Ja, es gibt einen israelbezogenen Antisemitismus. Er liegt dann vor, wenn Israel abgelehnt wird "weil" es jüdisch ist oder weil es als "jüdisch" wahrgenommen wird. Viel häufiger gibt es jedoch eine israelbezogene Zensur, welche – auch legitime – Kritik des Staates einem Antisemitismusverdacht aussetzt. Institutionen des Staates Israel betreiben eine weltweite Kampagne, die darauf hinausläuft, eine Solidarisierung mit dem geschundenen palästinensischen Volk zu diskreditieren.
Die Dämonisierung von BDS ist ein Kernstück dieser Kampagne. Es wird versucht, die Message von BDS in einen antisemitischen Kontext zu stellen. Dazu wird ein Antisemitismusbegriff verwendet, der speziell darauf gerichtet ist, Israelkritik einem Verdacht auszusetzen. Zu diesem Zweck werden Zionismus und der Staat Israel tabuisiert, indem deren Opfer, das palästinensische Volk, ausgeklammert werden. Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass es zu einer Banalisierung des Antisemitismus kommt, wenn auch legitime Kritik unter diesen Begriff subsummiert wird. Einsatz und Intensität dieses Vorwurfs nimmt proportional zur Entwicklung in Israel/Palästina zu: je weniger die Politik von Okkupation, Kolonisierung und Diskriminierung mit rationalen Argumenten verteidigt werden kann, desto mehr kommt der Antisemitismusvorwurf durch staatliche Stellen (v.a. das Ministery for Strategic Affairs unter Gilad Erdan) und "pro-israelische" Lobbys zum Einsatz.
Paradoxerweise findet gleichzeitig ein Schulterschluss zwischen den israelischen Rechts- Regierungen und rassistischen, antisemitischen oder islamophoben Regimen statt. Das beginnt mit Trump und zieht sich dann über Orban zu Bolsenaro, Duterte, Modi, etc. Der Charakter dieser Regime ist für die israelische Führung gleichgültig, solange sie die Politik von Netanyahu u.a. unterstützen. Wirklicher Antisemitismus in anderen Ländern wird nicht primär verurteilt, sondern als Bestätigung der eigenen Ideologie ("We told you so") betrachtet. Abgesehen von dem Bemühen, die jeweiligen Regime auf den eigenen Kurs zu verpflichten, besteht die Hoffnung, jüdische Bürger würden ihre Herkunftsländer verlassen und Israel demographisch stärken.
Für viele rechtsgerichtete Regime und Bewegungen hat Israel inzwischen an Attraktivität gewonnen: abgesehen vom Hightech-Boom, der wesentlich von Counterinsurgency-Praktiken gegen die Palästinenser herrührt, gefällt der offen deklarierte Ethno-Staat (das jüngste Nationalstaats-Gesetz legt fest, dass das Selbstbestimmungsrecht im Lande nur dem "jüdischen Volk" zukomme) und die Frontstellung gegen "Terrorismus" und "Islamismus". Gleichzeitig glauben manche Rechtspopulisten durch "pro-israelische" Positionen den eigenen, anti-semitischen Ballast loszuwerden. "Pro-Israel" Beteuerungen sind jedoch kein Beweis für eine "Bewältigung der Vergangenheit". Eine verantwortungsvolle Politik kann sich durchaus für die Sicherheit Israels einsetzen, sie muss sich aber gleichzeitig bewusst sein, dass das zionistische Projekt zwar eine Folge der europäisch-christlichen Judenfeindschaft war, aber durch seine Realisierung neue Opfer produziert hat. Deshalb muss eine moralisch begründete Politik Israel und dem palästinensischen Volk gegenüber Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Diese Umstände sollten berücksichtigt werden, wenn unsere Abgeordneten aufgerufen werden, über "Antisemitismus und die BDS-Bewegung" abzustimmen.
John Bunzl (* 1945) ist Politikwissenschaftler, Nahostexperte und Soziologe. Er ist Senior Fellow des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (oiip).