Das israelische Militär zwingt Palästinenser dazu, Häuser und Tunnel in Gaza, die möglicherweise mit Sprengfallen versehen sind, zu begehen, um eigene Truppen nicht in Gefahr zu bringen, so ein Soldat der israelischen Armee und fünf ehemalige Gefangene, die davon berichten, sie seien Opfer dieser Praxis geworden.
Von Mick Krever, Jeremy Diamond und Abeer Salman; CNN, 24. Oktober 2024
(Originalbeitrag in englischer Sprache und dazugehörendem Video)
Der Soldat, der berichtet, dass seine Einheit zwei palästinensische Gefangene mit dem ausdrücklichen Ziel festhielt, sie als menschliche Schutzschilde zu benutzen, um gefährliche Orte zu erkunden, sagt, dass diese Praxis unter den israelischen Einheiten in Gaza weit verbreitet ist.
„Wir haben ihnen befohlen, dass sie das Gebäude vor uns betreten sollen“, erklärte er. „Wenn es dort irgendwelche Sprengfallen gibt, werden sie explodieren und nicht wir.“
Das ist beim israelischen Militär so verbreitet, dass es einen eigenen Namen hat: „Moskito-Protokoll“.
Das genaue Ausmaß und der Umfang der Praktiken des israelischen Militärs sind nicht bekannt. Die Aussagen des Soldaten und von fünf Zivilisten zeigen jedoch, dass sie im gesamten Gebiet verbreitet ist: im nördlichen Gazastreifen, in Gaza-Stadt, Khan Younis und Rafah.
Der Soldat erklärte, dass seine Einheit, die sich zu dieser Zeit im nördlichen Gazastreifen befand, zunächst standardisierte Verfahren anwandte, bevor sie in ein verdächtiges Gebäude eindrang: Sie schickte einen Hund hinein oder schlug mit einer Panzergranate oder einem gepanzerten Bulldozer ein Loch in die Seite des Gebäudes.
Doch eines Tages im Frühjahr, so der Soldat, tauchte ein Geheimdienstoffizier mit zwei palästinensischen Gefangenen – einem 16-jährigen Jungen und einem 20-jährigen Mann – auf und forderte die Truppen auf, sie als menschliche Schutzschilde zu benutzen, bevor sie in Gebäude eindrangen. Der Geheimdienstoffizier behauptete, die beiden hätten Verbindungen zur Hamas.
Als er diese Praxis in Frage stellte, so der Soldat, habe einer seiner Kommandeure ihm gesagt: „‚Es ist besser, wenn der Palästinenser explodiert und nicht unsere Soldaten.‘“
„Es ist ziemlich schockierend, aber nach ein paar Monaten im Gazastreifen neigt man dazu, nicht mehr klar zu denken“, sagte der Soldat. „Man ist einfach müde. Natürlich ist es mir lieber, dass meine Soldaten leben. Aber, wissen Sie, so funktioniert die Welt nicht.“
Der Soldat berichtet, er und seine Kameraden hätten sich nach zwei Tagen geweigert, diese Praxis fortzusetzen, und hätten ihren obersten Befehlshaber damit konfrontiert. Ihr Kommandeur, der ihnen zunächst sagte, sie sollten „nicht an das Völkerrecht denken“, da ihr eigenes Leben „wichtiger“ sei, gab schließlich nach und ließ die beiden Palästinenser frei, so der Soldat.
Die Tatsache, dass sie freigelassen wurden, habe ihm deutlich gemacht, dass sie keine Verbindung zur Hamas hätten, „dass sie keine Terroristen sind“.
CNN wurde von Breaking the Silence mit dem Soldaten in Kontakt gebracht, einer Organisation, die israelischen SoldatInnen ein Forum bietet, um sich zu äußern und ihre Aussagen zu verifizieren.
Breaking the Silence stellte CNN drei Fotos zur Verfügung, auf denen zu sehen ist, wie das israelische Militär Palästinenser in Gaza als menschliche Schutzschilde missbraucht. Ein erschütterndes Foto zeigt zwei Soldaten, die einen Zivilisten vor dem Hintergrund der Verwüstung im nördlichen Gazastreifen vorwärts drängen. Auf einem zweiten Foto sitzen zwei Zivilisten, die als menschliche Schutzschilde benutzt werden, gefesselt und mit verbundenen Augen. Ein drittes zeigt einen Soldaten, der einen gefesselten Zivilisten bewacht.
