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Der Polio-Impfstoff ist wirksam, aber seine Verabreichung erfordert einen Waffenstillstand

Die PalästinenserInnen im Gazastreifen befürchten einen Ausbruch der Kinderlähmung. Gesundheitspersonal warnt, dass Israels andauernde Militäroffensive die Bemühungen zur Bekämpfung der Krankheit stark behindern wird.

Von Ruwaida Kamal Amer, 972Mag, 27. August 2024

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

25 Jahre lang war der Gaza-Streifen frei von Polio. Das ist jetzt vorbei. Anfang dieses Monats meldete das Gesundheitsministerium, dass sich ein zehn Monate altes Baby mit der Krankheit infiziert hatte; eine Woche später war es gelähmt. Dies geschah, nachdem das Poliovirus in Abwasserproben aus sechs Gebieten in den Städten Deir Al-Balah und Khan Younis nachgewiesen worden war.

Da Abwässer durch die Straßen von Gaza fließen, in unmittelbarer Nähe zu den Zelten der Vertriebenen und den wenigen verbliebenen Süßwasserquellen, könnte es bald zu einer katastrophalen Epidemie kommen. Eine Massenimpfkampagne ist unerlässlich, doch solange die israelische Militäroffensive andauert, scheint eine solche Kampagne schier unmöglich zu sein - auch wenn bereits Impfstoff angeliefert wird. Überall im Gazastreifen fürchtet die palästinensische Bevölkerung die Folgen einer Ausbreitung der Krankheit, insbesondere bei Kindern, die die Hälfte der Bevölkerung der Enklave ausmachen.

„Wenn meine Kinder spielen gehen, rennen wir hinter ihnen her und beschwören sie, nicht in die Nähe des Abwassers zu gehen“, sagte Reem Al-Masry, eine 35-jährige Mutter von drei Kindern, die von Beit Hanoun nach Deir al-Balah vertrieben wurde, gegenüber +972. „Aber sie werden ständig von Moskitos und Fliegen gestochen, die auf Müll- und Abwasserhaufen leben und Krankheiten auf uns übertragen. Jeden Tag klagen meine Kinder über Bauchschmerzen, Fieber, Hautausschläge und andere gesundheitliche Probleme.“

Für Saeed Samour, 40, der von Gaza-Stadt nach Khan Younis vertrieben wurde, „ist die Tatsache, dass wir von Abwässern umgeben sind - und das in der Nähe der wenigen verfügbaren Wasserquellen - eine furchteinflößende Sache“. In den letzten Wochen zeigte Samours 3-jähriger Sohn Zaid Anzeichen einer Hautinfektion, die höchstwahrscheinlich auf Luftverschmutzung, verursacht durch Kriegsrückstände, zurückzuführen ist. „Die Kinder müssten eigentlich täglich gebadet werden“, sagte er. „Aber es gibt nur sehr wenige und sehr teure Reinigungsprodukte. Ein Stück Seife, wenn überhaupt erhältlich, kostete früher einen Dollar, heute sind es vier Dollar.“

Samour befürchtet nun, dass Zaid durch den Kontakt mit Krankheitserregern in den Abwässern krank wird. „Es gibt keinen Bereich in der Stadt, in dem es keine Abwasserpfützen gibt, und niemand kann wegen dieser Pfützen frei herumlaufen“, sagte er. „Unsere Lebensmittel und unser Wasser müssten mehrfach sterilisiert und gekocht werden, damit sie zum Trinken und Essen geeignet sind, der Mangel an Kochgas ist dabei jedoch ein großes Hindernis.“

Während Israels Luftangriffe, Bodenangriffe und Räumungsbefehle die PalästinenserInnen im gesamten Gazastreifen weiterhin terrorisieren, ist die sogenannte „humanitäre Zone“ entlang der Küste zu einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt geworden. Adnan Abu Hasna, ein Sprecher des UN-Hilfswerks (UNRWA), erklärt gegenüber +972, dass 1,8 Millionen Palästinenser in dem Gebiet zusammengepfercht sind, das sich vom Norden Rafahs über Deir al-Balah bis zum Flüchtlingslager Nuseirat erstreckt. „Pro Quadratkilometer leben 60.000 Menschen, und der Vertreibungsprozess geht weiter“, fügt er hinzu.

