Kommentar von Arwa Damon, 15. Juli 2024, CNN
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Bei den letzten humanitären Einsätzen im Gazastreifen kamen HelferInnen wie ich über den Grenzübergang Ägypten nach Rafah, wo uns ein Meer menschlicher Verzweiflung empfing.
Eine Flut von Zelten quoll aus den Schulen, in denen die Vertriebenen untergebracht waren, und bedeckte die Bürgersteige. Eine Handvoll Fahrzeuge und Eselskarren bahnten sich ihren Weg durch das Gedränge des Menschenverkehrs. Die Menschen waren innerlich ausgelöscht, lebendig und doch irgendwie tot.
Diese erschütternden Szenen in Rafah sind nun Geschichte, wie ich letzten Monat feststellen musste, als ich nach zweimonatiger Abwesenheit im Rahmen einer weiteren humanitären Mission mit meiner Hilfsorganisation INARA nach Gaza zurückkehrte. Israels Einmarsch in Rafah hat mehr als eine Million Menschen in den zentralen Teil des Streifens vertrieben, wo sie ein weiteres elendes Stück Land mit ihren Zelten in Beschlag nahmen.
Die Schließung des Grenzübergangs Rafah hat die ohnehin unbeschreiblich katastrophale humanitäre Situation noch weiter verschlechtert und die einzige Route für medizinische Evakuierungen und den einzigen Ausweg für die Menschen im Gazastreifen abgeschnitten. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen wie ich müssen nun in einem gepanzerten Konvoi am südlichen Grenzübergang zu Israel abgeholt werden, der als Kerem Shalom oder Karam Abu Salem - kurz "KS" - bekannt ist.
Schmerz, Angst, Hoffnungslosigkeit, Verlust
Gaza ist mit nichts zu vergleichen, was ich je gesehen habe. Und ich war in den letzten 17 Jahren in genügend Kriegsgebieten, um zu wissen, dass die explosive Kombination von Schmerz, Angst, Wut, Hoffnungslosigkeit und Verlusten in dem Ausmaß, das Gaza und seine Bevölkerung erlitten haben - gepaart mit zunehmender Gesetzlosigkeit - einen Ausbruch ziviler Anarchie geradezu garantieren wird.
Die ständige Verzweiflung und Angst haben begonnen, jene moralischen Grundsätze, die eine Gesellschaft zusammenhalten, zu untergraben. Ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne eine Friedenstruppe und ohne humanitäre Hilfe wird Gaza in einem zivilen Chaos versinken. Und ein instabiler und unbewohnbarer Gazastreifen dient nur den offensichtlichen Zielen des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu und seiner rechtsextremen Regierung, um jeden gutgläubigen Versuch eines dauerhaften Friedens zu verhindern, während die Israelis immer mehr palästinensisches Land einnehmen.
Über ein Walkie-Talkie-System warnt uns die Stimme des führenden Fahrzeugs in meinem Konvoi vor einer "starken Menschenansammlung" entlang unserer Route und einer durch Staub verursachten schlechten Sicht und fordert uns auf, "die Türen geschlossen zu halten". Das ist ein unheilvolles Zeichen für das, was uns in diesem ohnehin schon brutal zugerichteten Land noch bevorstehen mag.
Die zunehmenden Plünderungen, kriminellen Aktivitäten und die Gesetzlosigkeit im Gazastreifen lassen die Menschen den „nächsten Krieg" befürchten, wenn die israelische Offensive endet. Der totale Zusammenbruch von Sicherheit und die Gesetzlosigkeit bieten der Hamas möglicherweise eine neue Chance, wieder an die Macht zu kommen, auch wenn niemand, mit dem ich gesprochen habe, sie wieder an der Macht sehen möchte.
Nach 9 Monaten Krieg: Sehnsucht nach Stabilität
Viele BewohnerInnen des Gazastreifens, die sich nach neun Monaten Kampfhandlungen stark nach Stabilität sehnen, befürchten, dass die sich bildenden Machtbereiche und die damit einhergehende Instabilität der Hamas oder ihrer nächsten Generation Raum verschaffen könnten.
Es gibt nur eine Route, die humanitäre Organisationen mit israelischer Erlaubnis vom KS-Übergang aus benutzen dürfen, um tiefer in den Gazastreifen vorzudringen. Diese Route wird sowohl von kommerziellen Lastwagen als auch von Hilfskonvois, wie dem, in dem ich mich befand, genutzt, auch um HelferInnen zu transportieren. Auf dieser Straße gibt es einen Streckenabschnitt, für den wir von Israel "grünes Licht" erhalten haben, um ihn zu befahren. Dieser verlassene Straßenabschnitt ist zu einem Sammelpunkt für Banden und Plünderer geworden.
