenhaus lagen. Die meisten der Getöteten befanden sich gerade beim Fajr, dem Morgengebet, an einem dafür vorgesehenen Platz auf dem Schulgelände.


In den folgenden Stunden und Tagen entwickelte sich erwartungsgemäß ein Krieg der Erzählungen über die Zahl der zivilen Todesopfer. Der Armeesprecher veröffentlichte die Fotos und Namen von 19 Palästinensern, von denen er behauptete, es handele sich um „Agenten“ der Hamas oder des Islamischen Dschihad, die bei dem Angriff getötet wurden; viele wurden mit dieser Bezeichnung versehen, ohne ihre angebliche Position oder ihren Rang zu nennen.

Die Hamas wies die Anschuldigungen zurück. Die NGO Euro-Med Human Rights Monitor stellte fest, dass einige der Personen auf der Liste des Militärs in Wahrheit bei früheren Angriffen im Gazastreifen getötet worden, dass andere nie Anhänger der Hamas gewesen waren und dass einige sogar gegen die Gruppe opponierten. Später veröffentlichte die Armee eine zusätzliche Liste mit 13 weiteren Palästinensern, bei denen es sich angeblich um bei dem Bombenanschlag getötete Aktivisten handelte.


Während nur eine unabhängige Untersuchung die Identität aller Opfer des Angriffs endgültig klären kann, ist die erste Erklärung des Sprechers der israelischen Armee hingegen bezeichnend für den dramatischen Wandel, den die israelische Gesellschaft in Bezug auf das Leben der PalästinenserInnen im Gazastreifen vollzogen hat.


In der Ankündigung der israelischen Armee hieß es ausdrücklich, dass die Schule „als Zufluchtsort für Bewohner von Gaza-Stadt dient“, was bedeutet, dass sie wussten, dass Flüchtlinge aus Angst vor den Bombenangriffen der Armee dorthin geflohen waren. In der Erklärung wurde nicht behauptet, dass von der Schule aus Schüsse oder Raketenangriffe erfolgten, sondern dass „Hamas-Terroristen ... von der Schule aus terroristische Handlungen geplant und gefördert“ hätten. Es wurde auch nicht behauptet, dass die ZivilistInnen, die in der Schule Zuflucht suchten, gewarnt wurden, sondern nur, dass die Armee „Präzisionswaffen“ und „Geheimdienstinformationen“ eingesetzt habe. Mit anderen Worten: Die Armee bombardierte einen bewohnten Schutzraum, wohl wissend, welche tödlichen Folgen ihr Angriff haben würde.

 

Als ob das Aushungern von Millionen Menschen ein Hobby wäre

Es sollte nicht überraschen, dass die israelischen Medien die Behauptungen des Armeesprechers bestätigten. Wenn es um die durchschlagenden Sicherheitsmängel geht, die zum 7. Oktober geführt haben, dürfen die israelischen Medien, insbesondere die rechten Medien, kritisch und skeptisch gegenüber der Armee sein. Aber wenn es um die Tötung von PalästinenserInnen geht, wird diese Skepsis über Bord geworfen: In Gaza hat die Armee immer Recht.


„Im Krieg sind Schulen tabu“, schrieb Prof. Yuli Tamir, Israels ehemaliger Bildungsminister, in der Haaretz. „Gibt es keinen einzigen Befehlshaber, der sagt: ‚Schluß damit!‘?“ Die Antwort ist ein klares Nein. Jeder Krieg bringt ein gewisses Maß an Entmenschlichung des Feindes mit sich. Aber es scheint, dass die Entmenschlichung der PalästinenserInnen im aktuellen Krieg in Gaza nahezu grenzenlos ist.


Nach jedem Krieg der letzten Jahrzehnte, an dem Israelis teilgenommen haben, gab es öffentliche Reuebekundungen. Dies wurde oft als eine Mentalität des „Schießens und Weinens“ kritisiert - aber zumindest haben die Soldaten geweint.


Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 wurde das äußerst erfolgreiche Buch „Der siebte Tag: Soldaten sprechen über den Sechs-Tage-Krieg“ veröffentlicht, das Zeugnisse von Soldaten enthält, die versuchen, sich mit den moralischen Dilemmata auseinanderzusetzen, denen sie während der Kämpfe ausgesetzt waren. Nach den Massakern von Sabra und Schatila im Jahr 1982 gingen Hunderttausende von Israelis - darunter viele, die im Libanonkrieg gedient hatten - auf die Straße, um gegen die Verbrechen der Armee zu protestieren.


Während der ersten Intifada sprachen viele Soldaten über die Misshandlung von PalästinenserInnen. Die zweite Intifada führte zur Gründung der NGO Breaking the Silence. Der moralische Diskurs über die Besatzung mag zwar begrenzt und heuchlerisch gewesen sein, aber er existierte.


Diesmal jedoch nicht. Das israelische Militär hat mindestens 40.000 PalästinenserInnen im Gazastreifen getötet - etwa zwei Prozent der Bevölkerung des Streifens. Es hat eine totale Verwüstung angerichtet und systematisch Wohnviertel, Schulen, Krankenhäuser und Universitäten zerstört. Hunderttausende von israelischen Soldaten haben in den letzten 10 Monaten im Gazastreifen gekämpft, und dennoch gibt es kaum eine moralische Debatte. Die Zahl der Soldaten, die sich mit ernsthaftem Nachdenken oder Bedauern über ihre Verbrechen oder moralischen Schwierigkeiten geäußert haben, selbst wenn sie anonym waren, lässt sich an den Fingern einer Hand abzählen.


Paradoxerweise ist die sinnlose und grundlose Zerstörung, die das Militär in Gaza anrichtet, auf Hunderten von Videos zu sehen, die israelische Soldaten gefilmt und aus Stolz auf ihre Taten an FreundInnen, Familie oder PartnerInnen geschickt haben. Auf diesen Aufnahmen sahen wir, wie Truppen Universitäten in Gaza in die Luft sprengten, wahllos auf Häuser schossen und eine Wasseranlage in Rafah zerstörten, um nur einige Beispiele zu nennen.


Der Brigadegeneral Dan Goldfuss, Kommandeur der 98. Division, dessen langes Interview bei seiner Verabschiedung in den Ruhestand als Beispiel für einen Kommandeur vorgestellt wurde, der demokratische Werte hochhält, sagte: „Ich habe kein Mitleid mit dem Feind ... Sie werden mich auf dem Schlachtfeld nicht mit Mitleid mit dem Feind sehen. Entweder ich töte ihn, oder ich nehme ihn gefangen.“ Kein Wort wurde über die Tausenden palästinensischen ZivilistInnen verloren, die durch das Feuer der Armee getötet wurden, oder über die Dilemmata, die ein solches Gemetzel begleiten.


In ähnlicher Weise gab Oberstleutnant A., Kommandeur der 200. Staffel, die die Drohnenflotte der israelischen Luftwaffe betreibt, Anfang des Monats ein Interview mit Ynet, in dem er angab, seine Einheit habe während des Krieges „6.000 Terroristen“ getötet. Gefragt im Zusammenhang mit der Rettungsaktion zur Befreiung von vier israelischen Geiseln im Juni, bei der mehr als 270 PalästinenserInnen getötet wurden: „Wie erkennen Sie, wer ein Terrorist ist“, antwortete er: „Wir haben am Straßenrand angegriffen, um ZivilistInnen zu vertreiben, und jede, der nicht geflohen ist, auch wenn er unbewaffnet war, war für uns ein Terrorist. Jeder, den wir getötet haben, hat getötet werden müssen.“


Diese Entmenschlichung hat in den letzten Wochen mit der Debatte über die Legitimität der Vergewaltigung palästinensischer Gefangener einen neuen Höhepunkt erreicht. In einer Diskussion im Mainstream-Fernsehsender Channel 12 forderte Yehuda Shlezinger, ein „Kommentator“ der rechtsgerichteten Tageszeitung Israel Hayom, die Vergewaltigung von Gefangenen als Teil der militärischen Praxis zu institutionalisieren. Mindestens drei Knessetmitglieder der regierenden Likud-Partei sprachen sich ebenfalls dafür aus, dass israelischen Soldaten alles erlaubt sein sollte, auch Vergewaltigungen.


