Rechtsextreme Demonstranten, Soldaten und Abgeordnete demonstrierten für Wachleute, die der Vergewaltigung eines palästinensischen Gefangenen verdächtigt werden. Einst eine Randerscheinung, sind sie heute das öffentliche Gesicht des Staates.
Von Oren Ziv, 972Mag in Kooperation mit Local Call, 1. August 2024
(Originalbeitrag in englischer Sprache mit dazugehörendem Bildmaterial)
Unter den Hunderten von rechtsgerichteten israelischen AktivistInnen, die am Abend des 29. Juli vor dem Armeestützpunkt Beit Lid demonstrierten, stach eine Gruppe maskierter Soldaten mit Waffen aus der Menge hervor. Die Soldaten waren leicht an der Abbildung auf ihren Abzeichen zu erkennen: eine Schlange im Inneren des Davidsterns, dem Abzeichen der Force 100. Die nach der ersten Intifada gegründete Force 100 ist eine Einheit der israelischen Armee, die für die Überwachung palästinensischer Gefangener und die Niederschlagung von Aufständen in Militärgefängnissen zuständig ist. Seit Oktober betreibt diese Einheit auch die Militärbasis Sde Teiman, wo Palästinenser aus dem Gazastreifen festgehalten, misshandelt und gefoltert werden.
Die Soldaten kamen nach Beit Lid, um zehn ihrer Kameraden zu unterstützen und ihre Freilassung zu fordern, die wegen des Verdachts der Vergewaltigung eines palästinensischen Häftlings in Sde Teiman festgenommen worden waren. Nach Angaben von Physicians for Human Rights - Israel (PHRI) wurde der Gefangene vor drei Wochen mit schwersten Verletzungen an seinem Rektum ins Krankenhaus eingeliefert. Am Montag hatten sich DemonstrantInnen und rechtsextreme Knessetmitglieder vor Sde Teiman versammelt, nachdem die israelische Militärpolizei in den Stützpunkt eingedrungen war, um die Verdächtigen, darunter ein Kommandeur der Force 100, festzunehmen.
"Die Generalstaatsanwältin [Yifat Tomer-Yerushalmi] liebt Nukhba", hieß es auf einem Schild vor Beit Lid, das sich auf die militärische Eliteeinheit der Hamas bezog, deren Mitglieder nach Ansicht der DemonstrantInnen in Sde Teiman festgehalten werden. "Die Generalstaatsanwältin ist eine Verbrecherin", stand auf einem anderen.
Selbst Abgeordnete schlossen sich den Angriffen auf Tomer-Yerushalmi an. "Ich bin nach Sde Teiman gekommen, um unseren Kämpfern zu sagen, dass wir bei euch sind und euch beschützen werden", erklärte Limor Son Har-Melech, Abgeordnete von Otzma Yehudit (Jüdische Kraft), in einem Video, das von außerhalb des Gefangenenlagers veröffentlicht wurde. "Wir werden niemals zulassen, dass die kriminelle Generalstaatsanwältin euch etwas antut. Sie sorgt sich um die Nukhba-Terroristen und kümmert sich um ihre Rechte; anstatt sich um unsere Kämpfer zu bemühen, schwächt sie unsere Kämpfer. Die Geschichte wird über sie urteilen und wir werden ebenfalls über sie urteilen." Die DemonstrantInnen skandierten gegenüber den Soldaten und Polizisten, die Beit Lid bewachen: "Verräter!"
Zu den Demonstranten gehörten neben Mitgliedern der Force 100 auch sogenannte Kahanisten, junge SiedlerInnen aus dem besetzten Westjordanland, AnhängerInnen von Premierminister Benjamin Netanjahu und ZuschauerInnen des Fernsehsenders Channel 14. In der Vergangenheit konnte man sagen, dass diese Gruppen eine politische Minderheit waren. Aber heute sind sie in der Regierung, sie leiten die Strafverfolgungsbehörden des Landes und sie sind das Gesicht Israels. In einer israelischen Schlagzeile hieß es, die Demonstranten hätten "dem Staat Israel den Krieg erklärt", doch in Wirklichkeit sind sie der Staat - eine Tatsache, die durch die Unterstützung, die sie von MinisterInnen und ParlamentarierInnen erhalten, deutlich wird.
Während eines Großteils der Demonstration standen maskierte Soldaten der Force 100 direkt vor den wenigen Polizisten und Soldaten, die versuchten, die Randalierer am Betreten des Stützpunkts zu hindern. Die Wachhabenden taten jedoch nur sehr wenig, um die Menge zu zerstreuen.
