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Der Gaza-Krieg hat einen neuen Aspekt des Schreckens bekommen: Er läutet das Zeitalter der totalen Amoralität ein

Israels schier endloser Krieg zwingt die Welt dazu, sich an ein obszönes Maß an Tod und Leid zu gewöhnen.


Kommentar von Nesrine Malik, The Guardian, 29. Juli 2024

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Am Mittwoch wurde Benjamin Netanjahu nach seiner Rede vor dem US-Kongress mit stehenden Ovationen bedacht. Es war ein Moment, der eine neue Phase des Krieges im Gazastreifen einzuläuten schien - eine Phase, in der er nicht nur als bedauerliche Notwendigkeit toleriert wird, sondern als etwas angesehen wird, das ohne Grenzen, ohne rote Linien und ohne taktisches Ermessen fraglos weiter unterstützt wird. Israels unerbittliche Auslöschung von Familien, Häusern, Kultur und Infrastruktur - ohne ein Ende oder einen Hinweis darauf, wann irgendetwas davon seine Ziele erfüllen wird - ist jetzt einfach ein Teil des Lebens.


Gleichzeitig ruft die wahrscheinliche Kandidatin der Demokraten, Kamala Harris, in einem absurden Appell dazu auf, dass „wir es uns nicht erlauben können, gegenüber dem, was geschieht, gefühllos zu werden“ und dass sie „nicht schweigen wird“, während das Einzige, was zählt, ist, dass die USA Israel weiterhin bewaffnen und finanzieren.


Das alles stellt eine Auflösung nicht nur des Völkerrechts, sondern auch eines grundlegenden menschlichen Rechts dar. Von den Übertretungen, die das tägliche Leben aus dem Gleichgewicht bringen, ist der Tod durch Mord vielleicht das schlimmste und entwürdigendste Verbrechen. Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, die Vorstellung, dass es nicht ohne die höchste Rechtfertigung beendet werden darf, ist das, was uns von der Barbarei trennt. Und so gab es im Laufe der letzten neun Monate, mit jeder neuen Tötung, viele Momente, in denen man sich dachte: Das muss es jetzt doch gewesen sein?


Als die ersten grauen Kinder aus den Trümmern gezogen wurden. Als unbewaffnete ZivilistInnen, mit der Kamera festgehalten, von Drohnenraketen abgeschossen wurden. Als die fünfjährige Hind Rajab starb, als sie inmitten ihrer toten Verwandten auf Hilfe wartete, und als die Sanitäter, die ihr zu Hilfe geschickt wurden, getötet wurden. Als die Mitarbeiter der World Street Kitchen von Präzisionsraketen getroffen wurden. Als ein Mann mit Down-Syndrom in seinem Haus von einem Hund der israelischen Armee angegriffen und dann dem Tod überlassen wurde, nachdem Soldaten seine Familie abgeführt und an der Rückkehr gehindert hatten.


Aber der Krieg hörte nicht auf.


Natürlich gab es Versuche, die fragilen Regeln des internationalen und humanitären Rechts zu bewahren und durchzusetzen. Und wieder hoffte man, dass die Urteile das Ende der Angriffe einläuten würden. Als der Internationale Gerichtshof (IGH) erklärte, dass die PalästinenserInnen ein begründetes Recht auf Schutz vor Völkermord haben, und Israel aufforderte, seine Offensive in Rafah einzustellen. Als der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) einen Antrag auf einen Haftbefehl gegen Netanjahu stellte. Und als der IGH Israel für Apartheid verantwortlich machte.

Dabei wurden sie von Millionen von DemonstrantInnen auf der ganzen Welt unterstützt, deren Aktionen die Innenpolitik auf eine Art und Weise erschütterten, die darauf hindeuteten, dass die Situation nicht haltbar war. Aber der Krieg hat wieder seinen Platz gefunden, eingebettet in den Status quo. Das Thema Gaza spielte sich in unserer politischen Sphäre ab und überschnitt sich mit der Unzufriedenheit der Bevölkerung. Es führte zu Proteststimmen, die dazu beitrugen, dass im Vereinigten Königreich eine Rekordzahl unabhängiger Abgeordneter ins Parlament einzog und etablierten PolitikerInnen bei den Wahlen einen Strich durch die Rechnung gemacht wurde. Auf den Universitätsgeländen in den USA kam es zu historischen Szenen von Protesten und schwerem Polizeieinsatz.


