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Der "stille" Krieg: Israels massive Angriffe auf Jenin, Tulkarem und Tubas


„Ich war in Jenin und ich kann gar nicht beschreiben, wie erbarmungslos die israelische Armee vorgeht. (...) Zu den israelischen Methoden in Jenin gehören: Massenverhaftungen, auch von Minderjährigen, Sprengung von Häusern der Zivilbevölkerung, Verweigerung von Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten.

Die Kinder, denen die Flucht gelungen ist, sind traumatisiert, sie sind nur noch in Tränen aufgelöst und geschockt. Keiner ist in der Lage, diese noch nie dagewesene Gewalt in dieser Intensität zu begreifen. Jenin ist, was das angewendete Ausmaß der Gewalt betrifft, ein nächstes Gaza.“

Mariam Barghouti, palästinensisch-amerikanische Journalistin

 

 

„Das Ausmaß dieses Einmarsches in den Norden des Westjordanlandes ist mit nichts anderem vergleichbar. Für viele Betroffene sind diese Angriffe erschütternde Momente des Terrors, die sie immer wieder erleben.“

Caroline Willemen, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen

 

 

„Jahrzehntelang haben die Palästinenser in ihrem Streben nach Befreiung alle Mittel eingesetzt.  Sie haben zu den Waffen gegriffen, um Widerstand zu leisten, aber Gewalt hat nur zu weiterer Zerstörung geführt. Sie haben sich der Gewaltlosigkeit verpflichtet, in der Hoffnung, dass die Welt ihre Menschlichkeit anerkennen würde, doch die Weltgemeinschaft blieb weitgehend gleichgültig. Appelle an die Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft wurden mit leeren Versprechungen, Resolutionen, die nie umgesetzt wurden, und einer gelähmten Institution, die nicht in der Lage ist, Israel zur Verantwortung zu ziehen, beantwortet. Auf der Suche nach Gerechtigkeit haben sie sich an internationale Gerichte gewandt, nur um festzustellen, dass diese Gerichte nur dazu da sind, die Machtlosen zu verfolgen, nicht die Mächtigen.

Heute wird die Lage immer verzweifelter. Israel greift nun Städte wie Jenin und Tulkarem mit der gleichen militärischen Gewalt an, die es gegen den Gazastreifen einsetzt. Sie setzen Hunger und Panzer ein und fliegen Luftangriffe, die gegen das Völkerrecht verstoßen, weil sie auf die Zivilbevölkerungen zielen. (…)

Angesichts dieser düsteren Realität stehen die Palästinenserinnen und Palästinenser vor quälenden Fragen: Was können wir tun? Wohin können wir gehen? Wie können wir handeln? Die Welt hat sich abgewandt und überlässt die Palästinenserinnen und Palästinenser entweder dem Tod in ihrer Heimat oder einer erneuten Zwangsumsiedlung. Es ist in der Tat eine grausame Welt, in der Gerechtigkeit ein ferner Traum ist und der Kampf um Freiheit mit Schweigen beantwortet wird.“

Rifat Odeh Kassis, Menschenrechtsaktivist, Beit Sahour

 

 

„Die IDF operieren seit gestern Abend mit voller Kraft in den Flüchtlingslagern von Jenin und Tulkarem, um die dort errichteten iranisch-islamischen Terrorinfrastrukturen zu zerschlagen. Der Iran arbeitet daran, nach dem Vorbild des Gazastreifens und des Libanon eine östliche Terrorfront gegen Israel in Judäa und Samaria zu errichten, indem er Terroristen finanziert und bewaffnet und moderne Waffen aus Jordanien schmuggelt.

Wir müssen gegen diese Bedrohung mit der gleichen Entschlossenheit vorgehen wie gegen die Terrorinfrastrukturen im Gazastreifen, einschließlich der vorübergehenden Evakuierung der palästinensischen Bewohner und aller erforderlichen Maßnahmen. Dies ist ein Krieg, und wir müssen ihn gewinnen.“

Israel Katz, israelischer Außenminister, 28. August 2024

 




In den frühen Morgenstunden des 28. August 2024 begann die israelische Armee einen Großangriff auf die nördlichen Provinzen des besetzten Westjordanlandes, vor allem auf Jenin, Tulkarem und Tubas sowie die dortigen Flüchtlingslager. Die Angriffe dauern nach wie vor an und beinhalten den umfassenden Einsatz von Hunderten von israelischen Soldaten, Scharfschützen, der Luftwaffe und einer Reihe von Militärfahrzeugen, darunter auch Bulldozer. Es wird als die „größte Operation im israelisch besetzten Westjordanland“ seit 2002 (der zweiten Intifada) bezeichnet.