Die größte Aufmerksamkeit erhielt jedoch Israels Finanzminister und Stellvertreter im Verteidigungsministerium, Bezalel Smotrich. „Die Welt wird nicht zulassen, dass wir 2 Millionen Zivilisten verhungern lassen, auch wenn dies gerechtfertigt und moralisch vertretbar ist, bis unsere Geiseln zurückgegeben werden“, beklagte er auf einer Konferenz von Israel Hayom Anfang dieses Monats.


Die Äußerungen wurden in der ganzen Welt scharf verurteilt, aber in Israel wurden sie mit Gleichgültigkeit aufgenommen, als ob das Verhungernlassen von Millionen Menschen nur ein banales Hobby wäre. Wäre die Saat der Entmenschlichung nicht bereits gesät und weithin legitimiert worden, hätte Smotrich es nicht gewagt, so etwas öffentlich zu sagen. Immerhin sieht er, wie bereitwillig die israelische Regierung und Armee seinen Decisive Plan [„Auswanderung oder Ausrottung“, Anm.] in Gaza angenommen haben.

 

Solange wir töten, verdienen sie den Tod

Wenn wir über die moralische Korruption sprechen, die die Besatzung mit sich bringt, erinnern wir uns oft an die Worte von Prof. Yeshayahu Leibowitz. Im April 1968, noch nicht einmal ein Jahr nach Beginn der israelischen Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens, schrieb er: „Der Staat, der über eine feindliche Bevölkerung von 1,4 bis 2 Millionen Ausländern herrscht, wird zwangsläufig zu einem Shin-Bet-Staat, mit allem, was dies für den Geist der Bildung, die Rede- und Gedankenfreiheit und die demokratische Regierungsführung bedeutet. Die Korruption, die für alle Kolonialregime charakteristisch ist, wird auch den Staat Israel infizieren.“


Wenn wir den moralischen Abgrund betrachten, in dem sich die israelische Gesellschaft heute befindet, fällt es schwer, Leibowitz keine prophetischen Fähigkeiten zuzuschreiben. Doch bei genauer Betrachtung seiner Worte ergibt sich ein komplexeres Bild.


Man könnte argumentieren, dass das Israel von 1968 noch weniger demokratisch war als heute. Es war ein Einparteienstaat, der von Mapai (dem Vorläufer der heutigen Arbeitspartei) regiert wurde, der nicht nur seine palästinensischen BürgerInnen ausschloss, die erst zwei Jahre zuvor der israelischen Militärherrschaft entkommen waren, sondern auch Mizrachi-Juden aus arabischen und muslimischen Ländern, und der religiöse und ultraorthodoxe Juden in die Enge trieb. Die israelischen Medien kritisierten die Regierung kaum, und die Schulbücher, aus denen ich in den 1960er und 70er Jahren lernte, waren nicht besonders fortschrittlich.


Innerhalb der Grünen Linie ist Israel heute viel liberaler als noch 1968. Frauen haben zunehmend Machtpositionen inne, ganz zu schweigen von LGBTQ+ Menschen, deren bloße Existenz ein Verbrechen war. Wirtschaftlich gesehen ist Israel ein viel freieres Land als die zentralistische Staatswirtschaft der 1960er Jahre (und die Ungleichheiten sind entsprechend gewachsen), und das Land ist viel stärker mit dem Rest der Welt verbunden.