Auch wenn sich die öffentliche Meinung über Israel weltweit grundlegend geändert hat, ist dies für die Menschen in Gaza, die nicht einmal wissen, was vor sich geht, während sie Bomben ausweichen, nach Nahrung suchen und ihre Toten begraben, nicht von Bedeutung. Das einzige, was dabei herauskam, war noch mehr Trotz und Kriegslust von Seiten Israels, die Missbilligung von Gerichtsurteilen durch seine Verbündeten und die Diffamierung und Abwertung einer großen Anzahl von Menschen, die einfach nur wollen, dass das Töten aufhört. All dies scheint zu sagen: Ja, das ist die Welt, in der wir jetzt leben. Gewöhnt euch an sie.


Wie sieht dieses sich daran gewöhnen aus? Es bedeutet, dass man akzeptiert, dass es bestimmte Gruppen von Menschen gibt, die getötet werden können. Dass es in der Tat vernünftig und notwendig ist, sie zu töten, um ein politisches System aufrechtzuerhalten, das auf der Ungleichheit des menschlichen Lebens aufgebaut ist. Das ist es, was der Philosoph Achille Mbembe „Nekropolitik“ nennt - die Ausübung von Macht, um zu diktieren, wie einige Menschen leben und wie andere sterben müssen.


Die Nekropolitik schafft „Todeswelten“, in denen es „neue und einzigartige Formen der sozialen Existenz gibt, in denen große Bevölkerungsgruppen Lebensbedingungen ausgesetzt sind, die ihnen den Status von lebenden Toten verleihen“. In diesen Todeswelten wird die Menschlichkeit der Menschen im „zivilisierten“ Westen durch die Tötung anderer Menschen und die Zerstörung ihres Lebensraums mit Hilfe gewaltiger militärischer Fähigkeiten, deren Auswirkungen die BürgerInnen der verantwortlichen Länder nie zu spüren bekommen, noch mehr aufgewertet. Sie werden verschont, weil sie gut sind, nicht weil sie stark sind. Die PalästinenserInnen sterben, weil sie schlecht sind, nicht, weil sie schwach sind.


Die Abwertung des palästinensischen Lebens besteht darin, unser Leben von dem der anderen zu trennen, die rechtliche und moralische Welt in zwei Welten aufzuteilen - eine, in der wir existieren und Freiheit von Hunger, Angst und Verfolgung verdienen, und eine zweite, in der andere eine Eigenschaft gezeigt haben, die beweist, dass ihnen das Gleiche nicht zusteht. Deshalb ist es wichtig, dass die Befürworter des israelischen Krieges behaupten, dass es in Gaza keine Unschuldigen gibt, dass sich die Hamas hinter ihnen versteckt, dass diejenigen, mit denen man sympathisiert, die ersten wären, die einen verfolgen würden, wenn man schwul oder eine Frau wäre. Sie sind nicht wie wir. Sobald einem beigebracht wird, sich nicht mehr mit anderen auf der Grundlage ihrer Menschlichkeit zu identifizieren, ist das Werk der Nekropolitik vollbracht.


Das Ergebnis ist eine Welt, die sich anfühlt, als befände sie sich mitten in diesem Übergang. Politische Ereignisse überschlagen sich und machen den Gazastreifen zu einer normalen Angelegenheit. Bilder und Berichte aus dem Gaza-Streifen, zuletzt von US-amerikanischen Ärzten, die CBS News von Kindern mit Schusswunden an Kopf und Herz berichteten, konkurrieren mit der Aufmerksamkeit, die von den US-Wahlen absorbiert wird. Mit Memes, Possen und dem trivialen Durcheinander der digitalen Welt. Gaza kommt zu uns in einer Montage von Videos und Postings: Diskretion wird empfohlen/Kamala ist eine „Göre“/störende Bilder/Rezeptdetails in der Bildunterschrift/Rashida Tlaib hält ein „Kriegsverbrecher“-Schild.


Was für eine Welt wird danach entstehen? Der Krieg gegen Gaza ist schlichtweg zu groß, zu brutal, zu unerbittlich, als dass seine erzwungene Normalisierung ohne unerwünschte Konsequenzen ablaufen könnte. Das Endergebnis ist die Degradierung der gesamten Menschheit; das Endergebnis ist eine Welt, in der niemand mehr dazu in der Lage sein wird, dem Ruf nach Hilfe für Menschen in Not zu folgen.



 

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