Für Tausende von palästinensischen Eltern verwandelte sich die Freude über die Geburt ihres Kindes schnell in Trauer, als ihre Neugeborenen durch die israelische Bombardierung getötet wurden.
Von Ibrahim Mohammad, 18. September 2024, 972Mag
(Originalbeitrag in englischer Sprache mit dazugehörendem Bildmaterial)
Am 16. September veröffentlichte das Gesundheitsministerium des Gazastreifens ein 649-seitiges Dokument mit den persönlichen Daten von 34.344 Palästinensern, die in den letzten 11 Monaten durch den israelischen Angriff auf die Enklave getötet wurden. Die scheinbar endlose Liste ist unvollständig: Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sind seit dem 7. Oktober mehr als 41.000 Palästinenser ums Leben gekommen, doch viele von ihnen sind noch nicht vollständig identifiziert. Mehr als 11 300 der identifizierten Opfer sind Kinder, und 710 von ihnen wurden getötet, bevor sie ein Jahr alt wurden.
Dies sind die Geschichten von sechs dieser Kinder, die der Welt geraubt wurden, noch bevor sie ihren ersten Geburtstag erleben konnten.
Asser und Aysal Abu Al-Qumsan, vier Tage alt
Im August sahen Menschen in aller Welt die Bilder des 33-jährigen Muhammad Abu Al-Qumsan, der die Geburtsurkunden seiner neugeborenen Zwillinge in seinen Händen hielt. Seine Familie war Anfang Oktober aus dem Viertel Al-Rimal in Gaza-Stadt vertrieben worden und musste zunächst in das Flüchtlingslager Shaboura in Rafah umziehen, bevor sie in eine Wohnung in Deir Al-Balah im Zentrum des Streifens flüchtete. Dort tötete eine israelische Artilleriegranate seine Zwillinge Asser und Aysal, nur vier Tage nach ihrer Geburt, zusammen mit ihrer Mutter Jumana.
Am 10. August waren Muhammad und Jumana überglücklich, als die Zwillinge nach einem schwierigen Kaiserschnitt im amerikanischen Feldlazarett in Deir al-Balah zur Welt gekommen waren. Doch binnen kürzester Zeit wurde diese Freude durch tiefste Trauer und unermesslichen Schmerz ersetzt.
„Zu Beginn des israelischen Krieges gegen Gaza, nachdem ich auf der Suche nach einem sicheren Ort, an dem meine Frau die verbleibenden Monate ihrer Schwangerschaft in Ruhe zu Ende bringen konnte, von einem Gebiet zum anderen gezogen war, beschloss ich schließlich, zusammen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in einer Wohnung in den Al-Qastal Towers östlich von Deir al-Balah zu bleiben, die einem Verwandten meiner Frau gehörte“, so Muhammad gegenüber +972. „Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass diese Wohnung zum Ziel der Raketen der Besatzer werden würde.“
„Nachdem ich am Morgen des 13. August mit meiner Frau und ihrer Mutter gefrühstückt hatte, holte ich die Geburtsurkunden meiner Kinder in der Abteilung für zivile Angelegenheiten des Al-Aqsa- Krankenhauses in Deir al-Balah ab“, fuhr er fort. „Wenige Minuten nachdem ich die Geburtsurkunden erhalten hatte und während ich noch im Krankenhaus war, erhielt ich einen Anruf von einem Nachbarn, der mir mitteilte, dass das israelische Militär die Wohnung, in der sich meine Frau und meine Kinder befanden, beschossen hatte und dass alle BewohnerInnen in das Krankenhaus evakuiert worden waren, in dem ich mich zu diesem Zeitpunkt aufhielt.
Zuerst dachte ich, dass sie vielleicht nur verwundet worden waren, aber der Schock überwältigte mich, als ich feststellte, dass ihre leblosen Körper in der Leichenhalle des Krankenhauses gelegt worden waren“, fuhr Muhammad fort. „Einer der Zwillinge war in Stücke gerissen worden, seine Gesichtszüge waren unkenntlich, der andere war blutgetränkt, genau wie seine Mutter. Und der Großmutter hatte die israelische Granate den Kopf abgetrennt. Der Schock und die schrecklichen Szenen, die ich sah, konnte mein Verstand und mein Herz nicht begreifen. Ich verlor das Bewusstsein und brach auf dem Boden zusammen.“
Nach der Geburt der Zwillinge hatte Jumana die Nachricht auf ihrem Facebook-Profil geteilt, was alle, die sie kannten, mit Freude erfüllte. Es folgte eine Flut von Glückwünschen und Glücksbekundungen, trotz der damit verbundenen Tragödien. Vier Tage später wurde derselbe Beitrag mit Beileidsbekundungen überschüttet: Die Kommentatoren zeigten sich schockiert über die Nachricht von ihrem Tod und drückten ihr und ihren Kindern ihr Beileid aus.
„Jumana und ich erwarteten sehnsüchtig unser neues Leben, das vom Lachen unserer beiden Kinder erfüllt sein würde, aber die israelische Besatzung hat uns dieser Freude beraubt“, so Muhammad. „Ich habe nur kurze Erinnerungen und die schönsten Momente meines Lebens mit meinen Zwillingen und meiner Frau, bevor sie diese Welt verließen. Aysal und Asser waren meine erste und letzte Freude. Was haben sie sich zuschulden kommen lassen? Warum hat die israelische Besatzung sie bombardiert?“
Sabrine Al-Rouh Al-Sheikh, fünf Tage alt
Sabrine Al-Rouh Al-Sheikh war noch nicht geboren, als im April bei einem israelischen Luftangriff auf Rafah ihre Mutter schwer verwundet und ihr Vater und ihre Schwester getötet wurden. Der Onkel väterlicherseits, Rami Al-Sheikh, beschrieb die Verwüstung, die der Bombenangriff im Stadtteil Al-Shaboura angerichtet hatte, folgend: „Im Morgengrauen des 20. April, während wir schliefen und ohne Vorwarnung, bombardierten Kampfjets unser Haus“, berichtete Rami. „Mein Bruder Shukri wurde in Stücke gerissen, ebenso wie seine Tochter Malak“.