In Verbindung mit dem Zusammenbruch der Wasser- und Abwasserinfrastruktur hat diese massive Überbevölkerung unweigerlich zum Ausbruch und zur Übertragung von Krankheiten geführt. Und es ist nicht nur die Kinderlähmung, die die Gesundheitsbehörden beunruhigt.

„Vor dem 7. Oktober gab es in Gaza 85 Fälle von Hepatitis“, erklärte Abu Hasna. „Heute sprechen wir von tausend Fällen pro Woche, und die Zahl steigt weiter an: Vor etwa einem Monat verzeichneten wir 40.000 Fälle.“ Angesichts dieser schnellen Übertragungsrate warnte Abu Hasna: „Die Entdeckung des Poliovirus ist eine gefährliche Entwicklung, die katastrophale Folgen haben wird.“

 

„Wenn unsere Kinder nicht durch Raketen getötet werden, werden sie an Krankheiten sterben.“

Nur wenige Stunden bevor der erste Polio-Fall im Gazastreifen bestätigt wurde, rief UN-Generalsekretär António Guterres zu einer sofortigen, einwöchigen Waffenruhe auf, um eine Impfkampagne zu ermöglichen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärte, sie sei bereit, 1,6 Millionen Impfdosen zur Verfügung zu stellen, und die medizinischen Teams des UNRWA bereiteten sich darauf vor, diese an mehr als 640 000 palästinensische Kinder unter 10 Jahren zu verabreichen.

Israel begann rasch damit, seine eigenen Soldaten gegen die Krankheit zu impfen, wartete aber mehrere Wochen, bevor es die Einreise von Impfstoffen für die Bevölkerung des Gazastreifens erlaubte. Doch selbst während medizinische Teams versuchen, die Bevölkerung zu impfen, scheint kein Waffenstillstand in Sicht zu sein.

„Der orale Polio-Impfstoff ist wirksam“, sagte Sameer Sah, der britische Programmdirektor von Medical Aid for Palestinians (MAP), gegenüber +972. „Die Herausforderung besteht darin, den Impfstoff in ein Gebiet zu bringen, in dem fast täglich Menschen vertrieben werden, Transportmittel schwer zu finden und Straßen beschädigt sind und Gesundheitsdienste angegriffen werden.

„Eine solche Kampagne würde viel bewirken, aber die Ausdehnung der roten Zone im Gazastreifen [die Gebiete, aus denen Israel die Bewohner vertrieben hat] macht es schwierig, jedes Kind zu erreichen“, so Sah weiter. „Ein vollständiger Waffenstillstand ist erforderlich, um eine angemessene Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, einschließlich der Impfungen nicht nur gegen Polio, sondern auch gegen andere vermeidbare Krankheiten.“

In den letzten Tagen wurden PatientInnen und Pflegepersonal gezwungen, aus dem Al-Aqsa-Märtyrer-Krankenhaus in Deir Al-Balah zu fliehen, nachdem die israelische Armee näher rückten. Dr. Khalil Al-Daqran, Leiter der Krankenpflegeabteilung des Krankenhauses, erklärte gegenüber +972 vor der Evakuierung, dass das Krankenhaus für etwa eine Million Menschen zuständig ist, die in die Zentralregion des Gazastreifens vertrieben worden sind; auch die Korridore und Stockwerke waren aufgrund des Mangels an leeren Zimmern und Betten voller PatientInnen.

Angesichts der katastrophalen Zustände selbst in den Krankenhäusern, die trotz der israelischen Bombardierung noch eingeschränkt funktionsfähig sind, äußerte sich Al-Daqran pessimistisch über die Aussichten, die Ausbreitung von Polio zu bekämpfen. „Wir haben ja nicht einmal die Ausrüstung, um Tests zur Feststellung der Seuche durchzuführen“, sagte er.

