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Der tägliche Kampf um das Überleben des Völkermords in Gaza

Zelte aus Hilfsgütern bauen, tagelang auf eine Dose Bohnen warten, Gräber ausheben, um noch mehr Opfer zu begraben: Das alles müssen die Palästinenserinnen und Palästinenser ertragen.

Von Yousef Aljamal, +972Mag, 14. August 2024

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Seit dem 7. Oktober ist mein Leben zwischen zwei Parallel-Welten aufgeteilt. In der ersten gehe ich wie gewohnt meinem Alltag hier in der Türkei nach, wo ich arbeite, meine Freunde besuche, meine Routineeinkäufe erledige und mich um meine Familie kümmere. In der zweiten Welt verfolge ich die täglichen Berichte über Tod, Zerstörung, Vertreibung und Angst, die meine Familie, Freunde und Nachbarn in Gaza erleiden, und versuche, ihnen so gut wie möglich zu helfen.

Meine Familie in Gaza kann sich glücklich schätzen: Sie hat ein Dach über dem Kopf. Fünfunddreißig meiner Verwandten teilen sich derzeit das überfüllte Haus meiner Eltern im Flüchtlingslager Nuseirat, im Zentrum des Gazastreifens. Im Januar wurden sie vorübergehend vertrieben, als Israel die Evakuierung anordnete und Panzer in das Lager schickte, aber es gelang meiner Familie, zurückzukehren.

Rund 90 Prozent der 2,3 Millionen Einwohner des Gazastreifens sind vertrieben und leben in behelfsmäßigen Zelten, schlecht ausgestatteten Notunterkünften oder auf der Straße, während es meiner Familie besser geht als den meisten anderen. Dennoch sind sie jeden Tag mit schweren Entbehrungen und Erniedrigungen konfrontiert, sind gezwungen, verschmutztes Wasser zu trinken und nach Lebensmitteln und Kochutensilien zu suchen. So sieht der tägliche Kampf ums Überleben im belagerten und bombardierten Gazastreifen aus.

 

Tagelanges Anstehen für zwei Dosen Bohnen

Seit Oktober hat Israels „totale Belagerung“ des Gazastreifens zu einer regelrechten Hungersnot im gesamten Gazastreifen geführt. Die humanitäre Hilfe wurde an den Grenzübergängen aufgehalten, und das Wenige, das hineingelangt ist, war völlig unzureichend. Die Zerstörung und Übernahme des Grenzübergangs Rafah durch Israel im Mai - über den die meisten Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangten - hat die Situation nur noch katastrophaler gemacht.

Der von den USA errichtete Pier vor der Küste des Gazastreifens erwies sich ebenfalls als unwirksam und lieferte nur einen Bruchteil dessen, was Lastwagen anliefern könnten, bevor er nach 25 Tagen wieder abgebaut wurde. Abwürfe aus der Luft haben mehr Schaden angerichtet als genutzt, da sie auf palästinensische Häuser und Zelte fielen und sogar mehrere Menschen töteten. 

Um die begrenzten Hilfsgüter zu erhalten, müssen die BewohnerInnen lange Schlange stehen; in einigen Fällen haben Freunde tagelang angestanden, um zwei Dosen Bohnen und ein paar Kekse zu bekommen. Da Israel die Einreise von Hilfsgütern regelmäßig behindert, sind die BewohnerInnen krank geworden, weil sie Fleischkonserven gegessen haben, die abgelaufen waren, da die Lieferung wochenlang auf der ägyptischen Seite des Rafah-Übergangs festgehalten wurden. „Sogar die Katzen weigern sich, dieses Fleisch zu essen“, sagte mir Abdullah Eid, mein 27-jähriger Nachbar aus Nuseirat.

