Da die israelische Armee nicht in der Lage war, die Hamas-Befehlshaber in den Tunneln des Gazastreifens ausfindig zu machen, zerstörtet sie ganze Wohnblöcke mit Bunkerbomben, um die darunter liegenden Gänge zu zerstören und sie mit tödlichem Gas zu fluten, wie eine Untersuchung zeigt.
Von Yuval Abraham, 06.02.2025, +972Mag in Kooperation mit Local Call
(Originalbeitrag in englischer Sprache: )
Die israelische Armee hat Wohngebiete im Gazastreifen intensiv bombardiert, obwohl sie nicht genau wusste, wo sich Hamas-Befehlshaber im Untergrund versteckt hielten, und sie hat absichtlich die toxischen Nebenwirkungen der Bomben eingesetzt, um die Kämpfer in ihren Tunneln zu ersticken, wie eine Untersuchung des Magazins +972 und Local Call zeigt.
Die Untersuchung, die auf Gesprächen mit fünfzehn Offizieren des israelischen Militärgeheimdienstes und des Shin Bet beruht, die seit dem 7. Oktober an gezielten Tunneloperationen beteiligt waren, legt offen, wie diese Strategie die Unfähigkeit der Armee kompensieren sollte, Ziele im unterirdischen Tunnelnetz der Hamas zu lokalisieren. Bei ihren Angriffen auf hochrangige Kommandeure der Gruppe genehmigte das israelische Militär die Tötung einer „dreistelligen Zahl“ palästinensischer ZivilistInnen als „Kollateralschaden“ und stimmte sich in Echtzeit eng mit US-Beamten über die erwarteten Opferzahlen ab.
Bei einigen dieser Angriffe, die zu den tödlichsten des Krieges gehörten und bei denen häufig amerikanische Bomben zum Einsatz kamen, wurden bekanntermaßen israelische Geiseln getötet, obwohl die zuständigen Offiziere im Vorfeld Bedenken geäußert hatten. Darüber hinaus führte das Fehlen präziser Informationen dazu, dass die Armee bei mindestens drei größeren Angriffen mehrere 2.000-Pfund-Bunkerbomben abwarf, die unzählige ZivilistInnen töteten – Teil einer Strategie, die als „kacheln“ bekannt ist –, ohne das beabsichtigte Ziel zu treffen.
„Es ist schwierig, ein Ziel innerhalb eines Tunnels zu lokalisieren, daher greift man in einem [weiten] Radius an“, so eine Quelle des militärischen Geheimdienstes gegenüber +972 und Local Call. Da die Armee nur eine ungefähre Vorstellung von der Lage des Ziels habe, erklärte die Quelle, sei dieser Radius „Dutzende und manchmal Hunderte von Metern“ groß, was bedeute, dass bei diesen Bombenangriffen mehrere Wohnblöcke ohne Vorwarnung auf ihre BewohnerInnen einstürzten. „Plötzlich sieht man, wie sich jemand in der israelischen Armee wirklich verhält, wenn er die Möglichkeit bekommt, einen ganzen Wohnblock auszulöschen – er tut es“, so die Quelle weiter.
Die vorliegenden Recherchen zeigen auch, dass Israel seit Jahren weiß, dass beim Einsatz von Bunkerbomben das tödliche Gas Kohlenmonoxid als Nebenprodukt freigesetzt wird, das Menschen in einem Tunnel durch Ersticken töten kann, selbst in einer Entfernung von Hunderten von Metern vom Ort des Einschlags. Nachdem die Armee dies 2017 zufällig entdeckt hatte, testete sie diese Strategie erstmals 2021 im Gazastreifen und setzte sie nach dem 7. Oktober bei ihren Bestrebungen ein, Hamas-Kommandeure zu töten. Auf diese Weise konnte die Armee Ziele angreifen, ohne deren genauen Standort zu kennen und ohne sich auf direkte Treffer verlassen zu müssen.
„Das Gas bleibt unter der Erde, und die Menschen ersticken“, sagt Brigadegeneral a.D. Guy Hazoot, die einzige Quelle, die bereit war, namentlich genannt zu werden, gegenüber +972 und Local Call. „Wir erkannten, dass wir mit den Bunkerbomben der Luftwaffe, die, auch wenn sie den Tunnel nicht zerstören, Gase freisetzen, die jeden im Tunnel töten, jeden unter der Erde effektiv angreifen können. Der Tunnel wird dann zu einer Todesfalle.“
Im Januar 2024 erklärte ein Sprecher der israelischen Armee gegenüber +972 und Local Call als Reaktion auf eine frühere Untersuchung, dass sie „niemals Nebenwirkungen von Bombenabwürfen zur Schädigung ihrer Ziele eingesetzt hat und auch jetzt nicht einsetzt, und dass es in der israelischen Armee keine derartige ‚Technik‘ gibt.“ Unsere neue Untersuchung zeigt jedoch, dass die Luftwaffe physikalisch-chemische Untersuchungen über die Wirkung des Gases in geschlossenen Räumen durchgeführt und das Militär über die ethischen Auswirkungen der Methode diskutiert hat.
Drei israelische Geiseln – Nik Beizer, Ron Sherman und Elia Toledano – wurden bei einem Bombenangriff am 10. November 2023 auf Ahmed Ghandour, einen Hamas-Brigadekommandeur im nördlichen Gazastreifen, definitiv durch Erstickung getötet. Die Armee teilte ihren Familien mit, dass sie zum Zeitpunkt des Bombenanschlags nicht wusste, dass sich Geiseln in der Nähe von Ghandour befanden. Drei Quellen, die mit dem vom Shin Bet geleiteten Angriff vertraut waren, erklärten jedoch gegenüber +972 und Local Call, dass es „widersprüchliche“ Informationen gab, die darauf hindeuteten, dass sich Geiseln in der Nähe aufhalten könnten, und dass der Angriff dennoch genehmigt wurde.
Sechs Quellen zufolge handelte es sich dabei nicht um einen Einzelfall, sondern um einen von „Dutzenden“ israelischer Luftangriffe, bei denen wahrscheinlich Geiseln in Gefahr waren oder sogar getötet wurden. Sie beschrieben, wie das Militärkommando Angriffe auf die Häuser mutmaßlicher Entführer und die Tunnel, von denen aus hochrangige Hamas-Mitglieder die Kämpfe steuerten, genehmigte.
Während Angriffe abgebrochen wurden, wenn es konkrete, eindeutige Informationen über die Anwesenheit einer Geisel gab, genehmigte die Armee routinemäßig Angriffe, wenn die Informationen nicht eindeutig waren und eine „geringe“ Wahrscheinlichkeit bestand, dass sich Geiseln in der Nähe eines Ziels befanden. „Es sind definitiv Fehler passiert, und wir haben Geiseln bombardiert“, so eine Geheimdienstquelle.
Israels Bemühungen, die Chancen auf die Tötung hochrangiger, im Untergrund versteckter Kämpfer zu maximieren, umfassten auch Versuche, Teile der Tunnelnetze zu zerstören und die darin befindlichen Ziele in eine Falle zu locken. Quellen berichteten von Vorfällen, bei denen Fahrzeuge auf der Flucht von einem Angriffsort bombardiert wurden, ohne dass genau bekannt war, wer sich darin befand, weil man davon ausging, dass ein hochrangiger Hamas-Aktivist zu entkommen versuchte.