In einer Erklärung teilte das israelische Militär dem Sender CNN mit: „Die Weisungen und Richtlinien der IDF verbieten es strikt, inhaftierte Zivilisten aus dem Gazastreifen für militärische Operationen zu verwenden. Die entsprechenden Protokolle und Anweisungen werden den Soldaten im Feld während des Konflikts routinemäßig erläutert.“
Das Völkerrecht verbietet den Einsatz von Zivilisten als Schutzschild für militärische Aktivitäten oder die gewaltsame Einbeziehung von Zivilisten in militärische Operationen. Der Oberste Gerichtshof Israels hat diese Praxis im Jahr 2005 ausdrücklich verboten, nachdem Menschenrechtsorganisationen eine Beschwerde darüber eingereicht hatten, dass das Militär palästinensische Zivilisten einsetzt, um an die Türen von mutmaßlichen Kämpfern im Westjordanland zu klopfen. Richter Aharon Barak bezeichnete die Praxis damals als „grausam und barbarisch“. [Der Richter Aharon Barak entschied außerdem, dass ein Bewohner eines besetzten Gebiets „nicht in ein Gebiet gebracht werden darf, in dem eine Militäroperation stattfindet, auch nicht mit seiner Zustimmung“. Das Machtungleichgewicht zwischen einem Soldaten und einem Zivilisten bedeute, dass niemand als Freiwilliger für eine solche Aufgabe angesehen werden könne, so Barak. Soldaten sollten Zivilisten auch nicht auffordern, Dinge zu tun, von denen sie annehmen, dass sie sicher sind, so das Urteil weiter, da „diese Annahme manchmal nicht begründet ist“, Anm.]
Israel beschuldigt die Hamas seit langem, ZivilistInnen im Gazastreifen als menschliche Schutzschilde zu benutzen und militärische Infrastrukturen in zivilen Gebieten einzurichten – Behauptungen, die die Hamas bestreitet. Dafür gibt es reichlich Beweise: Waffen, die sich in Häusern befinden, Tunnel, die unter Wohnvierteln gegraben wurden, und Raketen, die von eben diesen Vierteln in dem dicht besiedelten Gebiet abgefeuert werden.
Das israelische Militär beruft sich häufig auf diese Praktiken und macht die Hamas für die außerordentlich hohe Zahl ziviler Todesopfer im Gazastreifen verantwortlich, wo Israel Bomben auf dieselben Wohngebiete abgeworfen hat. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums sind bei israelischen Angriffen seit Oktober letzten Jahres mehr als 42.000 Palästinenser im Gazastreifen getötet worden. Nach Angaben der Vereinten Nationen handelt es sich bei den meisten Toten um Zivilisten.
„Wir haben gesehen, wie die Hamas Palästinenser als menschliche Schutzschilde benutzt hat“, sagte der Soldat. „Aber für mich ist es schmerzhafter mit meiner eigenen Armee. Die Hamas ist eine terroristische Organisation. Die israelische Armee sollte keine Praktiken von Terrororganisationen anwenden.“
Das Moskito-Protokoll
Interviews mit fünf ehemaligen palästinensischen Gefangenen im Gazastreifen decken sich mit dem Bericht des Soldaten. Alle beschreiben, dass sie von israelischen Truppen gefangen genommen und gezwungen wurden, vor dem Militär an potenziell gefährliche Orte zu gehen.
Mohammad Saad, 20, wurde Anfang des Jahres durch israelische Luftangriffe aus seinem Haus in Jabalya im Norden des Gazastreifens vertrieben. In seinem Behelfsheim in der Nähe von Khan Younis erklärte Saad, dass er in der Nähe von Rafah vom israelischen Militär verschleppt wurde, als er versuchte, Lebensmittel für sich und seine jüngeren Brüder zu besorgen.
„Die Armee nahm uns in einem Jeep mit und wir fanden uns in Rafah in einem Militärlager wieder“, berichtet er und fügt hinzu, dass er dort 47 Tage lang festgehalten und während dieser Zeit für Erkundungsmissionen missbraucht wurde, um die israelischen Soldaten nicht zu gefährden.
„Sie zogen uns Militäruniformen an, setzten uns eine Kamera auf und gaben uns einen Metallschneider“, sagte er. „Sie befahlen uns, Dinge zu tun wie: „Bewege diesen Teppich“, wenn sie nach Tunneln suchten. „Filme unter der Treppe“, befahlen sie. Wenn sie etwas fanden, sagten sie uns, wir sollten es nach draußen bringen. Sie befahlen uns zum Beispiel, Sachen aus dem Haus zu holen, aufzuräumen, das Sofa zu verschieben, den Kühlschrank und den Schrank zu öffnen.“
Die Soldaten hatten Angst vor versteckten Sprengsätzen, so Mohammed Saad.