Die Ärzte führten bei der im siebten Monat schwangeren Mutter, die ebenfalls Sabrine hieß, einen Notkaiserschnitt durch, doch sie starb zehn Minuten später an den Verwundungen an Kopf, Brust und Unterleib. Die kleine Sabrine wurde zur weiteren medizinischen Versorgung in das Al-Emirati-Krankenhaus in Rafah gebracht, wo sie fünf Tage lang im Angesicht des Todes um ihr Leben kämpfte, bevor sie schließlich starb und zu ihrer Familie ging.
Neben der Mutter, dem Vater und der 3-jährigen Schwester des Babys, Malak, wurden 16 weitere Mitglieder der Großfamilie bei dem Angriff getötet.
„Ihr Vater wartete sehnsüchtig auf die Ankunft seines kleinen Mädchens und wollte es 'Rouh' nennen, was 'Seele' bedeutet, aber ich entschied mich, sie zu Ehren ihrer Mutter Sabrine Al-Rouh zu nennen und gleichzeitig den Wunsch ihres Vaters zu erfüllen, bevor er getötet wurde“, so Rami gegenüber +972. „Wie lange werden diese Massaker noch andauern? Die Welt ignoriert den Völkermord, der an uns verübt wird.“
Manal Abu Al-O'uf, sieben Monate alt
In der ersten Woche des israelischen Angriffs wurde Mo'emen Abu Al-O'uf, 26, mit seiner Familie aus ihrem Haus in Gaza-Stadt vertrieben. Sie suchten Schutz bei Verwandten in Deir al-Balah, im Glauben, dass die Gebiete südlich von Wadi Gaza sicher seien. Doch am 14. Oktober, nur einen Tag nach ihrer Evakuierung, bombardierten israelische Kampfflugzeuge ohne Vorwarnung ein Haus, das sich neben dem Haus befand, in dem sie untergebracht waren. Mo'emen und sein Bruder überlebten die Explosion mit Verletzungen, aber seine Frau Alaa (22), seine kleine Tochter Manal (sieben Monate) und seine Mutter Manal (53) wurden alle getötet.
„Zuerst dachte ich, dass das, was mir passiert ist, nur ein Traum war“, erzählte er. „Dann überwältigte mich das Gefühl von Verlust und Trauer, das nur jemand verstehen kann, der die Bitterkeit des Verlustes von geliebten Menschen erlebt hat.“
In den letzten 11 Monaten nach dem Angriff wurde Mo'emen von den Erinnerungen an seine Familie und dem furchtbaren Schmerz über ihren Verlust begleitet. „Die glücklichsten Tage meines Lebens waren die Hochzeit mit Alaa am 12. Dezember 2021 und die Geburt meiner Tochter Manal, aber die Besatzung hat mich dieser Freude beraubt, indem sie sie umbrachte. Sie waren unschuldig. Waren sie Kämpfer? Hatten sie Waffen bei sich?“
Naeem und Wissam Abu Anza, fünfeinhalb Monate alt
Am 2. März traf ein israelischer Luftangriff das Haus der 29-jährigen Rania Abu Anza im Stadtteil Al-Salam östlich von Rafah und tötete ihre Zwillinge sowie ihren Ehemann und elf Verwandte, die bei ihnen Zuflucht gesucht hatten. Rania überlebte die Bombardierung und wurde aus den Trümmern ihres zerstörten Hauses geborgen.
„Wir schliefen, als das Haus angegriffen wurde“, so Rania gegenüber +972. „Plötzlich fand ich mich unter einem Haufen Schutt begraben. Ich habe die Rakete, die uns getroffen hat, nicht gehört. Ich schrie und hoffte, dass uns jemand retten würde, denn die Trümmer bedeckten die Körper meiner Kinder und meines Mannes. Sie waren alle tot.“
Rania und ihr Mann hatten viele Jahre gebraucht, bis Rania schwanger werden konnte. „Wir haben sehr darum gekämpft, Kinder zu bekommen. Ich habe drei künstliche Befruchtungen gemacht; die ersten beiden Versuche schlugen fehl, beim dritten Versuch klappte es dann. Ich wurde mit meinen Zwillingen, Naeem und Wissam, schwanger und brachte sie am 13. Oktober zur Welt.“
„Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Zwillinge und meinen Mann verlieren würde“, fährt Rania fort. „Ich hatte den Tag herbeigesehnt, an dem ich sie vor meinen Augen aufwachsen sehen würde, aber jetzt bin ich allein. Noch heute suche ich in den Trümmern des Hauses nach Erinnerungen an meine Kinder - nach ihren Decken und Kleidern, von denen ich geträumt hatte, dass sie sie tragen werden. Ich bewahre ihre Kleider immer noch auf und ich trage immer noch den Ring meines Mannes, mit dem ich die schönsten Tage meines Lebens verbracht habe. Aber die Besatzung hat meinen Traum zerstört und mir ein Leben als Mutter genommen.“
Ibrahim Mohammad ist ein unabhängiger palästinensischer Journalist aus Gaza-Stadt, der über humanitäre und soziale Themen berichtet. Er hat einen BA-Abschluss in Journalismus und Medien der Al-Aqsa-Universität.
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