„Die ganze Region spürte und hörte die Explosionen“, berichtet Abdel Hadi Okal, ein palästinensischer Journalist aus Jabalia, der in den ersten Wochen des Krieges Zeuge mehrerer größerer israelischer Bombenangriffe war, die von den PalästinenserInnen als „Feuer-Gürtel“ bezeichnet wurden, gegenüber +972 und Local Call. „Ganze Wohnblocks wurden mit schweren Raketen beschossen, so dass Gebäude einstürzten und aufeinander fielen. Krankenwagen und Fahrzeuge des Zivilschutzes waren nicht in der Lage, das Ausmaß des Bombardements zu bewältigen, so dass die Menschen ihre Hände und ein paar leichte Geräte benutzen mussten, um Leichen unter den Trümmern der Häuser hervorzuziehen. Es gab für niemanden eine Überlebenschance.“
Teil 1: Der Gaseffekt
Eine überraschende Entdeckung
Der Gaseffekt wurde im Oktober 2017 zufällig entdeckt. Damals leitete Brigadegeneral (a.D.) Guy Hazoot eine Division im Südkommando. Er berichtete +972 und Local Call über die Abfolge der Ereignisse, die von drei weiteren militärischen Quellen bestätigt wurden.
Hazoot zufolge war der damalige IDF-Stabschef Gadi Eizenkot im Ausland und hatte seinen Stellvertreter Aviv Kochavi beauftragt, sich um ein dringendes Problem zu kümmern: Der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ) hatte einen Tunnel unter dem Zaun zum Gazastreifen gegraben, der etwa zwei Kilometer vom Kibbuz Kissufim entfernt verläuft. Kochavi befahl der Luftwaffe, den Tunnel mit einer Bunkerbombe zu bombardieren, wies sie jedoch an, nicht mehr als fünf PIJ-Aktivisten zu töten, um eine unnötige Eskalation im Gazastreifen zu vermeiden.
Dann geschah etwas Unerwartetes. „Obwohl wir die Bomben auf [der israelischen Seite] der Grenze abfeuerten, starben alle im Tunnel [in Gaza]“, erklärte Hazoot. „Weitere 12 PIJ-Rettungshelfer kamen nach der Explosion herein und starben ebenfalls durch Ersticken. Selbst diejenigen, die Masken trugen, starben.“ Das war der „bahnbrechende Moment“, so Hazoot, als klar wurde, dass Bunkerbomben, die in Tunneln detonieren, Kohlenmonoxidgas als Nebenprodukt freisetzen, das tagelang im Tunnel bleibt.
Kohlenmonoxid, der so genannte „stille Killer“, ist farb-, geruch- und geschmacklos und für den Menschen besonders tödlich. Jährlich sterben etwa 30 000 Menschen durch das Einatmen von Kohlenmonoxid, das durch fehlerhafte Heizungen, Motoren und Öfen in geschlossenen Räumen mit niedrigem Sauerstoffgehalt entsteht.
Die Luftwaffe führte daraufhin eine physikalisch-chemische Studie über die Wirkung des Gases in geschlossenen Räumen durch, die ergab, dass es schwierig ist, den genauen Radius seiner tödlichen Ausbreitung vorherzusagen. „Es gibt Wahrscheinlichkeiten“, so eine Quelle in der Luftwaffe gegenüber +972 und Local Call. „Es ist nicht binär, wo jeder innerhalb dieses Radius stirbt und darüber hinaus niemand. Es gibt einen Radius mit hoher, mittlerer und geringer Wahrscheinlichkeit, durch das Gas zu sterben.“
Geheimdienstkreise verlauteten, dass der Einsatz von Bunkerbomben, die als Nebenprodukt Gas unterirdisch freisetzen, das Problem der genauen Lokalisierung eines Ziels in einem Tunnel überwinde. Aber es stellte auch ein Dilemma dar.
„Uns wurde klar gemacht, wie sensibel dieses Thema ist, allein die Tatsache, dass es diesen Effekt gibt“, so die Quelle der Luftwaffe. Eine Quelle, die an einer Diskussion über den Einsatz der Technik im Jahr 2021 unter der Leitung des damaligen Chefs des Südkommandos der Armee, Eliezer Toledano, teilnahm, erklärte: „In der Diskussion wurde die Tatsache, dass das Gas tödlich ist, sehr ernst genommen. Sie befürchteten, dass es dem Image [Israels] erheblichen Schaden zufügen könnte.“
Militärvertreter betonten gegenüber +972 und Local Call, dass die Absicht war, das chemische Nebenprodukt ausschließlich zur Tötung von Hamas-Aktivisten einzusetzen, „die die israelische Armee bekämpfen wollten“. Hazoot und andere Sicherheitsbeamte betonen auch, dass es sich bei den Bomben selbst um „konventionelle Waffen“ handele, da die Gase ein Nebenprodukt normaler Bomben seien und keine chemischen oder biologischen Sprengköpfe. „Die Gase können nirgendwo entweichen“, sagt Hazoot. „Sie bleiben unter der Erde, und die Menschen ersticken. Es handelt sich um eine konventionelle Waffe, nur ihre Wirkung unter der Erde ist anders. Die Bomben werden einfach noch tödlicher.“
Michael Sfard, ein israelischer Menschenrechtsanwalt und Experte für internationales Recht, erklärt jedoch gegenüber +972 und Local Call: „Selbst, wenn es sich bei den Bomben, die das Gas freisetzen, um konventionelle Bomben handelt und das Gas nur ein Nebenprodukt ist, verstößt der absichtliche Einsatz dieser 'Nebenwirkung' als Methode der Kriegsführung gegen die Verbote der Gesetze über bewaffnete Konflikte. Der Einsatz von Gift- oder Erstickungsgas im Kampf verstößt gegen die Bestimmungen des Chemiewaffenübereinkommens sowie gegen langjährige internationale Erklärungen, die diesem vorausgingen, und wird nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs als Kriegsverbrechen eingestuft.“
Sarah Harrison, leitende Analystin bei der International Crisis Group und ehemalige Pentagon-Anwältin, die die US-Streitkräfte beriet, bestätigt, dass der vorsätzliche Einsatz von Kohlenmonoxid als Waffe nach dem internationalen Völkerrecht illegal ist. Bunkerbomben sind zwar nicht per se verboten, aber „wenn die Absicht darin besteht, die konventionelle Waffe nur als Transportmittel für eine chemische Waffe zu verwenden, dann ist das meiner Meinung nach ein illegaler Einsatz“, erklärt sie gegenüber +972 und Local Call. „Es gibt viele legale Waffen, die man unrechtmäßig verwenden kann.“
Auf unsere Anfrage hin bestritt ein Sprecher der israelischen Armee erneut, dass sie diese Technik zur Tötung von Hamas-Führern einsetzt und bezeichnete die Behauptung als „substanzlos“.
Die Schaffung von Todesfallen
Hazoot und andere Quellen enthüllten, dass Israels erster Versuch, Bunkerbomben einzusetzen, um ein Massensterben unter den Kämpfern durch gasbedingte Erstickung herbeizuführen, in der „Operation Lightning Strike“ stattfand, der massiven Bombardierung des Tunnelnetzwerks der Hamas während der breit angelegten „Operation Guardian of the Walls“ im Mai 2021.
Im Vorfeld dieser Operation, so eine Quelle aus der israelischen Luftwaffe, wurden in den Fachkreisen der Luftwaffe Bedenken laut, dass der umfangreiche Einsatz von Bunkerbomben, die unterirdisch detonieren, ganze Gebäude zum Einsturz bringen und damit eine große Zahl von ZivilistInnen gefährden könnte. „Man bemühte sich, der Kommandoebene zu vermitteln, dass diese Operation riskant sei, dass Gebäude einstürzen könnten und dass wir nicht genau wüssten, was passieren könnte“, berichtet die Quelle. „Aber sie haben trotzdem weitergemacht.“
Diese Vorhersagen bewahrheiteten sich während der Offensive am 16. Mai 2021. Bei dem Angriff auf das Tunnelnetz der Hamas im Stadtteil Rimal in Gaza-Stadt stürzten mehrere Wohnhäuser ein, wobei 44 ZivilistInnen getötet wurden.