Auf X (vormals Twitter) erklärte der israelische Außenminister Israel Katz am 28. August die Absicht Israels, gegenüber den Flüchtlingslagern im nördlichen Westjordanland mit „derselben Entschlossenheit“ vorzugehen wie gegenüber dem Gazastreifen, „einschließlich der vorübergehenden Evakuierung der palästinensischen BewohnerInnen und aller notwendigen Maßnahmen“.


Die Menschenrechtsorganisationen Al Haq, Al Mezan, und PCHR berichten in einem gemeinsamen Statement, dass die Zufahrten zu den Städten Jenin und Tulkarem komplett abgeriegelt wurden und binnen kurzer Zeit wichtige Teile der Infrastruktur, hierbei insbesondere Straßen, von den israelischen Bulldozern zerstört wurden. Überhaupt warnten die drei Organisationen vor einer weiteren Eskalation der Gewalt im Westjordanland, bei der von Seiten der israelischen Armee Taktiken angewandt werden, die jenen des Völkermordes im Gazastreifen ähneln, wie beispielsweise Angriffe auf Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen sowie der Einsatz von exzessiver und wahlloser Gewalt gegen die Zivilbevölkerung.


Nach Angaben der Stadtverwaltung von Jenin hat die israelische Armee seit Beginn ihrer Angriffe vor fünf Tagen fast 70 Prozent der Straßen der Stadt und 20 km des Wasser- und Abwassernetzes mit Bulldozern zerstört. Infolgedessen sind nun 80 Prozent des Flüchtlingslagers von Jenin, in dem 20.000 Menschen leben, ohne Wasseranschluss, so die Stadtverwaltung von Jenin. Auch die Stromzufuhr wurde unterbrochen. Kamal Abu al-Rub, der Bürgermeister von Jenin, beschrieb die bisherige Situation als ähnlich wie bei der israelischen Zerstörung im Jahr 2002, bei der das Lager dem Erdboden gleichgemacht wurde und Dutzende von Menschen starben.


In Jenin wurde zudem ein Obst- und Gemüsemarkt in Brand gesetzt, in Tulkarem ebenfalls zentrale Wasserleitungen zerstört. Während der laufenden Angriffe wurden viele Wohnungen gestürmt, Privateigentum zerstört und zahlreiche PalästinenserInnen – darunter auch Kinder – verhaftet. Israelische Scharfschützen wurden auf den Dächern der Häuser stationiert und zahlreiche Familien zur Flucht gezwungen. Darüber hinaus wurden mehrere israelische Militärjeeps und -fahrzeuge bei den Krankenhäusern in Jenin sowie bei den Krankenhäusern Al-Israa und Thabet Thabet in Tulkarem stationiert.


„Das Ausmaß dieses Einmarsches in den Norden des Westjordanlandes ist mit nichts anderem vergleichbar. Für viele Betroffene sind diese Angriffe erschütternde Momente des Terrors, die sie immer wieder erleben“, so Caroline Willemen, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen.


In der Pressemitteilung vom 31. August 2024 hält die Organisation fest:


„Israel muss seinen Verpflichtungen als Besatzungsmacht im Westjordanland nachkommen und unter anderem den Zugang zu medizinischer Versorgung sicherstellen. Stattdessen haben die [israelischen] Streitkräfte den Zugang zu Gesundheitseinrichtungen behindert und Krankenwagen blockiert – und sogar gezielt angegriffen –, was den Zugang der Menschen zu medizinischer Versorgung verzögert. Krankenhäuser, Krankenwagen und die humanitäre medizinische Mission müssen respektiert und geschützt werden.


In dem von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Khalil-Suleiman-Krankenhaus in Jenin, das seit Beginn des Angriffs von israelischen Streitkräften umstellt ist, ist die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen. Das medizinische Team war gezwungen, Dialyseoperationen einzustellen, die für die Behandlung von Nierenversagen von entscheidender Bedeutung sind.

