Am kommenden Sonntag, dem 15. Mai, wird der Nakba gedacht.
Die Staatsgründung Israels im Jahr 1948 ist für die palästinensische Bevölkerung untrennbar verbunden mit dem Terminus Nakba („Katastrophe“), der Vertreibung von 750.000 PalästinenserInnen aus ihrer Heimat, dem bis dahin britischen Mandatsgebiet Palästina. Mit der Vertreibung einher gingen nicht nur die Zerstörung von 531 palästinensischen Dörfern und Stadtteilen, sondern auch zahllose Tötungen von PalästinenserInnen.
Der israelische Historiker Ilan Pape spricht im Zusammenhang mit der Nakba nach eingehenden Untersuchungen israelischer Militärarchive von „ethnischen Säuberungen“, begangen von jüdischen Milizen. Dem von Israel nach wie vor aufrechterhaltenen Narrativ von einem „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ stehen heute weltweit über 12 Millionen Palästinenser
und Palästinenserinnen gegenüber, davon sind 5,49 Millionen als Flüchtlinge beim UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNWRA) registriert.
Die UN Resolution 194 (III), Artikel 11, vom 11. Dezember 1948 spricht den palästinensischen Flüchtlingen und ihren Nachkommen zwar ein Rückkehrrecht respektive Restitution aus, doch wurde diese Resolution bis heute nicht umgesetzt. Nach wie vor existieren 58 palästinensische Flüchtlingslager in Jordanien, Libanon, Syrien, Gaza, Westjordanland und Ostjerusalem. Die Situation in den dicht besiedelten Flüchtlingslagern ist geprägt von Armut, fehlender Infrastruktur und Arbeitslosigkeit. Das Recht der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren und Restitution zu erhalten, wie es in der UN Resolution 194 vereinbart wurde, darf nicht in Vergessenheit geraten, sondern muss respektiert, geschützt und unterstützt werden.
Die Nakba ist kein singuläres Ereignis - vielmehr hält sie bis heute an. Auch 68 Jahre später steht das palästinensische Volk unter den allumfassenden Auswirkungen israelischer Besatzung und deren Mechanismen wie Vertreibung, Enteignung, Kolonialisierung, Apartheid und weiteren, täglichen Verletzungen von Menschenrechten.
Anlässlich des Palästina-Nakba-Tages hielt der israelische Ökonom Shir Hever, Mitglied des Vorstands der jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Palästina/Israel, am 7.05.2016 folgende Rede:
„Guten Tag. Ich heiße Shir Hever, und zu diesem Nakba Tag möchte ich ein paar Worte über meine eigene Erfahrung mit der Nakba erzählen.
Ich bin in Israel aufgewachsen. Meine Erziehung von einem sehr jungen Alter an hat sich auf den Holocaust als Hauptthema fokussiert. Ich habe gelernt über die Geschichte des Genozid der Juden in Europa während des Zweiten Weltkriegs, wobei meine Eltern Berichte über den Genozid von anderen Gruppen ergänzen mussten. Wie alle Kinder habe ich auch über meine Familiengeschichte gelernt, und sogar wie meine Großeltern von Polen geflohen sind, und Asyl in der Sowjetunion gefunden haben. Die Mehrheit der Familie blieb in Polen, und niemand von Ihnen hat überlebt.
Ich habe nichts gelernt über die Geschichte der anderen Hälfte meiner Familie, die vor dem zweiten Weltkrieg nach Palästina kamen. Nur zehn Jahre, nachdem mein zweiter Großvater starb, habe ich von meinem Vater erfahren, was er 1948 getan hat. Er hat in dem Massaker in Lyd teilgenommen. Nur neun Jahre, nachdem die Eltern meines Vaters Flüchtlinge geworden waren, hat der Vater meiner Mutter Flüchtlinge gemacht. Aber das war in unserer Familie ein Geheimnis.
Vor dem Jahr 2000 haben wir in meiner Familie sehr wenig über die Nakba gewusst. Als Kind war mein Lieblingsort zu spielen der „Jerusalem Wald“. Als Kind dachte ich, dass Wälder in der Natur die Form von Treppen haben. Ich wusste nicht, dass die Form von den Terrassen der Landwirtschaft des Dorfs Dir Yassins kommt. Der Wald über Dir Yassin wurde von dem Jüdischen Nationalfonds gepflanzt, und kein Schild berichtet über das Dorf. Aber wenn man darüber nachdenkt, kann man die Spuren finden.
Es ist sehr kontrovers in Israel, über die Nakba und den Holocaust im selben Kontext zu sprechen. Der Holocaust, laut dem israelischen Konsens, ist unvergleichbar. Ich stimme nicht zu. Wir müssen uns an den Holocaust erinnern sowie an die Nakba, um zu lernen was Menschen machen können. Die Nazis waren Menschen, und mein Großvater auch. Nur Menschen haben die Kapazität, solche Grausamkeit und Gewalt gegen andere Menschen zu verüben.