Hazoot erklärte, dass die Armee während der Operation „Guardian of the Walls“ darauf abzielte, die Hamas in dem Glauben zu lassen, dass israelische Truppen in den Gazastreifen einmarschieren würden, was die Hamas-Kämpfer dazu veranlasste, sich in die Tunnel zurückzuziehen. In einem Interview mit der israelischen Zeitung Israel Hayom sagte er im vergangenen Jahr, dass die Armee davon ausging, „zwischen 500 und 800 Kämpfer“ durch Erstickung zu töten, nachdem sie „460 Bunkerbomben gleichzeitig“ auf sie abwerfen würde.
Doch die geplante Täuschung schlug fehl: Die Hamas-Kämpfer betraten die Tunnel nicht. Die Bombardierung wurde trotzdem fortgesetzt.
Die Quellen berichten, dass diese Angriffe einige innerhalb der Luftwaffe und des Südkommandos schockierten, da sie der Meinung waren, dass die Angriffe jeglicher militärischen Logik entbehrten, als klar wurde, dass sich die Hamas-Kämpfer nicht in die Tunnel zurückzogen – eine Vorahnung auf einige der Vorgehensweisen der Armee nach dem 7. Oktober. „An einem bestimmten Punkt wurde [der Armee] klar, dass die Hamas die Strategie durchschaut hatte. Und sie sagten: 'Nun, lasst uns einfach alles in die Luft jagen und Zerstörung anrichten'“, so eine Militärquelle. „Es gab keine rationale Entscheidungsfindung. Man hatte nicht das Gefühl, dass es ein Ziel gab. Es fühlte sich eher wie der Versuch an, Macht zu demonstrieren.“
Hazoot zufolge hat die Hamas das schnell begriffen. „Die Hamas lernte von 'Guardian of the Walls'“, erklärt er. „Sie besorgten 1 300 Brandschutztüren und verteilte sie in den Tunneln. Sie schufen mehrere Belüftungsschächte, um das Gas zu verflüchtigen, und setzten neue Techniken beim Tunnelbau ein, indem sie Kurven und Wendungen einbauten.“ – Techniken, die laut Hazoot dazu beitrugen, das Gas einzuschließen und seine weitere Ausbreitung zu verhindern.
In der Tat bestätigte ein Hamas-Sprecher gegenüber +972 und Local Call: „Die Al-Qassam-Brigaden haben Maßnahmen ergriffen, um ihre Truppen in den Tunneln vor den Gasen zu schützen, die die israelische Armee während ihrer Angriffe einsetzt.“
Eine Geheimdienstquelle, die mit den israelischen Militäraktivitäten sowohl im Gazastreifen als auch im Libanon zu tun hat, erklärte gegenüber +972 und Local Call, dass man innerhalb des Geheimdienstes davon ausgehe, dass der damalige Anführer der Hisbollah, Hassan Nasrallah, wahrscheinlich ebenfalls durch Erstickung gestorben sei – obwohl im Libanon Gas nicht wie im Gazastreifen als gezielte Tötungsmethode eingesetzt worden sei.
„Bei Nasrallah wurden Dutzende von Bomben abgeworfen, und die israelische Armee hoffte, dass eine davon detonieren und ihn direkt im Bunker töten würde“, so die Quelle. „In Gaza hingegen weiß man bei einem Angriff auf einen Tunnel nicht genau, wo sich die Führungsperson befindet. Also greift man mehrere Bereiche des Tunnels an, so dass die Möglichkeit besteht, dass er erstickt.“
Nir Dvori, ein Militäranalyst des israelischen Senders Channel 12, wies in seinem Bericht über die Bombardierung, bei der im März 2024 der ranghohe Hamas-Kämpfer Marwan Issa im Flüchtlingslager Nuseirat getötet wurde, darauf hin, dass die Armee im Gazastreifen absichtlich Gas als Tötungsmethode einsetzt. „Die Luftwaffe setzte Bunkerbomben und vor allem schweren Sprengstoff ein, um die unterirdische Anlage zu treffen“, schrieb Dvori unter Berufung auf Militärquellen. „Der Grund für die schwere Bombardierung und die sekundären Explosionen war, sicherzustellen, dass jeder, der nicht durch die Explosion selbst oder den Einsturz des Tunnels getötet wurde, durch Erstickung oder Einatmen giftiger Substanzen sterben würde.“
Teil 2: Gefährdung von Geiseln
Es gab einen Hinweis auf eine Geisel, aber es bestand Handlungsdruck
Kämpfer waren nicht die einzigen, die durch Gaseinwirkung starben. Am 10. November 2023 bombardierte die israelische Armee einen Tunnel, den sie als das Versteck des Kommandanten der Hamas-Brigade im nördlichen Gazastreifen, Ahmed Ghandour, identifiziert hatte. Bei dem Angriff wurden auch drei israelische Geiseln getötet: Ron Sherman, Nik Beizer und Elia Toledano. Die Armee barg ihre Leichen und brachte sie einen Monat später nach Israel zurück.
Zunächst teilte die Armee den Familien der Geiseln mit, die drei Männer seien von der Hamas ermordet worden. Später hieß es jedoch, Sherman, Beizer und Toledano – deren Leichen unversehrt aufgefunden wurden und keine Schusswunden aufwiesen – seien an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben, die durch israelische Bombardierungen verursacht worden sei.
Zehn Monate nach dem Tod ihres Sohnes Nik wurde Katya Beizer zu einem Treffen mit einem hochrangigen Offizier des militärischen Geheimdienstes und einem für den Angriff verantwortlichen Kommandeur der Luftwaffe vorgeladen. Sie erklärten, dass das Militär nichts von der Anwesenheit der Geiseln im Tunnel gewusst hätte und dass ihr Sohn durch eine von der Luftwaffe abgeworfene Bombe gestorben war, die Giftgas freigesetzt hatte.
„Sie sagten, dass diese Art von Waffe Gas freisetzt“, so Katya Beizer gegenüber +972 und Local Call. „Ich fragte, welche Art von Gas, und sie erklärten mir sofort, dass es sich um eine konventionelle Waffe handelte, nicht um etwas Verbotenes.“ Sie erzählt, dass sie während des Gesprächs zugaben, dass der Einsatz von Gas beabsichtigt war, weil es „die einzige Möglichkeit war, jemanden im Tunnel zu erwischen.“
Shermans Mutter Ma'ayan erzählte dem israelischen Rechercheportal The Hottest Place in Hell, dass der Leiter der Kommandozentrale für Geiseln und vermisste Personen der Armee, Generalmajor Nitzan Alon, ihr erklärt habe, dass „die Bomben konventionell sind, aber eine bestimmte Nebenwirkung haben, die durch eine chemische Reaktion die Freisetzung giftiger Gase verursacht, und dass das die Todesursache gewesen ist.“ Er entschuldigte sich bei ihr mit den Worten: „Wir wussten nicht, dass sie da waren.“
Neun Tage vor Rons Tod, am 1. November 2023, hatte Ma'ayan Sherman eine WhatsApp-Nachricht von jemandem aus dem Geisel- und Vermisstenzentrum erhalten, der ihrer Familie zugeteilt war. Die Nachricht, die von +972 und Local Call eingesehen wurde, enthielt ein von der Hamas verteiltes Flugblatt mit der fettgedruckten roten Überschrift: „Eine Botschaft an das israelische Volk“. Das Bild zeigte ihren Sohn Ron, der verängstigt aussieht, mit erhobenen Händen und einem Text in Hebräisch und Arabisch: „Eure Söhne werden vom Widerstand gefangen gehalten“ und “Die Bombardierung von Hamas-Führern wird ihr Schicksal beeinflussen.“
Man versicherte Ma'ayan Sherman, dass dies „nur psychologische Kriegsführung“ sei und fügte hinzu: „Für die israelische Armee gibt es keine Veränderung. Wir gehen davon aus, dass Ron am Leben ist.“
Heute betrachtet Sherman das Flugblatt als weiteren Beweis dafür, dass das Militär wissentlich das Leben ihres Sohnes gefährdet hat. „Das Flugblatt zu ignorieren, machte keinen Sinn“, sagte sie. „Als ich das Flugblatt erhielt, sagte man mir, ich solle still sein. Sie sagten mir, ich solle nicht darüber sprechen.“
+972 und Local Call haben in Erfahrung bringen können, dass die Behauptung des Militärs, es habe keine Informationen darüber gehabt, dass Geiseln in der Nähe von Ghandour festgehalten werden, schlichtweg falsch ist. Drei Geheimdienstquellen, die mit der Planung des Angriffs vertraut waren, enthüllten, dass die Einsatzabteilung des Shin Bet, die den Angriff leitete, zusätzliche vage Informationen erhalten hatte, die auf eine „mittlere Wahrscheinlichkeit“ der Anwesenheit von Geiseln an diesem Ort hingewiesen haben.
