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Bombardierte Krankenhäuser, verschüttete Kinder: Wir sind gefühllos gegenüber der Vernichtung des Gazastreifens geworden

Im gleichen Ausmaß, in dem wir mit dem Grauen konfrontiert werden, wird es zur Normalität - und Israels Angriffe gehen ungehindert weiter. Gedanken einer palästinensisch-amerikanische Schriftstellerin und Psychologin über Entmenschlichung.


Von Hala Alyan, The Guardian, 19. August 2024

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 


Im Mai, als das Bild eines enthaupteten Kindes in Rafah die Runde machte, schrieb mir ein Freund eine SMS: Das ist das Bild. Das ist es. Jetzt wird die Welt toben.

Für viele von uns war dies die Realität der letzten Monate: das Warten auf jenes Bild, das die Gleichgültigkeit und Zustimmung erschüttern wird; das Warten auf jenes Bild, das so erschütternd ist, dass es nicht verhandelbar ist. Ein amputiertes Kleinkind. Ein zerfetzter Körper. Ein Mädchen, das an der Wand eines Gebäudes hängt. Wir warten noch immer.

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Entmenschlichung ist eine Voraussetzung für die meisten Formen der Gewalt. Lange bevor eine Bombe auf eine Schule fällt, in der Kinder Schutz suchen - weil man sie dorthin geschickt hat - muss man diese Tat akzeptabel machen. Je mehr tote, verhungerte, weinende und zerfetzte palästinensische Körper die Öffentlichkeit sieht, desto mehr wird das Gehirn psychisch abgestumpft.

Die PalästinenserInnen verschwinden in „Horden“, in „Massen“, in einer so großen Zahl, dass es unmöglich wird, sich ihre Spitznamen oder Lieblingslieder vorzustellen. Der Körper eines Palästinensers ist eine verhandelbare Sache - ein Kind wird zu einem „Minderjährigen“. Die Toten werden zu „angeblichen“ Zahlen aus unzuverlässigen Mündern. Das ist ein alter Trick mit braunen und schwarzen Körpern: Man schreibt sie aus der Vorstellung hinaus, altert sie, bezieht sich auf sie im Kollektiv. Wenn sie zerfetzt, verbrannt, gelyncht, überfallen werden, wenn wir einen Schwarzen um Atemluft betteln sehen, wenn wir den Haufen von Gliedmaßen in Abu Ghraib sehen, dann sind wir darauf konditioniert, ihr Schicksal als unausweichlich zu akzeptieren.

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Die häufigste Form der Kritik an Israel-Kritik bezieht sich auf den Exzeptionalismus: die Vorstellung, dass der Staat zu Unrecht kritisiert wird, dass an ihn andere Maßstäbe angelegt werden, dass er in besonderer Weise hervorgehoben wird. Dies ist eine faszinierende Umkehrung des Narrativs des Exzeptionalismus, das Israel auf sich selbst anwendet: Sein Anspruch auf das Land ist einzigartig. Seine Bürger haben ein außergewöhnliches Recht auf Wasser, Ressourcen und Freiheit. Sogar sein politischer Rahmen ist einzigartig. Es kann sowohl ein ethnisch-religiöser Staat als auch eine Demokratie sein. Er kann sowohl Modernität als auch ein gottgegebenes Recht auf Macht beanspruchen.

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Die Handlungen der letzten zehn Monate zeigen einen Staat, der eindeutig an seine Immunität und sein Recht auf Beistand von außen glaubt. Wir haben in Gaza eine multidimensionale Gnadenlosigkeit erlebt – sowohl militärisch als auch psychologisch –, die ein taktisches Verständnis dafür zeigt, was Hoffnungslosigkeit, Burnout und psychische Betäubung hervorruft: unaufhörliche Bombardierung, Blockierung von Hilfsgütern, ständiges Hin- und Hertreiben von ZivilistInnen in zahllosen Evakuierungsbefehlen und, was vielleicht am heimtückischsten ist, die Entmenschlichung der PalästinenserInnen durch Politik und Narrativ. Gaza wird als der gefährlichste Ort der Welt für Kinder bezeichnet. Der Gazastreifen hat die höchste Anzahl von Amputationen bei Kindern in der Menschheitsgeschichte. Gaza ist der tödlichste Ort für JournalistInnen, seit das internationale Komitee zum Schutz von JournalistInnen mit der Erfassung von Daten begonnen hat. Innerhalb von zehn Monaten, in der Zeitspanne, in der das menschliche Leben entsteht, ist Gaza zu einem der unbewohnbarsten Orte auf diesem Planeten geworden.