Es sieht aus wie eine Szene aus einem apokalyptischen Zombie-Film. Der Asphalt scheint gefressen und wieder ausgespuckt worden zu sein. Was von den Gebäuden übrig geblieben ist, sind kaum mehr als Ruinen. Alles ist trümmergrau und schwarz ausgebrannt. Ich recke meinen Hals und versuche, alles zu erfassen, aber es ist unmöglich.
Gruppen von Männern lungern am Straßenrand herum, einige mit Schlagstöcken, einige mit Macheten. Sie warten darauf, Hilfslieferwagen zu überfallen, aber sie lächeln und winken unseren weit weniger verlockenden Jeeps mit UN-Kennzeichnung zu. Ich beobachte zwei Jugendliche, die den dreckigen Boden aufkratzen und die Reste eines zerrissenen Sacks mit irgendeiner Art von Getreide aufsammeln. Dies ist tatsächlich ein "Niemandsland" in einer ausgewiesenen "roten Zone". Das ist organisierter, krimineller und unheimlicher als das, was man findet, wenn Menschen, die einfach nur hungrig sind, einen Hilfstransporter überfallen.
Ein florierender Schwarzmarkt für Zigaretten
Einige Banden plündern für den Eigenbedarf, andere versuchen, alles, was sie in die Finger bekommen, auf dem Markt zu verkaufen. Die raffinierteren und bedrohlicheren Gruppen sind jedoch die verschiedenen Zigarettenschmuggelnetze. Seit dem 7. Oktober dürfen Zigaretten nicht mehr als Handelsware in den Gazastreifen eingeführt werden - ohne Angabe von Gründen, was aber angesichts der langen und immer länger werdenden Liste von Gegenständen, die von Israel willkürlich eingeschränkt werden, kaum überrascht. Auf meiner Reise nach Gaza im April scherzte ein begeisterter Raucher, den ich traf: "Sie wissen, dass sie uns vernichten können, indem sie uns das Nikotin abschneiden."
Damals kostete eine einzelne Zigarette etwa 10 Dollar. Heute sind es 17 bis 25 Dollar, je nach Marke. Wenn man nur fünf Stangen in einem Lkw schmuggelt, kommt man auf stolze 20.000 Dollar. Hilfsgütertransporter werden manchmal zu unfreiwilligen Kurieren für Zigarettenschmuggler, einer der Hauptgründe, warum sie zur Zielscheibe werden.
Dies alles aus erster Hand zu sehen, ist schockierend, aber kaum überraschend. Zu Beginn dieses Jahres wurde versucht, die Polizei des Gazastreifens zur Sicherung von Hilfslieferungen und Konvois, insbesondere von KS, einzusetzen, aber nachdem sie wiederholt von Israel angegriffen wurde, zog sie sich zurück. Die Verzweiflung, der Mangel an ausreichender Hilfe und die fehlende Sicherheit haben zu vermehrten kriminellen Aktivitäten geführt, wie Botschafter David Satterfield, der Sonderbeauftragte des US-Außenministeriums für humanitäre Fragen im Nahen Osten, bereits im Februar in einem Interview mit der Carnegie Endowment einräumte.
Israel hat sich von Anfang an seiner Verantwortung entzogen, die Sicherheit der Hilfskonvois und der MitarbeiterInnen zu gewährleisten. Die israelische Militärbehörde COGAT (Coordination of Government Activities in the Territories) veröffentlicht ständig aktuelle Informationen darüber, wie viele Hilfsgütertransporte in den Gazastreifen einfahren, und beschuldigt die Hilfsorganisationen, "bei der Verteilung zu versagen".
Die traurige Ironie ist, dass die Hilfsorganisationen tatsächlich bei der Verteilung versagen. Wir können die Hilfsgüter einfach nicht sicher vom Grenzübergang abholen, ohne uns dem israelischen Bombenhagel aus der Luft und Plünderern und kriminellen Banden auf den einzigen Routen auszusetzen, die wir für die Abholung nutzen dürfen. Israel erlaubt uns nicht, alternative Routen zu benutzen. Wir haben nicht einmal die Erlaubnis, Ausrüstungsgegenstände mitzubringen, die wir für die Reparatur der Lastwagen benötigen, die kaum vorankommen. Der lahmgelegte Prozess verkompliziert die ohnehin schon schwierige Sicherheitslage.
