Vor kurzem wurde mir die Frage gestellt, was ein Einsatz mit dem ökumenischen Begleitprogramm EAPPI in Israel und Palästina bedeuten würde. Ich habe länger darüber nachgedacht und dabei fiel mir ein Gespräch mit meiner ehemaligen EAPPI Teamkollegin Sabrina ein. Wir trafen uns knapp 2 Monate nach unserer Heimkehr in London und sie fragte mich nach den Geschehnissen seit meiner Rückkehr. Außer dem umgekehrten Kulturschock hatte sich bei mir kaum etwas ereignet, Alltag eben. Sabrina sah mich an: „Und überlege dir, wie viel in zwei Monaten in Hebron passiert ist.“ Ich wusste genau, was sie meinte, denn nach den insgesamt drei Monaten in Palästina stand meine Welt Kopf. Aber warum?
Letztes Jahr entschied ich mich, an dem ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) teilzunehmen. Ich hatte durch den Internationalen Versöhnungsbund (IFOR) über das Programm erfahren, bei dem freiwillige FriedensbegleiterInnen aus der ganzen Welt drei Monate lang Menschenrechtsverletzungen in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten dokumentieren, eine Chance sich ein eigenes Bild über den Israelisch-Palästinensischen Konflikt zu machen. Zwei Wochen vor meiner Abreise Anfang Dezember wurde mir mein Einsatzort bekannt gegeben: Al Khalil, besser bekannt als Hebron, die mit etwa 250.000 EinwohnerInnen größte Stadt auf der Westbank. Sie ist Epizentrum religiöser wie auch politischer Interessen für den Islam und das Judentum und wurde dadurch Zeugin erbitterter Konflikte.
Es ist schwer all das zusammenzufassen, was ich in diesem Zeitraum gesehen und erlebt habe. Es war ein Gemisch unterschiedlichster Beobachtungen und Erfahrungen, die Tag für Tag das Gesamtbild eines Lebens unter der Besatzung ergaben, ein Leben unerträglicher direkter und struktureller Gewalt.
Bereits am ersten Tag erkundeten wir Hebron und ich empfand die hoch technisierten Checkpoints, Kontrollpunkte des israelischen Militärs, als erdrückend. Die langen Menschenschlangen vor den Drehtüren, wo jeder darauf wartete, dass das Signallicht auf grün schaltete und damit den Durchgang erlaubte, zeigten mir sofort die Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Die SoldatInnen, die diese Checkpoints kontrollierten, empfand ich durch ihre Maschinenpistolen und den herrischen Ton als bedrohlich. Die aggressiven Leibesvisitationen erlebte ich als entwürdigend.
Im Jänner 1997 unterzeichnete Israel gemeinsam mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) ein Abkommen, das die Verwaltung Hebrons in die Zonen H1 und H2 aufsplitterte. Seither verwaltet die palästinensische Polizei (PPF) H1 und das israelische Militär kontrolliert die Zone H2, die die gesamte Altstadt umfasst. Die Entscheidung war aufgrund der wachsenden Konflikte zwischen beiden Volksgruppen getroffen worden. Die religiöse Bedeutung Hebrons für das Judentum führte in den 70er- und 80er-Jahren zum jüdischen Siedlungsbau innerhalb der arabischen Altstadt, aktuell sind es an die 800 SiedlerInnen. Ganze israelische Brigaden werden zum Schutz dieser Siedlungen eingesetzt. Dadurch ist Hebron die einzige Stadt im Westjordanland, in der sich israelische SiedlerInnen, SoldatInnen und PalästinenserInnen die Altstadt teilen. Rund 120 Barrieren, von denen 18 fixe Checkpoints darstellen, machen den Zugang zu Einkaufsstraßen, Häusern, Schulen, oder das Durchqueren der Altstadt schier unmöglich.
Meine täglichen Beobachtungen dieser Checkpoints, diese drückende Stimmung, diese Spannung, es könnte jederzeit wieder etwas passieren, werde ich nie vergessen. Aber es war vor allem der Anblick der Kinder, der eine Welle an Gedanken und Gefühlen in mir auslöste. Ich fragte mich oft, wie das kollektive Gedächtnis dieser Generation aussieht.