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Es gibt einen Saturierungspunkt des Grauens, an dem die kollektive Psyche entweder abstumpft oder sich normalisiert, an dem sich die Maßstäbe für das Grauen zu verschieben beginnen. Was ist schon ein weiteres totes Kind im Vergleich zu zwanzigtausend? Wenn man bereits die Akzeptanz für das Abschlachten einer Blutlinie, oder von zwei, drei, hergestellt hat, dann spielen zehn weitere keine Rolle mehr. Am 17. Oktober wurde noch heftig darüber debattiert, ob Israel das Krankenhaus von al-Ahli bombardiert hatte, und zahllose RednerInnen und ExpertInnen eilten zur besten Sendezeit in die Nachrichten, um von Selbstverteidigung und von einer moralischen Armee zu sprechen. Weniger als ein Jahr später hat Israel nun ganz offen und unbeirrt Dutzende von Krankenhäusern, UN-Schulen und jede einzelne Universität in Gaza bombardiert. Der Ausgangspunkt der Akzeptanz hat sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit verschoben.

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Für uns, die wir zuschauen - ganz zu schweigen von denen, die vor Ort sind -, erscheint das Streben nach israelischer oder amerikanischer Rechenschaftspflicht zunehmend aussichtslos. In der Zwischenzeit gibt es keine palästinensische Antwort auf die israelische Aggression, die akzeptiert wird. Die lange, lebendige Geschichte des gewaltlosen palästinensischen Widerstands - der fast immer mit israelischer Gewalt beantwortet wurde - wird delegitimiert oder ignoriert. Boykott-Bewegungen werden als widerwärtig abgestempelt. Die meist friedlichen und von StudentInnen organisierten Campus-Demonstrationen im Frühjahr wurden als gefährlich, töricht oder beides dargestellt und schließlich von der Nationalgarde aufgelöst.

Seit fast einem Jahr kokettiert die Regierung dieses Landes mit dem Gerede von roten Linien. Aber eine rote Linie, die keine rote Linie ist, ist letztlich eine Erlaubnis. Die amerikanische Rhetorik lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen, der überall im Land in die Mikrofone gesprochen wird: Recht auf Selbstverteidigung, Recht auf Selbstverteidigung, Recht auf Selbstverteidigung. Die Frage, ob dieses Recht für alle gleichermaßen angewandt wird, kommt einer Blasphemie gleich, wahrscheinlich weil die eigentliche Frage lautet, wem das Recht auf ein Selbst, auf einen Körper, auf ein Leben zugestanden wird. Und das ist die unaussprechlichste Frage von allen.

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In der Zwischenzeit leben die PalästinenserInnen - auch außerhalb des Gazastreifens - in einem System, in dem Familien aufwachen und kurzerhand vertrieben werden, in dem sie ohne Anklage auf unbestimmte Zeit inhaftiert werden können und in dem man, wenn man jemanden zur Rechenschaft ziehen will, sich an das System wenden muss, das das Unrecht begangen hat. Allein in den letzten Wochen haben israelische ParlamentarierInnen das Recht verteidigt, palästinensische Gefangene sexuell zu missbrauchen, israelische DemonstrantInnen haben vor dem Gefangenenlager Sde Teiman randaliert, um die Verhaftung von Soldaten zu verhindern, die palästinensische Gefangene vergewaltigt haben, israelische Streitkräfte haben eine Wasserversorgungsanlage in Gaza zerstört, und es wurden zwei Attentatsversuche auf fremdem Boden unternommen. Israel untersucht sich selbst, heißt es in amerikanischen Presseberichten. Israel hat seine Überprüfungsvorgänge. Dann, Monate oder Jahre später, hat Israel sich selbst entlastet.