„Die Operation, die auf Ghandour abzielte, wurde von zwei Reservisten geleitet, die beeindruckend und professionell arbeiteten, aber sie hatten keine Gewissheit darüber, ob sich dort Geiseln befanden oder nicht“, erklärte eine mit der Operation vertraute Geheimdienstquelle. „Es gab Hinweise auf die Leiche einer Geisel und vielleicht auf eine lebende Geisel, aber es war unklar, wie sie zu interpretieren waren, da die Informationen nicht eindeutig waren“, so die Quelle weiter. „Sie wussten nicht, ob die Geisel lebendig oder tot war, und selbst wenn sie lebendig war, war nicht klar, ob sie sich an diesem oder einem anderen Ort befand. Und niemand stellte zu viele Fragen. Jeder verstand den Handlungsdruck“.
Eine zweite Geheimdienstquelle bestätigt diese Darstellung. „Der Fehler war, dass sie davon ausgingen, dass sie es mit Leichen zu tun hatten – dass die Geiseln bereits tot waren“, sagte die Quelle. „Wenn Ghandour eine weniger wichtige Figur in den Kämpfen gewesen wäre, hätten sie vielleicht anders gehandelt.“
„Es gab eine Besessenheit, Ghandour zu eliminieren“, erklärte eine dritte Geheimdienstquelle, die mit dem Angriff vertraut war. „Es gab ein Manöver [der israelischen Bodentruppen] im nördlichen Gazastreifen, und es gab den starken Wunsch, ihn auszuschalten. Zielanalysten arbeiten wie Verkäufer. Sie wollen, dass ihr Ziel bombardiert wird.“
Der Fokus lag auf Rache
Dies war kein Einzelfall. Sechs Geheimdienstquellen beschrieben ähnliche Fälle, in denen Angriffe auf Hamas-Aktivisten im Untergrund genehmigt wurden, obwohl die Wahrscheinlichkeit bestand, dass Geiseln zu Schaden kommen könnten. Sie betonten, dass dies nicht auf Nachlässigkeit der Soldaten zurückzuführen war, sondern auf eine Politik, die zumindest in den ersten sechs Monaten des Krieges in Kraft war.
Diese Politik, so erklärten die sechs Quellen, erlaube die Genehmigung von Luftangriffen, solange es keinen eindeutigen Hinweis darauf gebe, dass sich Geiseln in der Nähe des Ziels aufhielten; mit anderen Worten, die Kommandeure waren nicht verpflichtet, eine solche Möglichkeit auszuschließen. Dies galt selbst dann, wenn die nachrichtendienstliche Lage unklar war oder eine „generelle, unspezifische“ Wahrscheinlichkeit bestand, dass sich Geiseln an dem Ort befanden.
Nach Ansicht der Quellen ermöglichte die große Grauzone zwischen einem eindeutigen Hinweis auf die Anwesenheit von Geiseln und der Möglichkeit, deren Anwesenheit auszuschließen, „Dutzende“ von Angriffen, bei denen Geiseln gefährdet und getötet wurden.
Aus Geheimdienstkreisen hieß es, ein Grund für diese Politik sei die organisatorische Trennung zwischen den angreifenden Einheiten – wie der Gaza-Division, dem Südkommando und dem Shin Bet – und der Kommandozentrale für Geiseln und vermisste Personen, die der Abteilung für Sondereinsätze der Armee unterstellt und für die Weiterleitung von „Nichtangriffszonen“ zuständig ist, in denen Geiseln vermutet werden. Diese Trennung führe zu einer problematischen Dynamik, die an ein „Tauziehen“ zwischen den verschiedenen Stellen erinnere.
Drei Geheimdienstquellen wiesen auf dieses Problem in den ersten Wochen des Krieges hin, insbesondere bei Dutzenden von Angriffen der Gaza-Division auf Häuser von Hamas-Kämpfern, die verdächtigt wurden, am 7. Oktober Israelis entführt zu haben. „Niemand hat wissentlich eine Geisel bombardiert, das ist nicht passiert“, betont eine Quelle. „Aber der Durst nach Rache an den Entführern war so groß, dass sie ihre Häuser bombardierten, ohne zu wissen, ob sich Geiseln darin befanden.“
Eine zweite Quelle bestätigt ebenfalls die Teilnahme an „Dutzenden“ von Angriffen auf die Häuser von mutmaßlichen Entführern. „Die Geiseln spielten bei der anfänglichen Angriffspolitik einfach keine Rolle“, so die Quelle. „Ich weiß noch, wie ich nach ein oder zwei Wochen zum ersten Mal nach Hause kam und feststellte, dass es Proteste [der Angehörigen der Geiseln, Anm.] gab und alle über die Geiseln sprachen. Es fühlte sich surreal an.“
Diese Angriffe auf die Häuser mutmaßlicher Entführer wurden etwa zwei Wochen lang fortgesetzt, bis das Bild der Geheimdienstinformationen klarer wurde und die Geisel- und Vermisstenkommandozentrale der Gaza-Division eine erheblich größere Anzahl von „Nicht-Angriffs-Zonen“ mitteilte.
„Das war Wahnsinn“, sagt die erste Quelle. „Sie bombardieren das Haus von jemandem, der verdächtigt wird, ein Entführer zu sein. Durch reines Glück haben wir nicht Dutzende von Geiseln getötet. Es gab keine 'No-strike-Zonen', und man wusste nicht, wo die Geiseln waren. Ich habe [meine Frustration] lautstark zum Ausdruck gebracht – es hat mich wütend gemacht. Sie haben es nicht berücksichtigt. Es war nicht die oberste Priorität. Der Schwerpunkt lag auf der Rache an den Entführern.“
„Das waren typischerweise Nukhba-Agenten“, erklärt die zweite Quelle, die sich auf die Hamas-Spezialkräfte bezog, „und als Teil der Operation bombardierten wir ihre Häuser. Es bestand die Möglichkeit, dass die [Geiseln] dort waren. Im Nachhinein wissen wir, dass sie mehr im Untergrund gehalten wurden, aber es sind definitiv Fehler passiert, und wir haben Geiseln bombardiert.“
Das Militär hat nicht bekannt gegeben, ob und wie viele Geiseln in den ersten beiden Wochen des Krieges durch Luftangriffe der Luftwaffe getötet wurden. Die Hamas behauptete jedoch in drei separaten Telegrammnachrichten, dass in der Woche nach dem 7. Oktober 27 Geiseln bei israelischen Luftangriffen getötet worden seien. Nach Angaben des Forums der Geiseln und vermissten Familien sind insgesamt 30 Geiseln in Gefangenschaft gestorben, nachdem sie lebend nach Gaza entführt worden waren.