Die Polizei setzte weder Pferde noch Wasserwerfer ein - Taktiken, die jedem Palästinenser, Äthiopier oder ultraorthodoxen Israeli, der es gewagt hat zu protestieren, vertraut sind. Selbst als die DemonstrantInnen die Eingänge durchbrachen und in Sde Teiman und später in Beit Lid eindrangen, wurde niemand festgenommen oder von der Polizei auch nur einer Identitätsfeststellung unterzogen. Erst nach etlichen Minuten trieben Soldaten, teilweise mit Schildern und Knüppeln, die Randalierer gewaltsam aus Beit Lid heraus. Während der Massendemonstrationen gegen die Regierung im Jahr 2023 wurde einigen DemonstrantInnen der Waffenschein entzogen und andere wurden nach ihrer Verhaftung aus dem Reservedienst der Armee entlassen; es ist klar, dass dies bei den RandaliererInnen vom Montag nicht der Fall sein wird.
Ich habe den Fotografen von B'Tselem getreten
Der erschreckende Anblick bewaffneter israelischer Milizen ist PalästinenserInnen und BesatzungsgegnerInnen im Westjordanland wohl bekannt. In den letzten Jahren waren die maskierten Männer, sowohl Soldaten als auch Siedler, die wichtigsten Vertreter der repressiven Besatzungsgesetze und gaben sogar der israelischen Polizei und anderen Soldaten Befehle. Seit Beginn des Krieges gegen den Gazastreifen operieren jüdische Milizen im ganzen Land unter dem Deckmantel von "Alarmtruppen". Daher war es am Montag nichts Ungewöhnliches, dass die Bewaffneten ungehindert zwischen der Demonstration herumgingen.
Vom Boden aus war klar, dass die Polizei die DemonstrantInnen einfach nicht aus Beit Lid evakuieren wollte. Und früher am Tag, als die DemonstrantInnen in Sde Teiman einbrachen, lehnte die Polizei Berichten zufolge die Bitte der Armee um Unterstützung ab. Verteidigungsminister Yoav Gallant hat nun eine Untersuchung darüber gefordert, ob der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, die Reaktion der Polizei auf die Unruhen absichtlich behindert hat.
Da es zu keinen ernsthaften Zusammenstößen mit der Polizei oder den Soldaten kam, machten viele der DemonstrantInnen ihrer Wut an den Medien Luft: Sie griffen JournalistInnen an, beschimpften und bespuckten sie, mit Ausnahme der MitarbeiterInnen des rechtsgerichteten Channel 14, die mit Applaus begrüßt wurden.
"Ich habe den Fotografen von B'Tselem getreten", prahlte ein Demonstrant gegenüber seinem Freund, nachdem er einen ausländischen Fotojournalisten angegriffen hatte und von anderen Demonstranten zur Seite gestoßen worden war. "Brahnu, wir lieben dich, aber wir hassen Al Jazeera", riefen sie dem Channel 12 News-Reporter Brahanu Teganya zu.
"Es ist verboten, zu fotografieren - es ist gegen das Gesetz", drohte ein Demonstrant, als er sich den Fotografen näherte. Ein solches Verbot gibt es nicht, aber die Demonstranten sehen sich selbst als das Gesetz.
Am Dienstag hielt das israelische Militärgericht in Beit Lid eine geschlossene Anhörung für die zehn Soldaten ab; zwei von ihnen wurden später am Abend freigelassen. Diesmal umstellte ein großes Polizeiaufgebot das Gebäude, während einige Dutzend Demonstranten draußen standen. Ein junger Demonstrant hielt einen Schal mit einer palästinensischen Flagge hoch und rief: „Das hat der Militäranwalt verloren!"
Hila, die Ehefrau eines der verhafteten Soldaten, sprach außerhalb des Gerichts mit den Medien. Aufgrund einer Nachrichtensperre für Informationen über die Verdächtigen weigerte sie sich, ihren Familiennamen zu nennen.
"Mein Mann ist seit dem 7. Oktober als Reservesoldat im Einsatz", sagte sie. "Er wurde gestern auf demütigende und beschämende Art und Weise hierhergebracht, um festgehalten zu werden. Ich kann nicht glauben, dass unser Land so handeln kann, und ich bin hier, um in seinem und im Namen der anderen Soldaten die Stimme zu erheben.“
Bezüglich der Vergewaltigungsvorwürfe sagte sie: "Das ist die Aussage eines verachtenswerten Nukhba-Kämpfers mit Blut an den Händen, der es gewagt hat, sich zu beschweren, und das ganze Land ist deswegen in Aufruhr. Wir sollten nicht vergessen, wer unser wirklicher Feind ist. Wir haben es mit Monstern zu tun, einer terroristischen Organisation, und ich sage, wir werden sie besiegen."