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Wir lieben in unserer Gesellschaft das Konzept der faulen Äpfel, weil wir an eine soziale Ordnung glauben wollen. Es ist viel schwieriger, Geschichten über einen Hund zu lesen, der einen Mann zu Tode biss, während er wimmerte: „Bitte, es reicht, mein Lieber, bitte!“[1], über ein weiteres Massaker in einem Flüchtlingslager, über palästinensische Gefangene, die mit Feuerlöschern und elektrischen Sonden sexuell missbraucht werden, und sich mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, dass dies die logische Folge einer Ideologie sein könnte, die nie gezwungen worden ist, sich mit ihren Missständen auseinanderzusetzen. Dass es sich um ein System handeln könnte, das seine fundamentalen Grundsätze, wer welche Art von Leben verdient, ungehindert bis zur letzten Konsequenz ausführt.

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Joe Bidens Haltung zu Gaza ist eine, die Kamala Harris übernehmen wird. Viele halten den Atem an, um zu sehen, was sie mit dem übernommenen Erbe anfangen wird. Viele machen sich nicht die Mühe. Harris hätte jetzt die Möglichkeit, die Wähler ihrer Regierung zu vertreten und den Ruf nach Rechenschaftspflicht zu erhören. Denn die Wahrheit ist, dass jeder Bruch des internationalen Rechts - Angriffe auf Krankenhäuser, JournalistInnen, kollektive Bestrafung - einem Bruch gleichkommt, der nicht nur die PalästinenserInnen alarmieren sollte, sondern jede Entität und jedes Individuum, das in einer Art von Weltordnung leben will.

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Uneingeschränkte Macht korrigiert sich selten selbst - und ist auf den strategischen Einsatz von Schweigen angewiesen. Audre Lorde schrieb: „Wir sind dazu erzogen worden, die Angst mehr zu respektieren als unser eigenes Bedürfnis zu sprechen.“ Darin liegt der Keim wahrer Verantwortlichkeit: sich trotz enormer Belastungen dafür zu engagieren.

Die Israelis haben keinen einzigartigen Anspruch auf Sicherheit, egal was ihr Parlament oder irgendein amerikanischer Präsident sagt. Die Amerikaner auch nicht. Wir dürfen nicht eine Sekunde lang glauben, dass die erbarmungslose Entmenschlichung nur das Problem der Entmenschlichten ist. Sie zahlen den unvorstellbaren Preis, aber es ist ein wechselseitiges Phänomen. Was die Unterdrückungssysteme nicht erkennen, ist, dass diese Entmenschlichung - in Gedanken, in Worten, in Taten, in der Politik - eine langsame und isolierende Übung ist, bei der die eigene Menschlichkeit ausgehöhlt wird.

So viele Kinder in Gaza wurden begraben. Oder zu Waisen gemacht. Oder sie wurden gefunden, wie sie ihre Puppen unter Trümmern umklammerten. Oder sie starben an Herzinfarkten durch den Terror. Wenn also Netanjahu, ein Mann mit einem drohenden Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen, von unserem Kongress mit stehenden Ovationen bedacht wird, ist das nicht nur Netanjahus Vermächtnis.


Es ist unseres. Und die Zeit, dies zu ändern, wird immer knapper und knapper.


 

Hala Alyan ist eine palästinensisch-amerikanische Schriftstellerin, Dichterin und klinische Psychologin.

 


[1] Die Autorin bezieht sich hierbei auf den Tod von Muhammed Bhar. Bhar, ein Mann mit Down Syndrom und Autismus-Spektrum-Störung, wurde von einem Hund der israelischen Armee angegriffen und schwer verletzt. Die israelischen Soldaten ließen ihn alleine und verletzt zurück, nachdem seine Familie gezwungen worden war, das Haus – ohne ihren Sohn und Bruder Muhammed – zu verlassen. Muhammed Bhar wurde eine Woche später von seiner Familie tot aufgefunden.




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