Die Freitage und Samstage waren von Nervosität geprägt, denn sie sind die Gebetstage im Judentum und im Islam. Teil unserer Aufgaben war es, an diesen beiden Tagen in sensiblen Gegenden präsent zu sein, um die Gewalt etwas einzudämmen. Als internationale AkteurInnen genossen wir automatisch mehr Schutz, den wir gezielt einsetzen konnten. Also marschierten wir die Straßen auf und ab, an denen SiedlerInnen und PalästinenserInnen einander begegneten. Die Zahl der SoldatInnen war an diesen beiden Tagen dementsprechend höher. Ich erinnere mich noch, wie ich das erste Mal bewaffnete SiedlerInnen sah. Für mich machte es einen immensen Unterschied, Waffen an ausgebildeten SoldatInnen zu sehen oder bei jugendlichen SiedlerInnen, die in ihrer Freizeit bewaffnet an allen vorbei gingen. Obwohl ich in diesen drei Monaten immer wieder Anspannung empfand, war es vor allem, wenn wir größeren, bewaffneten Gruppen von SiedlerInnen begegneten, dass ich es wirklich mit der Angst zu tun bekam. Eine Angst, aber auch Aggressivität, die ich häufig bei den PalästinenserInnen beobachten konnte. Und auch da fragte ich mich oft: wie sieht wohl hier das kollektive Gedächtnis aus?
Die einzelnen Schicksalsschläge der Familien, die wir tagtäglich besuchten, lasse ich in diesem Text aus. Dann müsste ich von minderjährigen Inhaftierten erzählen, die Folter erfahren haben und heute schwer traumatisiert sind. Oder ich müsste von Kindern berichten, die ungewollt in Feuergefechte zwischen PalästinenserInnen und SoldatInnen gerieten und heute noch an den gesundheitlichen Folgen leiden. Ich würde einen wesentlich längeren Artikel benötigen, um all das Gesehene und Erlebte einbetten zu können.
Warum mich dieser Einsatz so geprägt und meine Welt auf den Kopf gestellt hat, war, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben den brutalen Unterschied zwischen einem Leben in Frieden und einem Leben in Gewalt erfahren habe. Zu wissen, dass es diesen Kontrast auf unserer Welt gibt, war und ist für mich unerträglich.
In meinem Leben gibt es eine absolute Konstante: meinen festen Glauben an die Menschenrechte. Ich setze mich dafür ein, dass alle Menschen in den Genuss der gleichen Rechte kommen. In Frieden zu leben, erachte ich als das wichtigste Recht von allen. Es steht einer Regierung weder zu, ein ganzes Volk zu unterdrücken noch die eigene junge Generation als SoldatInnen in einen Konflikt zu zwingen, den viele von ihnen kritisch hinterfragen. Auch sie sind Opfer der ihnen erteilten Befehle und werden davon ein Leben lang geprägt sein. Es ist das Recht einer Gesellschaft, die an ihren Mitgliedern verübten Menschenrechtsverbrechen anzuklagen und dafür international ein faires Urteil zu erhalten. Es ist mein Recht als Individuum, das Gesehene zu berichten, ohne dafür als Antisemitin diskreditiert zu werden. Es ist das Recht jeder Person, die diesen Text liest, sich eine eigene Meinung zu bilden. Doch bitte ich, dabei nicht darauf zu vergessen, dass unser Urteil eventuell die Rechte anderer untergräbt. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, objektiv auf die politische Lage in Israel und Palästina zu blicken und dabei niemals auf die Menschenrechte zu vergessen. Sie gelten für beide.
Die Wienerin Irene Benitez Moreno war von Dezember 2015 bis März 2016 für das ökumenische Begleitprogramm EAPPI in Hebron (Westjordanland) als Menschenrechtsbeobachterin aktiv. Das ökumenische Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) ist ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen. Es wurde 2002 in Jerusalem auf Wunsch lokaler Kirchen nach einer schützenden, internationalen Präsenz gegründet. Seit Oktober 2009 wird diese Arbeit auch aus Österreich unter Zusammenarbeit der Diakonie Austria, dem Internationalen Versöhnungsbund und Pax Christi Österreich unterstützt. Das Programm ist offen für Menschen aller Glaubensrichtungen und Nationalitäten.
Mehr Informationen zu EAPPI hier