Unter diesen Umständen und angesichts anderer Krankheiten, die im Gazastreifen grassieren, haben die Eltern große Angst um ihre Kinder. „Uns Mütter machen diese Krankheiten große Angst“, sagte Al-Masry, die Mutter von drei Kindern. „Wenn unsere Kinder nicht durch die Raketen getötet werden, werden sie an diesen seltenen Krankheiten sterben, die durch die Verschmutzung und den Mangel an sanitären Einrichtungen entstehen.“

 

Israel benutzt Wasser als Waffe

Ende Juli verbreitete sich in den sozialen Medien ein Video, das zeigt, wie israelische Militärtechniker ein Wasserreservoir im Viertel Tel al-Sultan in Rafah in die Luft sprengen. Der Soldat, der das Video hochgeladen hatte, widmete die Sprengung „zu Ehren des Schabbats“. Der Vorfall zog eine internationale Verurteilung nach sich und die Armee behauptet wieder einmal, den Vorfall zu untersuchen.

Für Ayman Labad, Forscher in der Abteilung für wirtschaftliche und soziale Rechte des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte, kam die Zerstörung des Reservoirs nicht überraschend, da die israelischen Streitkräfte in den letzten zehn Monaten etwa 67 Prozent der Wasser- und Sanitäreinrichtungen in Gaza zerstört haben. „Die einzige Überraschung ist, dass sie sich dabei selbst gefilmt haben“, sagte er.

Bis Mitte Juni zählten zu den im Krieg zerstörten Einrichtungen 194 Brunnen zur Wassergewinnung, 40 große Wassertanks, 55 Abwasserpumpstationen, 76 kommunale Entsalzungsanlagen, vier Kläranlagen, neun Ersatzteillager und zwei Labors zur Prüfung der Wasserqualität. „Die Bedeutung dessen ist klar: Israel setzt Wasser als Waffe in seinem Völkermord gegen die Bevölkerung des Gazastreifens ein“, so Labad.

Und mit der erzwungenen Stilllegung dieser Einrichtungen wurden die Wasserquellen im Gazastreifen kontaminiert, was zu einer raschen Ausbreitung von Krankheiten führte. „Die Bewohnerinnen und Bewohner des Gazastreifens leben derzeit mit nur einem Fünftel der Wassermenge, die vor dem 7. Oktober zur Verfügung stand“, erklärte Labad. „Etwa 66 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner des Gazastreifens leiden an durch Wasser übertragenen Krankheiten wie Cholera, chronischem Durchfall, Gastroenteritis und Hepatitis.“

Da die Quellen für sauberes Wasser immer weniger werden, sind die Menschen im Gazastreifen gezwungen, stundenlang Schlange zu stehen, um das wenige verfügbare Wasser zu bekommen, und auf grundlegende Hygiene zu verzichten - ein entscheidender Faktor zur Vermeidung von Krankheiten. „Jeder Mensch braucht Dutzende von Litern Wasser, aber wir stehen jetzt in der Schlange und warten etwa sieben Stunden, nur um zwei Gallonen [Anm: Eine US-Gallone entspricht etwa 3,8 Liter] zu bekommen“, sagte Saeed Al-Jabri, ein 38-Jähriger Mann aus Rafah, gegenüber +972. „Ist es für einen Menschen zumutbar, diese Bedingungen zu ertragen?“

Wie viele vertriebene PalästinenserInnen hat Al-Jabri ein Bad im Meer genommen. „Das Meerwasser ist salzig, und wenn es trocknet, lagern sich die Salze auf der Haut ab und können Entzündungen verursachen“, sagt er.

Al-Jabri hat die Videos von israelischen Soldaten gesehen, die auf Wasserquellen zielen, und kann nicht anders, als seine Wut auszudrücken. „Dahinter steckt kein militärisches Ziel“, stellte er fest. „Es ist einfach nur Vergeltung, bei der ZivilistInnen bestraft werden.“

 

Ruwaida Kamal Amer ist eine freiberufliche Journalistin aus Khan Younis.



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