Die Politik der ungehemmten Bombardierungen zeigte sich auch bei den Angriffen auf hochrangige Hamas-Führer, die häufig unter der Leitung des Shin Bet oder des Südkommandos durchgeführt wurden. „Es gibt eine gewisse Trennung zwischen der Operationsabteilung des Shin Bet und dem Rest der Befehlskette der IDF“, so eine Sicherheitsquelle. „Es ist ein sehr isoliertes Gremium, das viel Aufmerksamkeit und Ressourcen beansprucht. Ihr einziges Ziel ist es, jede hochrangige Hamas-Person zu töten, für sie hängt der Erfolg des Krieges von diesem Ziel ab.“
„Ich hatte ein Problem damit, dass einige Leute dort bereit waren, absolut alles zu tun, um dieses Ziel zu erreichen“, so die Quelle weiter. „Die Zahl der [ZivilistInnen], die sie zu töten bereit waren – für sie war alles – sogar die Geiseln – nur ein Hindernis auf ihrem Weg.“
Andere Quellen schränkten diese Aussagen ein und betonten, dass die Frage der Geiseln oft ernst genommen wurde, dies aber weitgehend vom jeweiligen Kommandeur abhing. Eine Geheimdienstquelle merkt an, dass in der Anfangsphase des Krieges auch die politischen Ansichten der Kommandeure eine Rolle spielten. „Jeder Schlag gegen eine hochrangige Person wird sorgfältig abgewogen“, so die Quelle. „Manchmal hängt es davon ab, wie laut der Geheimdienstoffizier schreit, wie sehr sich die verantwortliche Person kümmert und sogar von ihrer politischen Einstellung. Angesichts der Tatsache, dass die Frage der Geiseln politisiert wurde, gab es einige, die glaubten, dass der Zweck die Mittel heiligt.“
Zum Zeitpunkt der Tötung von Ghandour im November war der Tunnelkomplex, in dem er sich befand, von der Kommandozentrale für Geiseln und vermisste Personen nicht als „No-strike-Zone“ ausgewiesen worden. Daher hatte der Shin Bet formal gesehen keinen Grund, den Anschlag auf ihn nicht durchzuführen, obwohl nachrichtendienstliches Material bei einigen Analysten Zweifel aufkommen ließ.
„Um sicher zu gehen, dass man nicht auf eine Geisel zielt, muss man den genauen Standort jeder einzelnen kennen“, erklärte eine Geheimdienstquelle. „Aber das weiß man nicht. Wenn man also einen hochrangigen Hamas-Vertreter angreift, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man auch eine Geisel tötet“. Diese Wahrscheinlichkeit erhöhte sich, weil die Armee den Quellen zufolge über Informationen verfügte, wonach sich die Hamas-Führer häufig mit Geiseln in Tunneln verschanzten.
Wenn sie nicht wissen, wo die Geiseln sind, und trotzdem Tunnel bombardieren, dann ist das ihre Strategie
Am 14. Februar 2024 bombardierte die israelische Armee einen Tunnelkomplex unter der Stadt Khan Younis mit dem Ziel, Kommandanten des örtlichen Hamas-Bataillons zu töten. Sechs Geiseln – Alexander Danzig, Yoram Metzger, Haim Perry, Yagev Buchshtav, Nadav Popplewell und Avraham Munder – wurden in der Nähe festgehalten, und ihr Tunnel wurde mit Kohlenmonoxid geflutet.
Im Juni informierte das Militär die Familien, dass die sechs Geiseln in der Gefangenschaft der Hamas gestorben waren. Osnat Perry, die Ehefrau des 80-jährigen Haim, erzählte, wie eine Militärdelegation zu ihr nach Hause kam und erklärte, dass die Geiseln „durch Kohlenmonoxidgas infolge der heftigen Angriffe gestorben“ seien. Die geschätzte Entfernung zwischen den Geiseln und dem Ort der Bombardierung lag zwischen 120 und 200 Metern – nach Einschätzung des Militärs innerhalb der vermuteten tödlichen Reichweite des Gases.
„Sie wurden nicht direkt getroffen, aber der Tunnel, in dem sie sich befanden, füllte sich mit Gas, das hochgiftig ist und innerhalb von Minuten tötet“, erklärt Osnat Perryhund fügt hinzu, dass sie sich mit der Tatsache tröstet, dass der Tod ihres Mannes laut der Militärdelegation schmerzfrei gewesen war. „Der Tod durch dieses Gas ist schmerzlos, weil die Menschen sofort das Bewusstsein verlieren und innerhalb weniger Minuten sterben, so als ob sie einschlafen würden.“
Die Aussage der Armee, Perry sei an Kohlenmonoxid gestorben, kam drei Monate bevor seine Leiche und die Leichen der fünf anderen Geiseln, die mit ihm zusammen waren, im August aus Khan Younis geborgen wurden. Alle sechs Leichen wiesen nach Angaben der Armee und der Familien Anzeichen von Schusswunden auf, und zumindest einige wiesen Spuren von Misshandlungen durch ihre Entführer auf.
Im Dezember erklärte ein Sprecher der israelischen Armee, die „plausibelste Möglichkeit“ sei, dass die Entführer die Geiseln nach dem Angriff exekutierten und selbst als „Nebenprodukt“ des Angriffs getötet wurden. Nach Angaben des Militärs sei es auch möglich, dass die Geiseln durch das bei dem Angriff freigesetzte Gas starben und später von anderen Kämpfern erschossen wurden, die einige Zeit später am Tunnel eintrafen. Wie Haaretz damals berichtete: „Das Militär geht davon aus, dass die Geiseln, wären sie nicht exekutiert worden, so oder so durch das Einatmen des bei dem Angriff freigesetzten Gases gestorben wären.“
„Was uns gesagt wurde, war eindeutig: Hätten die Geiselnehmer sie wegen der Nähe der Armee nicht hingerichtet, wären sie an dem Gas gestorben“, sagt Osnat Perryhund. Vor dem Waffenstillstand fügte sie hinzu, dass es ihr schier „die Seele zerreißt“, wenn sie darüber spricht, aber sie es in der Hoffnung tue, dass es nicht auch noch den verbleibenden Geiseln passiert.
Die Familien wurden darüber informiert, dass das Militär zum Zeitpunkt des Angriffs keine Anhaltspunkte dafür hatte, dass sich Geiseln an dem Ort befanden. Nach dem Vorfall, den die Armee als Fehler einstufte, wurde das Genehmigungsverfahren für solche Angriffe jedoch verschärft. Anstatt Angriffe zuzulassen, solange es „keine spezifischen Hinweise“ auf die Anwesenheit von Geiseln gebe, erklärte eine Militärquelle, werde nun der Klarheit der Informationen über den Aufenthaltsort der Geiseln und den allgemeinen Hinweisen auf ihre Nähe zu hochrangigen Hamas-Kommandeuren größeres Gewicht beigemessen.
„Als der erste Fehler mit Ron Sherman passierte, wurde klar, dass eine Gefahr bestand“, sagt Osnat Perryhund. „Aber dann passierte es immer wieder. Ich habe um ein Treffen mit dem Verteidigungsminister gebeten und noch immer keins erhalten. Ich möchte ihn fragen, ob dies eine Strategie ist. Denn es handelt sich nicht um einen einmaligen Fehler des Militärs oder um einen operativen Fehler. Wenn sie nicht wissen, wo alle Geiseln sind, und trotzdem beschließen, Tunnel zu bombardieren, dann ist das eine Strategie.“
Die Angehörigen der im Gazastreifen getöteten Geiseln befürchteten, dass die Hervorhebung der Rolle der israelischen Regierung oder des israelischen Militärs beim Tod ihrer Angehörigen – insbesondere im Ausland – so ausgelegt werden könnte, dass die Hamas von der Verantwortung für ihre Verbrechen freigesprochen wird. Dies habe es ihnen schwer gemacht, öffentlich Kritik zu äußern.