Es fühlt sich an wie der Beginn einer gekonnt inszenierten Anarchie, Teil einer bösartigen Strategie, um Gaza in die Knie zu zwingen. Die Verzweiflung steigt, immer mehr Menschen werden gewaltsam vertrieben, die Ressourcen werden immer knapper.
Die Grundlagen für den "inneren Krieg" werden gelegt
Wir fahren an einer riesigen Fläche der Verwüstung vorbei: kaum noch stehende Hüllen dessen, was früher einmal die Häuser der Menschen waren. Ich beobachte Kinder, die die Trümmer durchstöbern. Mir fällt das helle Glitzern eines grünen, dann eines violetten Stoffstücks mit Pailletten ins Auge. War das ein Kleiderladen? Die Überreste eines Kleiderschranks? Kinder rennen ohne Schuhe an offenen Abwasserkanälen vorbei, andere tragen Wasserkanister, die fast so schwer sind wie sie selbst. In der Ferne hört man sporadische Schüsse in Vierteln, die weit von jeder Frontlinie entfernt sind.
"Keine Sorge, das sind nur Streitigkeiten zwischen Familienclans, aber wir sollten besser reingehen", sagt einer der Männer, die Solarpaneele für eine von INARA unterstützte Unterkunft aufstellen, und bittet uns eines Abends vom Dach. Unsere Blicke treffen sich und ich kann seine Angst sehen. Es ist eine Angst, die ich auf dieser Reise in den Gazastreifen schon oft gesehen und gehört habe. Die Angst vor "dem Krieg nach dem Krieg". Manche glauben, dass er bereits begonnen hat. "Wir haben Angst vor dem, was als nächstes kommt", sagt er und zuckt mit den Schultern.
Die Dynamik von Familienclans und Banden ist in Gaza kein Fremdwort. Wie eine Freundin aus Gaza erklärt: "Die Hamas hat alle familiären Stammeskonflikte und die kriminellen Banden unter Kontrolle gehalten. Das war einer der Gründe, warum sie anfangs so beliebt war", sagte sie mir. "Das alles wird jetzt in der Gesetzlosigkeit, den Schmugglern und den aufkommenden Mafiabanden neu geschaffen.“
"Ich habe das Gefühl, dass sich alles in ein Bagdad der schlimmsten Sorte verwandeln wird, nicht entlang konfessioneller Grenzen, sondern in einen Flickenteppich von Mini-Reichen, die jeweils von einer Mafia oder einer Familie kontrolliert werden", sage ich aufgrund meiner Reisen in andere Kriegsgebiete. "Ja, genau deshalb bräuchten wir eine internationale Friedenstruppe", antwortet sie.
Sie sagt mir: "Wir wollen nicht, dass die Hamas zurückkommt, wir wollen sie auf keinen Fall zurückhaben. Im Moment gibt es kaum Unterstützung für die Hamas. Aber wenn sich das Chaos noch verschlimmert, werden sich die Menschen nach einer stabilisierenden Kraft sehnen, und die Unterstützung kann sich wieder auf die Hamas verlagern.“
Als ich zehn Tage nach meiner Ankunft Gaza wieder verlasse, sehe ich einen Haufen brennender Reifen. Ein paar Gruppen haben Baumstümpfe, Metallschränke - jede Art von Schutt, den sie auf die Straße werfen können, aufgestapelt, um einen Lastwagen zum Anhalten zu zwingen. Das Niemandsland ist noch trostloser. Wir fahren an den Lkw-Fahrern vorbei, die darauf warten, ihre Ladung zu verladen. "Was für mutige Männer", denke ich bei mir. "Sie riskieren Luftangriffe und Angriffe aus dem Hinterhalt."
In den Tagen, seit ich abgereist bin, ist KS fast zum Erliegen gekommen. Ich erinnere mich an die Worte eines Kollegen aus Gaza, der für eine andere Organisation arbeitet. "Dieser Krieg zielt darauf ab, uns zu zerstören und sicherzustellen, dass wir uns selbst zerstören", sagte er mir. "Alle handeln nur mit unserem Blut."
Arwa Damon, eine preisgekrönte ehemalige internationale CNN-Korrespondentin, ist heute Präsidentin und Mitbegründerin der gemeinnützigen Organisation International Network for Aid, Relief and Assistance (INARA).
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