In Tulkarem sahen die Teams von Ärzte ohne Grenzen nach dem Rückzug der israelischen Streitkräfte Zerstörungen in den Lagern und hörten beunruhigende Berichte von einem von Ärzte ohne Grenzen ausgebildeten Mitarbeiter, der von den israelischen Behörden geschlagen und verhört worden war.


„Die von Ärzte ohne Grenzen ausgebildeten Ersthelfer haben uns von den extremen Schwierigkeiten berichtet, die sie beim Zugang zu den PatientInnen während dieses Angriffs haben“, sagte Willemen. „Der Zugang zur medizinischen Versorgung wird in diesen Momenten weiterhin stark behindert. Die Ersthelfer berichteten uns, dass sie unter Beschuss kamen, als sie versuchten, zu den PatientInnen zu gelangen, und dass sie einige der PatientInnen, die medizinische Versorgung benötigten, nicht erreichen konnten.““


Die palästinensisch-amerikanische Journalistin Mariam Barghouti berichtete gestern von einem 82-jährigen Bewohner des Flüchtlingslagers Jenin, der von der israelischen Armee am Freitag, dem 30. August, getötet worden war. Palästinensische Rettungskräfte wurden nicht zu ihm durchgelassen, der Mann erlag seinen Verletzungen. Gestern, am Sonntag, konnte seine Leiche noch immer nicht geborgen werden. Videoaufnahmen zeigen, wie israelische Militärfahrzeuge den leblosen Körper überrollen.


In einem gestrigen Interview mit Al Jazeera sagte Kenneth Roth, der ehemalige Leiter von Human Rights Watch, dass das, was Israel in den letzten 11 Monaten im Gazastreifen getan hat, nun im besetzten Westjordanland fortgesetzt wird.


„Es ist wirklich zu einem regelrechten Krieg geworden“, so Roth, der als Forscher an der Princeton School of Public and International Affairs tätig ist. „Eine der Grundregeln ist, dass Israel Zugang zu humanitärer Hilfe gewähren muss. Es kann nicht einfach Lebensmittel, Wasser, Strom und medizinische Versorgung abstellen. Doch wie wir gehört haben, tun sie es einfach.“


Die Menschenrechtsorganisationen Al Haq, Al Mezan, und PCHR weisen in einer gemeinsamen Erklärung darauf hin, dass Israels militärischer Angriff auf die nördlichen Provinzen des Westjordanlandes auch vor dem Hintergrund der israelischen Absichten betrachtet werden, die palästinensische Bevölkerung dauerhaft zu vertreiben und stattdessen israelische Siedlungen (wieder) zu errichten. Im März 2023 verabschiedete die israelische Knesset eine Änderung des Rückzugsgesetzes, die es israelischen SiedlerInnen erlaubt, in die im Rahmen des Rückzugsplans von 2005 geräumten Siedlungen im Westjordanland zurückzukehren, die sich in der Nähe der Städte Jenin und Nablus befinden. Dies ermöglichte beispielsweise die Wiederansiedlung von Homesh nach dessen Legalisierung durch die israelische Regierung. Außerdem genehmigte der israelische Verteidigungsminister im Mai 2024 die Rückkehr israelischer SiedlerInnen in drei zuvor geräumte Siedlungen im Westjordanland: Sanur, Ganim und Kadim.


Seit Oktober 2023, innerhalb von 10 Monaten, hat das israelische Militär mehr als 634 PalästinenserInnen im Westjordanland getötet, von denen mindestens ein Fünftel Kinder und Minderjährige waren. Dies ist die höchste Zahl von PalästinenserInnen, die infolge der israelischen Militärbesetzung im Westjordanland getötet wurden, seit die Vereinten Nationen im Jahr 2005 mit der Dokumentation der Todesfälle begonnen haben. Im gleichen Zeitraum wurden mehr als 10.000 PalästinenserInnen festgenommen und inhaftiert, viele von ihnen ohne Anklage. Die UNWRA bezeichnete Israels Vorgehen im Westjordanland Anfang August als einen „stillen Krieg“ gegen Palästinenserinnen und Palästinenser.





Quellen:

MSF responds to ongoing incursion in the West Bank (31. August 2024)

Israel army launches largest West Bank offensive in 20 years, orders evacuations as death toll rises (28. August 2024)

Pressemitteilung von Al Haq, Al Mezan, und Palestinian Center for Human Rights (PCHR) (28. August 2024)

Israel lays siege to Jenin as it stops food and water, blocks ambulances (1. September 2024)


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