Rani, der Sohn von Yoram Metzger, der zusammen mit Perry im Tunnel starb, betont, dass unabhängig von der genauen Todesursache die Verantwortung bei der Hamas liege, die mit der Entführung seines 80-jährigen Vaters ein Kriegsverbrechen begangen habe. „Von Anfang an haben wir gesagt, dass unser Vater von der Hamas ermordet wurde, nicht von jemand anderem“, sagt er. Ein Verwandter einer anderen in Gaza getöteten Geisel, der es vorzog, anonym zu bleiben, sagt gegenüber +972 und Local Call: „Mein Verwandter starb aufgrund eines israelischen Befehls. Daran besteht kein Zweifel. Aber ich werde unseren Feinden keine Munition geben.“
Auf unsere Anfrage hin erklärte ein Sprecher der israelischen Armee: „Die Ermittlungen zum Tod von sechs Geiseln in einem unterirdischen Tunnel in der Gegend von Khan Younis und die Ermittlungen zu den drei Geiseln, die in dem Tunnelkomplex festgehalten wurden, von dem aus der Kommandeur der Nordbrigade der Hamas, Ahmed Ghandour, operierte, wurden den Familien und der Öffentlichkeit in den letzten Monaten transparent dargestellt. Es sollte betont werden, dass die israelische Armee in beiden Fällen keine Hinweise oder Verdachtsmomente hatten, dass sich Geiseln am Ort des Anschlags oder in dessen Nähe aufhielten.“
Teil 3: „Kacheln“ in den Stadtvierteln
Sie wussten nicht, wo er sich aufhielt, also bombardierten sie die Gegend exzessiv
Das Fehlen präziser Informationen über die Aufenthaltsorte hochrangiger Kämpfer im Untergrund veranlasste das israelische Militär zu einer besonders tödlichen Angriffsmethode: Sie bombardierten mehrere benachbarte Wohnblöcke, ohne die BewohnerInnen zu warnen. Durch die Bombardierung dieser Wohnblöcke wollte die Armee Teile des darunter vermuteten Tunnelnetzes zerstören und so die Zielperson darin einschließen oder sie durch Fluten des Tunnels mit Giftgas töten.
Um die Chancen auf die Ermordung eines Ziels zu maximieren, genehmigte die Armeeführung die Tötung von „Hunderten“ palästinensischer ZivilistInnen bei diesen Angriffen – die den Quellen zufolge in Abstimmung mit amerikanischen Beamten durchgeführt wurden, die live über die genehmigten „Kollateralschäden“ informiert wurden.
Frühere Untersuchungen von +972 und Local Call, die durch eine aktuelle Untersuchung der New York Times bestätigt wurden, ergaben, dass Israel nach dem 7. Oktober die Beschränkungen gelockert hat, um Angriffe auf Hamas-Führer zu ermöglichen, bei denen das Risiko bestand, mehr als 100 ZivilistInnen zu töten. Auf unsere Anfrage für diese Untersuchung dementierte ein Sprecher der israelischen Armee diese Berichte und erklärte, dass „die Behauptungen, die IDF habe während des Krieges einen Angriff genehmigt und durchgeführt, bei dem Hunderte von ZivilistInnen getötet werden sollten, und dass die israelische Armee ‚ganze Stadtteile‘ bombardiert habe, unbegründet sind.“
In einem Interview mit MSNBC kurz vor dem Ende seiner Amtszeit als Präsident beschrieb Joe Biden, wie er dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu bei seinem ersten Besuch in Israel nach dem 7. Oktober seine Missbilligung über diese Politik zum Ausdruck brachte. „Ich sagte: 'Bibi, du kannst diese Ortschaften nicht flächendeckend bombardieren'“, erzählte Biden. „Und er sagte zu mir: 'Nun, du hast es getan. Ihr habt flächendeckend bombardiert' – nicht seine genauen Worte, aber – 'Ihr habt Berlin flächendeckend bombardiert. Ihr habt eine Atombombe abgeworfen. Ihr habt Tausende von unschuldigen Menschen getötet.' Er ging regelrecht auf mich los, weil ich sagte: 'Man kann nicht wahllos zivile Gebiete bombardieren. Selbst wenn die Bösewichte dort sind, kann man nicht zwei-, zehn-, zwölf-, fünfzehnhundert unschuldige Menschen ausschalten, um den einen Bösewicht zu erwischen‘“, so Biden weiter.
Biden zufolge antwortete Netanjahu, dass es sich um Menschen handele, die Israelis getötet hätten und „überall in diesen Tunneln seien, und niemand hat eine Ahnung, wie viele Kilometer Tunnel es gibt“. Biden räumte ein, dass dies seiner Meinung nach ein „legitimes Argument“ gewesen sei.
Am 17. Oktober 2023 schlug die israelische Luftwaffe im Flüchtlingslager Al-Bureij zu, um Ayman Nofal, den Kommandeur der Zentralen Brigade der Hamas, zu treffen. Zwei Geheimdienstquellen erklärten, der Angriff sei mit einem „Kollateralschaden“ von bis zu 300 palästinensischen ZivilistInnen genehmigt worden, während eine dritte Quelle aussagte, die genehmigte Zahl liege bei 100. Der Angriff, bei dem Nofal getötet wurde und bei dem schätzungsweise mindestens 92 ZivilistInnen, darunter 40 Kinder, ums Leben kamen, wurde den Quellen zufolge in einem „sehr großen Radius“ ausgeführt, was mit der oben beschriebenen Angriffsmethode übereinstimmt.
„Ich habe [die Bombardierung] mit eigenen Augen gesehen, auf dem Bildschirm, in Echtzeit“, berichtet eine Geheimdienstquelle, die an dem Angriff beteiligt war und es mit einer Drohne verfolgte. „Ich sah all die toten Menschen in der Nähe liegen. Sie sahen aus wie Ameisen. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich nach der Explosion Berge von menschlichen Leichen sah. Es war sehr schwer. [Die Armee] wusste nicht genau, wo er sich befand, also bombardierten sie die Gegend ausgiebig, um sicherzustellen, dass er getötet wurde.“
Amro Al-Khatib, ein Bewohner des Lagers Al-Bureij, war Zeuge des Angriffs. „Zwischen 16 und 18 Wohnhäuser wurden bei dem Angriff zerstört“, sagt er gegenüber +972 und Local Call. „Wir haben viele Tote herausgeholt, in Stücken.“
Khaled Eid verlor 15 Familienmitglieder, darunter seine Eltern, und verbrachte drei Tage damit, die Trümmer zu durchsuchen, bis er Teile ihrer Leichen fand. „Wir haben mit unseren Händen nach ihnen gesucht, zusammen mit Freiwilligen und Freunden der Familie“, berichtet er gegenüber +972 und Local Call.
Zwei Wochen später genehmigte das Südkommando eine Reihe von Luftangriffen auf den Kommandeur des Jabalia-Bataillons der Hamas, Ibrahim Biari, im Flüchtlingslager Jabalia. Diese Angriffe waren noch verheerender und zogen stärkere internationale Kritik auf sich.
Nach Angaben einer an der Operation beteiligten Geheimdienstquelle wurde bei dem Anschlag absichtlich ein ganzer Wohnblock dem Erdboden gleichgemacht. Eine Untersuchung des Wall Street Journal, bei der auch Satellitenbilder ausgewertet wurden, ergab, dass durch den Bombenangriff mindestens 12 Wohngebäude dem Erdboden gleichgemacht wurden. Das Zentrum des Lagers war nur noch ein Krater, in dem sich die Leichen von mindestens 126 Menschen, darunter 68 Kinder, befanden.
Während [dieses Angriffs] sagte der Leiter der Zielabteilung des Südkommandos: „[Biari] tötet gerade Soldaten, wir müssen ihn ausschalten“, erinnert sich eine an den Angriffen beteiligte Geheimdienstquelle. „Sie waren verzweifelt darüber, weil es genau zu der Zeit war, als wir im Gebiet von Jabalia operierten.“
Die Quelle merkt an, dass die zulässige Zahl der zivilen Opfer auf „etwa 300“ festgelegt wurde, die Berechnung jedoch ungenau war. Ihm zufolge genehmigte Generalstabschef Herzi Halevi persönlich die Tötung von Hunderten von PalästinenserInnen bei dem Angriff, nachdem er die Angelegenheit „überdacht“ hatte.