Zwei Visionen der israelischen Gewalt
Der Grund für die Wut der DemonstrantInnen sowohl in Sde Teiman als auch in Beit Lid war, dass die israelischen Strafverfolgungsbehörden es wagten, Soldaten zu verhören. Ihrer Meinung nach verdienen Soldaten völlige Immunität - selbst wenn sie Vergewaltigungen begehen. Wie MK Tali Gottlieb es ausdrückte: "Egal, welcher Verdacht besteht, wenn es Soldaten und Kämpfer sind, die die Nukhba-Terroristen bewachen, wird sie niemand festnehmen."
Dies ist ein neuer Tiefpunkt im öffentlichen Diskurs in Israel, der angesichts des öffentlichen Klimas seit dem 7. Oktober allerdings nicht überrascht. Auch seit Jahrzehnten werden Soldaten in der überwiegenden Mehrheit der Fälle fast nie für die Begehung schrecklicher Gräueltaten zur Verantwortung gezogen - selbst wenn es sich dabei um Kriegsverbrechen handelt. Laut mehreren +972-Untersuchungen wurde den Soldaten im Gazastreifen die Befugnis erteilt, nach Belieben zu plündern, zu vandalisieren, zu schießen und zu töten - und das alles mit dem Wissen ihrer Kommandeure vor Ort.
In den israelischen Medien wurden die Unruhen in Beit Lid als ein Kampf zwischen der Armee und der Polizei oder zwischen Staat Israel und dem Mob dargestellt. Dies entspricht jedoch nicht im Geringsten der Realität. Die Politik der Armee, gegenüber den rechten Milizen im Westjordanland ein Auge zuzudrücken und die Aktionen einzelner Soldaten zu unterstützen, hat zusammen mit dem systematischen Töten und Zerstören im Gazastreifen genau zu dieser Situation geführt, in der das Verhör von Soldaten wegen des Verdachts auf Vergewaltigung solche gewalttätigen Proteste auslöst, die von RegierungsvertreterInnen unterstützt werden.
Die Ereignisse vom Montagabend zeigen aber auch ein anderes Element dieser Geschichte: die Grenzen der Macht der extremen Rechten. Auch wenn sie angeblich selbst die Politik ändern können, wie etwa durch die Verabschiedung eines Immunitätsgesetzes für Soldaten, müssen die Koalitionsmitglieder immer noch gegen ihre eigene Regierung demonstrieren, um einigen ihrer extremsten Forderungen Gehör zu verschaffen. Damit werden einige jener Spannungen deutlich, die innerhalb der Regierungskoalition noch immer bestehen.
Es ist schwer zu sagen, ob dieser Fall von Vergewaltigung eines Gefangenen - einer von Tausenden von Fällen von Zeugenaussagen über die Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen - aufgrund seiner besonderen Schwere zu einer Untersuchung und öffentlichen Verhaftungen führte oder weil es schlicht zu viele Zeugen gab.
Es lässt sich auch nicht mit Sicherheit sagen, ob die Schritte von der Notwendigkeit getrieben waren, vor dem Hintergrund internationaler Untersuchungen zu zeigen, dass das israelische System seine "abtrünnigen" Soldaten zur Verantwortung ziehen kann.
Klar ist jedoch, dass die Ausschreitungen vom Montag einen Kampf zwischen zwei Lagern Israels darstellen.
Das eine Lager ist der "mamlachtiyut" - ein nationales Ethos, das die Institutionen des Staates verehrt; das schießt, aber manchmal untersucht; das tötet, aber mit einigen Einschränkungen bei "Kollateralschäden"; das Kriegsverbrechen begeht, aber nicht damit prahlt. Das andere Lager ist stolz auf Israels Verbrechen, weigert sich, sich dafür zu entschuldigen, und versucht, alle rechtlichen Beschränkungen abzuschaffen, die versuchen, diese abscheuliche Gewalt zu begrenzen, selbst wenn dies bedeutet, mit dem Staat in Konflikt zu geraten.
Das letztgenannte Lager ist zunehmend zum öffentlichen Gesicht Israels geworden - und es hat dazu beigetragen, dass das Land vor den Internationalen Gerichtshof und den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gebracht wurde. Die internationale Rechenschaftspflicht könnte schließlich die Macht der israelischen Extremisten innerhalb und außerhalb der Regierung schmälern. Aber der zukünftige Weg, bei dem maskierte Soldaten die Macht auf den Straßen übernehmen, wird wahrscheinlich nur noch gewalttätiger werden.
Oren Ziv ist Fotojournalist, Reporter für Local Call und Gründungsmitglied des Fotokollektivs Activestills.
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