Man könnte argumentieren, dass dies kein Widerspruch ist, sondern vielmehr komplementäre Prozesse. Die Besatzung hat Israel nicht nur bereichert (die Rüstungsexporte haben beispielsweise einen Rekordwert von 13 Milliarden Dollar im Jahr 2023 erreicht), sondern auch dazu beigetragen, zwei parallele Regierungssysteme aufrechtzuerhalten - Kolonialismus und Apartheid in den besetzten Gebieten und liberale Demokratie für Juden innerhalb der Grünen Linie - und vielleicht sogar zwei parallele moralische Systeme. Die Entkopplung zwischen der Ausweitung der Rechte israelischer BürgerInnen und der Auslöschung der Rechte palästinensischer UntertanInnen ist zu einem untrennbaren Bestandteil des Staates geworden. „Villa im Dschungel“ ist nicht nur ein bildhafter Ausdruck, sondern beschreibt auch das Wesen des israelischen Regimes.


Die derzeitige faschistische Regierung hat das einstige empfindliche Gleichgewicht gestört. Indem sie den „Liberalismus“ zum Feind machen, versuchen Politiker wie Yariv Levin, Simcha Rothman und ihre Mitarbeiter, die Barriere zwischen den parallelen Welten durch ihren Justizputsch niederzureißen. Die hochrangigen Positionen, die Rassisten und Faschisten wie Smotrich und Itamar Ben Gvir bekleiden, haben zu diesem Prozess beigetragen.


Angesichts der von der Hamas am 7. Oktober verübten Gräueltaten bleibt der Diskurs dieser israelischen Faschisten die wichtigste Stimme im öffentlichen Diskurs, da das vermeintlich liberale Israel, das die Besatzung jahrelang ignorierte, nicht wusste, wie es die Gewalt der Hamas in einen breiteren Kontext struktureller Unterdrückung und Apartheid einordnen sollte. So sind wir an den Punkt gelangt, an dem es in der israelischen Mainstream-Gesellschaft keinen wirklichen Widerstand gegen die totale Entmenschlichung der PalästinenserInnen gibt.

Die israelische Tötungsmaschine weiß nicht, wie sie aufhören soll, schrieb Orly Noy von +972 und Local Call auf Facebook nach dem Bombenanschlag auf die Al-Taba'een-Schule, weil sie aus Trägheit und Tautologie handelt. „Sie handelt aus Trägheit, denn wenn es aufhört, wird Israel gezwungen, zu verinnerlichen, was es verursacht hat, welche Gräueltaten historischen Ausmaßes in seinem Namen begangen wurden ... Und da kommt die tautologische Logik ins Spiel: Solange wir töten, ist es doch offensichtlich, dass sie den Tod verdienen.“ Genau wie Oberstleutnant A., Kommandeur der 200. Staffel, es ein paar Tage später sagte.


Dennoch gibt es innerhalb der Grünen Linie immer noch eine Zivilgesellschaft und ein liberales Lager, das eine beträchtliche Macht hat, wie die wöchentlichen Demonstrationen gegen die Regierung zeigen. Die Frage ist, was passiert, wenn es zu einem Waffenstillstand kommt und die israelische Vernichtungsmaschine zum Stillstand gezwungen wird. Werden Teile der israelischen Gesellschaft erkennen, dass die ungezügelte Gewalt, die Israel seit dem 7. Oktober entfesselt hat, und die Kräfte der Entmenschlichung, die sie antreiben, die Existenz des Staates selbst bedrohen?


„Schweigen ist erbärmlich“, schrieb Ze'ev Jabotinsky in dem Gedicht, das zur Hymne der revisionistischen zionistischen Bewegung Beitar wurde, dem Vorläufer des Likud. Die Tatsache, dass Netanjahu und seine Partner den Lärm eines ständigen Krieges wollen, ist klar.


Die Frage ist, warum das liberale Lager schweigt.

 

Meron Rapoport ist Redakteur bei Local Call.




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