„Ein ganzes Viertel ist für Ibrahim Biari gestorben“, sagt eine andere Geheimdienstquelle, die an der Operation beteiligt war. Er erläuterte, dass Biari zwar nur ein Bataillonskommandeur war, dass aber der Zusammenbruch der Hamas-Befehlskette während des Krieges die Bataillonskommandeure in einflussreiche Positionen hob, die vor Ort stark involviert und für die Führung der Kämpfe entscheidend waren. Die Quelle sagt, dass infolgedessen beispiellose Genehmigungen zur Tötung von Hunderten von ZivilistInnen erteilt wurden, um diese Personen zu ermorden.
PalästinenserInnen, die den Angriff überlebt haben, berichteten +972 und Local Call, dass ganze Familien – drei Generationen – ausgelöscht wurden und niemand übrig blieb, der Zeugnis ablegen konnte, was die Aussagen von Airwars bestätigt.
Wafa Hijazi, 22, wurde lebendig begraben, überlebte aber. „Der Angriff hat unser Haus in ein Massengrab verwandelt“, berichtet sie gegenüber +972 und Local Call. „Es herrschte blanker Horror. Totale Finsternis. Und eine Wolke wie eine kochende Flamme, die den Ort einhüllte. So starben meine Mutter und alle meine Schwestern und ihre Kinder.“
Unter den Trümmern begraben, versuchte Hijazi zu schreien, konnte es aber nicht. Dann griff die Hand ihres Vaters, der zum Zeitpunkt der Bombardierung nicht zu Hause gewesen war, nach ihr und zog sie heraus. Als sie wieder an die Oberfläche kam, fand sie die abgetrennte Hand ihrer Mutter und die Körperteile ihrer jüngeren Brüder.
Man wirft zehn Bomben ab, obwohl man nicht einmal sicher ist, ob das Ziel überhaupt da ist
Bei den Angriffen auf Biari und Nofal wandte die Armee einen so genannten „Flächenangriff“ an, der die Zerstörung ganzer Wohnblocks und eine große Zahl palästinensischer Opfer zur Folge hatte. Die Angriffe stützten sich auf ein „Polygon“ - eine ungefähre Schätzung innerhalb eines großen Radius, wo sich das Ziel befinden könnte – das nicht immer eingegrenzt werden kann.
„Das Ziel ist es, das Tunnelsystem zum Einsturz zu bringen und [das Ziel] darin gefangen zu halten“, erklärte eine Geheimdienstquelle. „Da die Anlage so kompliziert ist, will man sicherstellen, dass es keine Entkommenden gibt. In der unterirdischen Kriegsführung hat man fast nie eine genaue Koordinate, sondern nur ein sogenanntes Polygon. Man hat keine andere Wahl, als großflächig anzugreifen.“
Nachdem die Luftwaffe die ungefähren Koordinaten von den Geheimdiensten erhalten hatte, warf sie Bunkerbomben über das gesamte Gebiet ab. „Wir bekamen eine Art Polygon, ein Rechteck im Gazastreifen, und sie sagten uns: „Irgendwo hier gibt es einen unterirdischen Komplex, aber wir können ihn nicht weiter eingrenzen““, erklärt eine Quelle der Air Force, die an den Tunnelangriffen beteiligt war. „Wir kennen den Explosionsradius einer Bunkerbombe, der ein paar Meter beträgt, [also nehmen wir das als] ein Quadrat und "kacheln“ dann das Gebiet [mit Bomben].“
Es bestand nicht immer die Garantie, dass diese Angriffe in einem so großen Gebiet das beabsichtigte Ziel treffen würden. Um ein ganzes Polygon zu "kacheln“, war eine große Anzahl von Bomben erforderlich, und der Quelle zufolge waren es nicht immer genug. „Manchmal deckten wir nur 50 Prozent des Gebiets ab, aber eine 50-prozentige Erfolgschance ist uns lieber als gar keine. Wenn das Polygon zum Beispiel 20 [Einheiten breit] ist, wirft man vielleicht drei Bomben in Längsrichtung und drei in Querrichtung ab, so dass man am Ende etwa zehn Bomben auf ein Gebiet abwirft, bei dem man nicht einmal sicher ist, ob [das Ziel] dort ist.“
Dieses unvollständige Informationsbild führte zu Fällen, in denen die Armee Bunkerbomben abwarf, die zahlreiche PalästinenserInnen töteten, während das Ziel im Untergrund überlebte. Dies geschah zweimal bei Angriffen auf den Kommandeur der Rafah-Brigade der Hamas, Mohammed Shabana.
„Beim ersten Mal schlug der Angriff fehl, weil eine [technologische] Fähigkeit noch nicht ausreichend entwickelt war und das Polygon nicht stimmte“, berichtet eine an diesen Operationen beteiligte Quelle. „Beim zweiten Mal gab es ein Problem mit den Bomben: Es waren einfach nicht genug da.“
Eine andere Geheimdienstquelle, die an den Attentatsversuchen auf Shabana beteiligt war, erklärt, dass die Luftangriffe auf schwachen Informationen beruhten. „Es handelte sich um viel umfassendere Angriffe, als man wirklich braucht“, sagt er. „Sie wollten, dass er keine Chance hat, da lebend herauszukommen. Also haben sie einfach das ganze Viertel bombardiert.“
Solche Angriffe werden fast immer mit Bomben durchgeführt, die in einem 90-Grad-Winkel abgeworfen werden und über Verzögerungsmechanismen verfügen, um sicherzustellen, dass sie unterirdisch detonieren und die Wahrscheinlichkeit, das Ziel zu töten, maximieren. Im ersten Jahr des Krieges lieferten die Vereinigten Staaten Israel 14.000 MK-84-Bomben mit einem Gewicht von je 2000 Pfund, die bei diesen Operationen eingesetzt wurden. Im Mai hat die Regierung Biden jedoch eine Lieferung von 1.800 dieser Bomben aufgrund von Bedenken über die Kriegsführung und den israelischen Einmarsch in Rafah ausgesetzt.
Eine nachrichtendienstliche Quelle beschreibt einen Fall, in dem die Armee plante, einen Kommandeur in Gaza mit „80 Bunkerbomben“ zu bombardieren, um einen sehr großen Radius zu „kacheln“. Es wurde jedoch beschlossen, die Ressourcen zu schonen. „Sie wussten, dass er sich im Untergrund aufhielt, aber sie wussten nicht genau, wo“, so die Quelle. Letztendlich wurde der Einsatz von zehn Bomben genehmigt. „Das war nicht genug – er hat überlebt“, so die Quelle weiter.
In den letzten Wochen sind weitere Beweise dafür aufgetaucht, dass sich das israelische Militär bei seinen Angriffen auf den Gazastreifen auf unzureichende Informationen stützte. Nach Inkrafttreten des Waffenstillstands gab die Armee zu, dass zwei Hamas-Führer, die sie zuvor angeblich getötet hatte – der Kommandeur des Al-Shati-Bataillons, Haitham Al-Hawajri, im Dezember 2023 und der Kommandeur des Beit Hanoun-Bataillons, Hussein Fayad, im Mai 2024 – in Wahrheit überlebt hatten. Die Armee räumte ein, dass die früheren Ankündigungen auf der Grundlage „falscher“ Geheimdienstinformationen erfolgt waren.
Eine Geheimdienstquelle sagt, dass die Vereinigten Staaten Israel mit ihren eigenen Geheimdienstinformationen versorgten, die aber nicht so nützlich waren, wie die Armee gehofft hatte. „Wir hatten hohe Erwartungen an die Amerikaner, aber sie wurden enttäuscht“, berichtet eine Sicherheitsquelle. „Sie engagierten sich sehr für die Geiseln und die Tötung des damaligen Hamas-Führers Yahya Sinwar, weil sie glaubten, dass der Krieg umso schneller zu Ende sein würde, je schneller Sinwar ausgeschaltet würde. Sie bemühten sich also sehr und teilten ihre Informationen mit uns, aber am Ende waren ihre Quellen nicht so gut wie unsere.“
Stellen Sie sich vor, das wäre Tel Aviv. Niemand würde so etwas akzeptieren
Einer israelischen Geheimdienstquelle zufolge war Mohammed Sinwar, der Bruder von Yahya und sein Nachfolger als Anführer der Gruppe im Gazastreifen, für die Verbesserung und Verstärkung der Tunnelinfrastruktur der Hamas verantwortlich. Nach den Tunnelbombenangriffen der „Operation Lightning Strike“ im Jahr 2021 analysierte er die israelischen Angriffe und verbesserte die Tunnel entsprechend.