„Normalerweise trug ich die Armeeuniform, aber für den letzten Einsatz wurde ich in Zivilkleidung abgeholt“, sagte Saad. „Wir gingen zu einem Ort und sie befahlen mir, dass ich einen von der israelischen Armee zurückgelassenen Panzer filmen sollte. Ich hatte furchtbare Angst und wollte ihn nicht filmen, also schlugen sie mir mit dem Gewehrkolben auf den Rücken.“
Als er sich dem Panzer näherte, fielen Schüsse, und Saad wurde in den Rücken getroffen. Wie durch ein Wunder überlebte er und wurde in das Soroka Medical Center in Israel gebracht. Als er zwei Wochen später von CNN in Khan Younis interviewt wurde, hob er sein Hemd, um die Wunde zu zeigen, an der die Kugel in seinen Rücken eingedrungen war.
Nicht alle der benutzten Palästinenser waren Erwachsene. Mohammad Shbeir, 17, sagt, dass er von israelischen Soldaten verschleppt worden, nachdem sie seinen Vater und seine Schwester bei der Stürmung ihres Hauses in Khan Younis getötet hatten.
„Ich war mit Handschellen gefesselt und hatte nur meine Boxershorts an“, erinnert er sich. „Sie benutzten mich als menschliches Schutzschild und brachten mich in zerstörte Häuser, an Orte, die gefährlich sein oder Landminen enthalten konnten.“
Dr. Yahya Khalil Al-Kayali, 59, wurde wie so viele andere immer wieder vertrieben, nachdem er aus seinem Haus in Gaza-Stadt zur Flucht gezwungen worden war. Er lebte schließlich in der Nähe des Al Shifa-Krankenhauses, dem einst größten medizinischen Komplex in Gaza, und schloss sich damit Tausenden von Binnenvertriebenen an, die dort Zuflucht gefunden hatten.
Im März belagerte das israelische Militär den medizinischen Komplex zum dritten Mal und behauptete, die Hamas nutze ihn als Kommandozentrale – was die Hamas bestritt [die UN stellte ebenfalls fest, dass Israel nie Beweise für diese Behauptungen vorgelegt hat]. Bei der zweiwöchigen Stürmung, bei der das Krankenhaus zerstört und funktionsunfähig gemacht wurde, wurden zahlreiche Menschen verschleppt. Dr. Al-Kayali war unter ihnen.
„Der Anführer dieser Gruppe, der Soldat, befahl mir, zu ihm zu kommen“, erinnerte sich Dr. Al-Kayali im Mawasi-Viertel von Khan Younis, in der Nähe eines Zeltlagers am Strand. „Er sprach mit mir auf Englisch. Und er befahl mir, aus dem Gebäude hinauszugehen, um nach offenen Löchern oder Tunneln unter dem Boden zu suchen.“
Entlang einer Reihe von Wohnhäusern forderten die Soldaten Dr. Al-Kayali immer wieder auf, jeden Raum jeder Wohnung zu betreten und nach Kämpfern und Sprengfallen zu suchen. Die Kanonen der israelischen Panzer standen schussbereit, falls Hamas-Kämpfer entdeckt worden wären, berichtet er.
„Ich dachte, dass ich innerhalb weniger Minuten getötet werden oder sterben würde“, erinnert sich Dr. Al-Kayali. „Ich habe an meine Familie gedacht. Man hat keine Zeit, über viele Dinge nachzudenken. Aber ich habe mir Sorgen um meine Kinder gemacht, denn meine Kinder und meine Familie waren in demselben Gebäude.“
Zu seiner Erleichterung waren die Gebäude leer, und er wurde freigelassen. Am Ende war er gezwungen worden, mehr als 80 Wohnungen zu überprüfen.
Alle von CNN interviewten Palästinenser wurden schließlich freigelassen, nachdem sie als menschliche Schutzschilde benutzt worden waren, und der Soldat berichtet, dass auch die von seiner Einheit gefangengenommenen Männer freigelassen wurden.
Doch nachdem der Soldat den Gazastreifen verlassen hatte, erfuhr er von seinen Kameraden, dass das so genannte „Moskito-Protokoll“ in seiner Einheit wieder aufgenommen worden war.
„Meine eigenen Soldaten, die sich anfangs geweigert hatten, haben diese Praxis wieder aufgenommen“, sagte er. „Sie haben nicht mehr die Kraft, die sie am Anfang hatten.“
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