Leider gibt es keine einfache Lösung für uns zu sagen, „sie waren Monster“. Und wie die Menschlichkeit immer mit jedem Täter bleibt, bleibt die Gefahr für gewaltigen Rassismus mit jedem Menschen.
Letzten Donnerstag war Holocaust-Tag in Israel. In der Hauptzeremonie sprach General Yair Golan, der Vizekommandeur der israelischen Armee. Er sagte, dass es im heutigen Israel ähnliche Entwicklungen gibt wie in Deutschland vor siebzig, achtzig, neunzig Jahren, und dass Israelis vorsichtig sein müssen. Die Reaktion gegen ihn war enorm, er hat einen Nerv getroffen. Israel mit Nazi Deutschland zu vergleichen? Aber er irrt. Die Entwicklungen in Israels Gesellschaft sind nicht neu. Wie wir hier alle wissen, ist die Geschichte von Israel auf den Ruinen des palästinensischen Volkes geschrieben.
(…) Die Nakba hat nicht im Jahr 1948 geendet. Sie geht weiter. An jedem Tag, an dem die Flüchtlinge nicht zurückkommen dürfen, dauert die Nakba an. Kurz vor ihrem Tod hat meine Großmutter mir gesagt, dass sie das nicht verstehen kann. Sie musste von Polen im Jahr 1939 fliehen, aber nach dem Krieg konnte sie zurück nach Polen kommen, um ihren Pass und ihr Haus wieder zu bekommen. Sie sagte mir, dass sie nicht verstehen kann, warum die palästinensischen Flüchtlinge nach dem Krieg nicht zurückkommen dürfen.
In jedem Ort in Israel kann man Spuren von zerstörten palästinensischen Dörfern und Städten finden. Aber wissen die Israelis wirklich, was die Nakba ist? Ich glaube, dass sie es wissen, aber sie wollen es nicht wissen.
Bis zur zweiten Intifada war das Wort „Nakba“ für israelische Juden gar nicht bekannt. Auch die meisten linken Juden hatten das Wort nicht gehört, inklusive mir. Aber im Jahr 2002 wurde die Organisation „Zochrot“ gegründet und auf Hebräisch über die Nakba berichtet. (…)
Für die israelische Regierung war diese Entwicklung erschreckend. Manche israelische Politiker haben zu lügen versucht. Sie sagten, dass die Palästinenser entschieden hätten zu gehen, dass es keine Vertreibung gab, dass die Palästinenser die Katastrophe verdient hätten und gleichzeitig, dass es keine Katastrophe gab. Aber es gibt nicht nur palästinensische Historiker sondern auch israelische Historiker, die die Fakten bestätigen. Die Fakten stehen in den Archiven der israelischen Armee.
Deshalb hat die israelische Knesset im Jahr 2011 das Nakba-Gesetz erlassen. Laut dem Gesetz kann jede Organisation in Israel, die über die Nakba berichtet, ihr öffentliches Geld verlieren. Trotz diesem Risiko machen Kinos, Universitäten und Volkshochschulen Veranstaltungen über die Nakba. Dank dem Gesetz kennt jetzt jeder Israeli das Wort Nakba.
Der Nakba Tag ist ein trauriger Tag. Wir erinnern uns an den großen Verlust. Ein ganzes Volk hat seine Heimat verloren. Aber noch ein Unterschied zwischen dem Holocaust und der Nakba ist, dass wir nicht in unserer Trauer bleiben dürfen. Politische Aktion braucht Optimismus. (…)
Ich sehe zwei Gründe, Optimist zu sein:
Erstens: der Diskurs über die Nakba in Israel vergrößert sich jeden Monat. Israelis verstehen genau, was der Schlüssel symbolisiert. (…)
Zweitens: Die BDS Bewegung (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen) gegen Israel wird immer größer. Jeden Tag berichten die israelischen Zeitungen und Fernsehsendungen über BDS. BDS ändert den Diskurs über Israel/Palästina. Anstatt über internationale Beziehungen, Realpolitik und Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Autonomiebehörde, spricht BDS über Menschenrechte. Und auch über die Rechte der Flüchtlinge. (…)"
Weitere Informationen:
Die (hier leicht gekürzte und editierte) Rede von Shir Hever wurde erstmals vom „Palästinakomitee Stuttgart“ am 9. Mai 2016 auf Facebook veröffentlicht: https://www.facebook.com/PaKo.Stuttgart/posts/1006633219421363
Link zur Organisation „Zochrot“
Zeitzeugeninterviews (auf Arabisch mit englischen Untertiteln) des palästinensischen Informationsministeriums:
Rab’a Rasheed Younes (geb. 1933) aus Haifa
Ahmed Abdullah Ahmad Noman, aus Al Kafrayn bei Haifa