„[Mohammed Sinwar] sah, dass die israelische Armee in geraden Linien zuschlägt und erkannte die Notwendigkeit von verzweigten Wegen“, so die Quelle. „Sie sind schlauer, als wir ihnen zugetraut haben.“
Der Quelle zufolge hat die Hinzufügung von Tunnelverzweigungen Israel dazu veranlasst, Angriffe auf noch größere Gebieten durchzuführen. „Man kann feststellen, dass sich eine hochrangige Persönlichkeit in einem bestimmten Viertel aufhält, aber das ist ein sehr großer Radius, weil es sich um kilometerlange Tunnel handelt und man nicht weiß, in welchen Seitenarm er hineingegangen ist“, sagt die Quelle.
„Man kann von Glück reden, wenn man auch nur einen Hinweis darauf bekommt, dass sich eine hochrangige Persönlichkeit in einer bestimmten Tunnelroute aufhält“, so die Quelle weiter. „Es sei denn, jemand sagt ausdrücklich: 'Das ist der Tunnel von Mohammed Shabana', ansonsten kann man manchmal nicht einmal sagen, ob es sich um den Tunnel einer hochrangigen Persönlichkeit handelt – es könnte auch nur ein Versorgungstunnel sein.“
Die Quelle gab zu, dass er vor dem 7. Oktober nicht geglaubt hätte, dass ein ranghoher israelischer Befehlshaber die Zerstörung eines ganzen Wohnblocks anordnet, um einen einzelnen Hamas-Aktivisten zu treffen.
Alle 15 für diesen Artikel befragten Geheimdienstquellen, einschließlich derjenigen, die der israelischen Politik sehr kritisch gegenüberstehen, betonen, dass die Hamas ihre Tunnelinfrastruktur so angelegt hat, dass ihre hochrangigen Befehlshaber die Kämpfe von unterhalb oder in der Nähe von dicht besiedelten Gebieten aus leiten können. (Ein Hamas-Sprecher bezeichnete diese Behauptung als „völlig falsch“.) Völkerrechtsexperten betonen jedoch, dass Israel auch in diesem Fall verpflichtet ist, ZivilistInnen zu schützen.
„Stellen Sie sich vor, es handele sich um Tel Aviv und nicht um Jabalia, und um „the Pit“ [Spitzname für das unterirdische Operationszentrum der israelischen Armee auf dem Kirya-Stützpunkt, der sich in der Nähe von Wohn- und Geschäftsvierteln in Tel Aviv befindet] zu erreichen, würden die Viertel um Kirya bombardiert“, sagt der Menschenrechtsanwalt Michael Sfard. „Man weiß nicht, wohin die militärischen Tunnel unter der Kirya führen, man weiß nicht genau, wo sich das Ziel befindet, und man will sicherstellen, dass es getötet wird. Also bombardiert man [die angrenzenden Straßen]? Niemand würde so etwas akzeptieren.“
Suhad Bishara, Leiterin der Rechtsabteilung der Menschenrechtsorganisation Adalah mit Sitz in Haifa, stimmt dem zu. „Selbst wenn es ein legitimes militärisches Ziel gibt, ist es nach internationalem Recht verboten zu bombardieren, wenn die Streitkräfte wissen, dass sie wahrscheinlich unverhältnismäßig viele ZivilistInnen verletzen werden“, erklärt sie. „Dies gilt umso mehr, wenn man nicht einmal genau weiß, wo sich das militärische Ziel befindet, und daher einen Radius festlegt und diesen wahllos angreift, wobei viele ZivilistInnen zu Schaden kommen.“
„Der Diskurs in der israelischen Gesellschaft ist, dass es ihre Schuld ist – sie bauen unter den Schulen“, so eine Geheimdienstquelle. „Aber ist es legitim, eine Schule in die Luft zu jagen? Ist es legitim, deswegen Dutzende von Menschen zu töten, wie wir es getan haben?“
„Wir haben viele Krankenwagen bombardiert, von denen wir wussten, dass sich Hamas-Kämpfer in ihnen befanden“, so eine zweite Geheimdienstquelle. (Ein Hamas-Sprecher erklärte, dass „Israel keine Beweise für den Einsatz von Krankenwagen bei Widerstandsoperationen vorgelegt hat“, und bezeichnete die Behauptung als „einen Vorwand, um das Gesundheitswesen im Gazastreifen zu zerstören“). „Sie sind verachtenswert. Aber man fragt sich: Ist es das wert? Man ist mit einer sehr schwierigen Situation konfrontiert. Und man bekommt einfach freie Hand. Wenn wir mit unserer Munition nicht sparsam umgehen müssten, würden wir weiterhin Dinge in wahnwitzigen Mengen zerstören.“
Fünf Quellen betonten, dass diese Taktiken auf Druck der politischen und militärischen Führung erfolgten, die der Öffentlichkeit ein Bild des Sieges vermitteln wollte. „Sie genehmigten dreistellige Opferzahlen, selbst für Bataillonskommandeure, weil wir immer verzweifelter nach einer erfolgreichen gezielten Tötung suchten“, so eine Geheimdienstquelle. „Jeder Erfolg dieser Art wird im Fernsehen gezeigt.“
„Was mich am meisten störte, war, wie unverhohlen sie in den [israelischen] Medien lügen“, fügt eine zweite Geheimdienstquelle hinzu. „Sie sagen, wir sind dabei, sie zu kriegen, wir sind dabei zu gewinnen, wir sind dabei, führende Persönlichkeiten zu eliminieren. Es war offensichtlich, wie sehr die Armee, der Sicherheitsapparat und der Shin Bet mit den Medien auf einer Linie waren“, so die zweite Quelle weiter. „Alles, was sie vermitteln wollten, spiegelte sich [in den Nachrichtenberichten] wider. Die Militärreporter werden letztlich von diesen Systemen gefüttert, die sich völlig wohl dabei fühlen, bei Bedarf zu lügen. Zumindest in den ersten Monaten des Krieges hatte ich das Gefühl, dass die Medien und die Armee eins waren – dass die Medien ein Arm des Militärs waren.“
Vier Geheimdienstmitarbeiter erklärten, die Brutalität des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober habe es ihnen und ihren Befehlshabern erleichtert, groß angelegte Angriffe auf die Zivilbevölkerung in Gaza zu rechtfertigen. Den Quellen zufolge war die Überzeugung, dass alle PalästinenserInnen im Gazastreifen bis zu einem gewissen Grad an der Ermöglichung der Aktivitäten der Hamas „beteiligt“ waren, nie offizielle Politik, aber sie war in Gesprächen auf den Fluren und in den Kaffeepausen „die ganze Zeit präsent“.
Während eine Quelle die Angriffe auf Wohnblöcke damit rechtfertigte, dass die über einem Tunnel lebenden ZivilistInnen gewusst haben müssen, dass die Hamas unter ihnen operiert, fand eine andere Geheimdienstquelle diese Rechtfertigung schwieriger. „Die meisten Morde gehen auf das Konto des Geheimdienstes, nicht auf das der Truppen vor Ort“, sagt er. „Wir haben viel mehr Menschen getötet als [Kampf-]Soldaten oder Piloten, denn wir haben ihnen gesagt, wo sie bombardieren sollen.“
Yuval Abraham ist Journalist und Filmemacher und lebt in Jerusalem.
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