Wenn Hilfslieferungen innerhalb des Gazastreifens verteilt werden, erhalten die Bewohner kleine Mengen Mehl, das zum Teil auch schon abgelaufen ist. Da aber die meisten Bäckereien nicht mehr arbeiten können, so Eid, „müssen wir den Weizen [der mit den Hilfspaketen geliefert wird] kaufen, von Hand mahlen und zu Hause backen. Das Gas zum Kochen ist sehr begrenzt und teuer, so dass wir Holz aus zerbombten Häusern und von Bäumen, die durch Luftangriffe entwurzelt wurden, verwenden müssen. Einige Menschen haben auch Brotbacköfen aus Lehm, Tiermist und Stroh gebaut.“

Kurz nach Beginn des Krieges hat Israel die Wasserversorgung des Gazastreifens unterbrochen, und da seit Mai keine Hilfsgüter mehr über den Grenzübergang Rafah eintreffen, wird es immer schwieriger, abgefülltes Wasser zu finden. Jene Wassertanks, die an die Häuser angeschlossen sind, wurden durch israelische Luftangriffe weitgehend zerstört. Das Leitungswasser, das aus dem Grundwasserspeicher des Gazastreifens entnommen wird, ist mit Abwässern und Meerwasser verunreinigt. Dennoch haben die Menschen keine andere Wahl, als es zum Trinken, Waschen und Kochen zu verwenden, was dazu führt, dass viele BewohnerInnen an Gastroenteritis und Hepatitis erkranken. Auch Hautkrankheiten breiten sich rasch aus, und im Abwasser wurde Polio nachgewiesen.

Einige wenige kleine Entsalzungsanlagen sind in Betrieb, und einige Moscheen und andere Einrichtungen verfügen über eigene Wasseraufbereitungsanlagen, so dass die BewohnerInnen Schlange stehen, um dort Wasser zu holen. „Wir schleppen Eimer mit Wasser von weit her, damit wir zu Hause auf die Toilette gehen, Wäsche waschen und uns waschen können“, sagt Eid. „Ich schwöre, selbst als junger Mann, in der Blüte meines Lebens, ist die Kraft meines Rückens inzwischen erschöpft.“

In der brütenden Hitze des Sommers schaffen es Freunde und Familie nur einmal alle sieben bis zehn Tage zu duschen. Shampoo ist nicht erhältlich, und einige verdorbene Hygieneprodukte haben zur Verbreitung von Hautinfektionen beigetragen.

 

Leihpantoffeln für eine Stunde

So wie sich die Lebensqualität in Gaza rapide verschlechtert hat, sind die Lebenshaltungskosten exponentiell gestiegen. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Fleisch, Mehl, Wasser und Gemüse sind heute 25 bis 50 Mal höher als vor dem Krieg.

„Wir alle sterben langsam“, sagte mir Eid. „Wir sind nicht mehr in der Lage, unsere Familien täglich zu ernähren. Ein Sack Mehl, der früher 30 NIS [8 $] kostete, kostet jetzt 500 NIS [137 $] und ist sehr schwer zu bekommen. Jeder Haushalt braucht vier Säcke Mehl pro Monat, weil so viele Menschen in einem Haus leben. Wir können einen deutlichen Unterschied an den Körpern unserer Kinder feststellen.“

Die meisten Menschen sind seit zehn Monaten arbeitslos und haben große Mühe, sich diese Preise zu leisten. Mein Bruder Ismail, 32, der raucht, beklagt „die in die Höhe geschossenen Zigarettenpreise“ und fügt hinzu: „Dinge [auf dem Markt], die man früher ohne zu zögern gekauft hätte, sind jetzt zu teuer oder zu selten zu finden.“

Auch die Beschaffung von Bargeld wird immer schwieriger. Fast alle Banken und Geldautomaten im Gazastreifen haben ihren Betrieb eingestellt. Im Zentrum des Gazastreifens besorgen sich die meisten Menschen Bargeld, indem sie entweder in Wechselstuben oder in einer Zweigstelle der Bank of Palestine - der einzigen Bank, die in der Stadt Deir Al-Balah noch geöffnet ist - hohe Gebühren zahlen, wo sie stunden-, wenn nicht tagelang anstehen, um kleine Beträge zu erhalten. Am 11. August wurde die Filiale von bewaffneten Männern gestürmt, deren Identität und Absichten nicht bekannt sind.

Israel hat die Einfuhr von Bargeld in den Gazastreifen blockiert, und die Überweisung von Geld aus dem Ausland auf Konten im Gazastreifen ist teuer, da die Wechselstuben bis zu 25 Prozent des Überweisungsbetrags als Provision einbehalten. Die übermäßige Verwendung von Banknoten hat zu deren Entwertung geführt - auch wenn dadurch neue Arbeitsplätze für Menschen entstanden sind, die versuchen, sie zu reparieren und etwas Geld zu verdienen - und kriminelle Banden nutzen den Mangel an Bargeld aus, indem sie einen Schwarzmarkt betreiben. 

Die meisten BewohnerInnen des Gazastreifens wurden im Winter aus ihren Häusern vertrieben, aber da Israel die Einfuhr von Kleidung verboten hat, sind Sommerkleidung und Schuhe rar, und die Menschen tun ihr Bestes, um ihre eigenen verbliebenen Sachen wiederzuverwenden oder umzutauschen. Ismail, mein Bruder, lachte, als er mir erzählte, dass einige Palästinenser in Gaza „sogar Hausschuhe für ein oder zwei Stunden für weniger als einen Dollar vermieten“. So komisch sie auch klingen mögen, diese Geschichten sprechen Bände über die Realität, mit der die Menschen im Gazastreifen konfrontiert sind, Menschen, die selbst der einfachsten Dinge beraubt sind - und alles tun, um sich und ihre Familien zu ernähren. 

 

Zelte aus Fallschirmen für Hilfsgüter

Schon vor dem 7. Oktober hatten die PalästinenserInnen im Gazastreifen aufgrund der israelischen Militärblockade nur wenige Stunden Strom pro Tag und waren auf alternative Methoden der Stromerzeugung wie Generatoren und Solarzellen angewiesen.

Mit der von Israel verhängten „totalen Belagerung“ wurde der für den Betrieb von Generatoren benötigte Treibstoff jedoch bald knapp. Während zu Beginn des Krieges Autobatterien und andere kleinere Batterien Strom liefern konnten, sind die meisten inzwischen völlig leer. Die meisten BewohnerInnen des Gazastreifens, darunter auch meine Familie, nutzen daher Solarzellen, um ihre Telefone aufzuladen, mit ihren Angehörigen zu sprechen und die Nachrichten zu sehen, die zumeist die Schrecken wiedergeben, die sie durchleben.

Viele BewohnerInnen besaßen bereits Solarmodule; andere kauften sie von denjenigen, deren Häuser bombardiert wurden, oder bezahlten NachbarInnen dafür, dass sie ihre benutzen durften. Heutzutage sind sie jedoch Mangelware und unerschwinglich teuer - und wurden sogar schon von israelischen Luftangriffen ins Visier genommen.

Aufgrund der Treibstoffknappheit können sich die meisten Menschen nicht mehr den Luxus leisten, mit dem Auto zu fahren. Einige bewegen sich mit Eselskarren fort, während die meisten gezwungen sind, zu Fuß zu gehen. Esel, so scherzen die Menschen im Gazastreifen, sind nützlicher als die meisten Regierungen und internationalen Akteure.

Meine Familie schätzt sich glücklich, dass ihr Haus noch steht, auch wenn es mit Verwandten überfüllt ist. Die meisten BewohnerInnen des Gazastreifens wurden mehrfach vertrieben und leben nun zu Hunderttausenden in Zeltlagern, wo sie gezwungen sind, Gemeinschaftstoiletten und -duschen zu benutzen und ihre eigenen Unterkünfte zu bauen - eine Fähigkeit, die viele aus der Not heraus erlernten.

Die Zelte werden aus allen verfügbaren Materialien gebaut: Holz, Nylon, Stoff oder den Überresten von Fallschirmen aus abgeworfener Hilfe. Jetzt, in der Hitze des Sommers, fühlen sich die Zelte wie ein Ofen an; in den kalten Wintermonaten jedoch bieten sie kaum Schutz vor den Elementen.   

 

Beerdigung neuer Opfer in alten Gräbern

Einer der schwierigsten Momente in den letzten zehn Monaten war der Tod meines Vaters im Mai. Er hatte mit chronischen Blutzucker- und Blutdruckproblemen zu kämpfen und hatte mehrere Schlaganfälle erlitten - was zur Diagnose des Dejerine-Roussy-Syndroms geführt hatte. Ich konnte ihm nur über eine internationale Delegation, die in den Gazastreifen einreiste, die notwendigen Medikamente schicken.

Mein Vater spürte, dass seine Zeit zu Ende ging, und er weigerte sich, den Gazastreifen zu verlassen, bis er schließlich einen Gehirnschlag erlitt, der ihn das Leben kostete. Ich verbrachte viele Stunden am Telefon und versuchte, sein Leben zu retten, aber aufgrund des Mangels an Medikamenten im Gazastreifen waren wir letztlich erfolglos.

Leider war der Fall meines Vaters kein Einzelfall unter den Tausenden von chronisch oder unheilbar kranken PalästinenserInnen im Gazastreifen, die schon seit langem darum kämpfen, unter der israelischen Blockade eine angemessene Behandlung zu erhalten. Vor allem viele KrebspatientInnen haben im Laufe der Jahre ihr Leben verloren, weil sie auf israelische Genehmigungen zur Ausreise aus dem Gazastreifen warten mussten. Einige PatientInnen erhielten Genehmigungen für eine Chemotherapie, aber keine weiteren Behandlungen. Das Militär hat KrebspatientInnen auch erpresst, indem es ihnen medizinische Genehmigungen nur dann angeboten hat, wenn sie sich bereit erklären, mit dem israelischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten.

Im November ging dem Türkisch-Palästinensischen Freundschaftskrankenhaus in Gaza-Stadt, das seit seiner Eröffnung im Jahr 2017 das wichtigste Krebsbehandlungszentrum im Gazastreifen war, der Treibstoff aus und der Betrieb wurde eingestellt. Daraufhin besetzte die israelische Armee die Einrichtung und nutzte sie als Stützpunkt.

„Der Krieg und die Belagerung sind besonders schwierig für Patienten wie uns, die keine Behandlung oder notwendige medizinische Bildgebung erhalten können, und es gibt niemanden, der sich um unseren Zustand kümmert“, sagte mir Najwa Abu Yousef, meine 58-jährige Nachbarin, die Krebspatientin ist. „Wir überleben, indem wir die Konserven essen, die als Hilfe kommen, aber diese sind ungesund, und Menschen wie ich, die krank sind, sollten sie nicht essen. Mein Gesundheitszustand hat sich stark verschlechtert, und seit Oktober habe ich zweimal das Bewusstsein verloren - beide Male für einen Zeitraum von 10 bis 15 Minuten - aufgrund meiner Krankheit und meines schwachen Immunsystems.“

Selbst den Toten von Gaza wird der Respekt und die Würde eines angemessenen Begräbnisses verweigert. So viele PalästinenserInnen wurden durch die israelischen Angriffe getötet - das Gesundheitsministerium in Gaza geht derzeit von etwa 40.000 Toten aus, weitere 10.000 werden unter den Trümmern ihrer Häuser vermutet -, dass ihre Familien sie in Massengräbern begraben oder die Gräber von Familienmitgliedern ausheben mussten, die zuvor gestorben waren, um die neuen Opfer an der gleichen Stelle zu begraben. 

Niemand sollte auf diese Weise leben müssen. Wir brauchen dringend Maßnahmen der USA und der internationalen Gemeinschaft, um den Völkermord zu beenden. Jeden Tag wachen die PalästinenserInnen mit der Nachricht vom Tod auf und gehen damit schlafen. Der Klang von Bomben und Drohnen ist zum Soundtrack ihres Lebens geworden. Jede wache Stunde verbringen die Menschen im Gazastreifen mit einer Frage im Kopf: Wann wird dieser Albtraum enden?

 

Yousef Aljamal stammt aus dem Flüchtlingslager Al-Nuseirat in Gaza. Er ist der Gaza-Koordinator des Palästina-Programms des American Friends Service Committee (AFSC). Yousef Aljamal hat einen Doktortitel in Nahoststudien und ist leitender, nicht ortsansässiger Wissenschaftler am Hashim Sani Center für Palästinastudien an der Universität von Malaya, Malaysia.


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