Inmitten einer Situation, in der die Welt auf ein Chaos von Krieg und Gewalt zusteuerte, versammelten sich im August 1914 gut hundert Menschen aus verschiedenen christlichen Kirchen, um einen verzweifelten Appell an die europäischen Nationen zu richten, vom Weg des Nationalismus und der Gewalt abzulassen und zu den gewaltfreien Wurzeln der Botschaft Jesu Christi zurückzufinden. Wie wir wissen, fruchtete dieser Aufschrei nicht – dennoch war dieses Treffen der Beginn einer Bewegung, die nach dem 1. Weltkrieg unter dem Namen „International Fellowship of Reconciliation“ (IFOR) gegründet wurde. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten stellte sich in der praktischen Friedensarbeit heraus, dass nicht nur in der christlichen Tradition, sondern auch im Hinduismus, im Buddhismus, im Judentum, im Islam sowie in humanistischen Traditionen die Würde jedes Menschen und der aktive Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung durch gewaltfreie Methoden verankert sind. Deshalb zählt der Versöhnungsbund nunmehr in rund 60 Zweigen und Gruppen in der ganzen Welt Menschen aus vielen humanistischen und religiösen Hintergründen zu seinen Mitgliedern, darunter sechs Friedensnobelpreisträger_innen (z.B. M.L. King, Mairead Maguire und Adolfo Pérez Esquivel). Ihnen gemeinsam ist die Überzeugung, dass durch die Kraft der aktiven Gewaltfreiheit Unrecht und Gewalt überwunden und ein friedliches und gerechtes Zusammenleben geschaffen werden können.
In Österreich wurde der Versöhnungsbund in den 1920er Jahren erstmals und nach seinem Verbot während der NS-Zeit 1953 wieder gegründet. Die Arbeit gegen Krieg, Militarismus und Aufrüstung, das Eintreten für gewaltfreie Alternativen (z.B. Zivildienst für Wehrdienstverweigerer bzw. Friedensdienste) und eine aktive Friedenspolitik des neutralen Österreich in Europa und der Welt sowie die Unterstützung internationaler gewaltfreier Bewegungen (in Lateinamerika, Osteuropa, Afrika und dem Nahen Osten) bildeten kontinuierlich den Fokus unserer Arbeit, auch wenn sich einzelne Inhalte und Schwerpunkte natürlich aufgrund aktueller Herausforderungen verschoben.
Angesichts der globalen und gesellschaftlichen Situation ist der österreichische Versöhnungsbund derzeit in vier Arbeitsfeldern tätig:
die Förderung einer Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit: durch das Programm „Frieden denken, Frieden leben!“ wollen wir dazu beitragen, den vorherrschenden Diskurs über Gewalt als einzig funktionierendes und daher legitimes Mittel der Konfliktaustragung in Frage zu stellen und auf die Wirksamkeit gewaltfreier Methoden in mittlerweile Hunderten von politischen und gesellschaftlichen Konflikten hinzuweisen. Durch Workshops zur Delegitimierung von Gewalt, Aktionen und Publikationen (z.B. der aktuellen Ausgabe unserer Zeitschrift „Spinnrad“ zum Schwerpunkt „Gewaltfreiheit im Islam“) weist der Versöhnungsbund auf die Wichtigkeit der Förderung gewaltfreier Lösungswege hin.
Friedensförderung und Demilitarisierung: Im Rahmen des Programms „Vorrang für zivil“ tritt der Versöhnungsbund für Abrüstung (nuklearer und konventioneller Waffen), für eine aktive Friedenspolitik Österreichs in der EU und international sowie für die Schaffung gewaltfreier Instrumente zur Konfliktbearbeitung und Friedensförderung in Form von staatlich finanzierten „Zivilen Friedensdiensten“ ein.
„Ohne Rüstung leben“: Da Gewalt sich nicht nur direkt, sondern auch in Strukturen manifestiert, spielt auch die von unserem Wirtschaftssystem produzierte Gewalt eine wichtige Rolle. Aufgrund unseres speziellen Zugangs setzen wir uns hier v.a. mit dem Aspekt der Rüstungsproduktion und der Rüstungsexporte in Österreich auseinander und arbeiten mit anderen Friedensorganisationen gemeinsam an der Erstellung eines „Rüstungsatlas“, der Daten und Fakten zur Situation der Rüstungsproduktion in Österreich erfassen soll.
Internationale Solidarität und Kooperation: Als Teil einer internationalen Bewegung ist dem Versöhnungsbund stets auch die Unterstützung befreundeter gewaltfreier Initiativen und Personen in Konfliktgebieten ein Anliegen gewesen. Dabei haben sich über Jahrzehnte hinweg drei Schwerpunktregionen unserer Arbeit herausgebildet, wo wir tätig sind:
I.) Lateinamerika, und hier insbesondere Kolumbien, wo der Versöhnungsbund im Rahmen des Programms Friedenspräsenz in Kolumbien (FOR Peace Presence) ländliche Gemeinden, die von Gewalt und Vertreibung betroffen sind, sowie Personen und Organisationen, die sich für Menschenrechte einsetzen, begleitet, um ihnen so Schutz und Raum für die Durchführung ihrer Tätigkeiten zu gewähren.
II.) Der Westbalkan (ehem. Jugoslawien), wo der österreichische Versöhnungsbund während der Kriege in den 1990er Jahren Friedensdienste für Zivildiener und Freiwillige mitorganisierte, und seit rund 10 Jahren in einer Partnerschaft mit dem „Zentrum für gewaltfreie Aktion“ (CNA) in der Bildungs- und Trainingsarbeit für aktive Gewaltfreiheit sowie im Umgang mit der Vergangenheit zusammen arbeitet.
III.) Der Nahe und Mittlere Osten, mit einem Schwerpunkt auf den israelisch-palästinensischen Konflikt.
Friedensarbeit im Nahen Osten
Seit den 1970er Jahren entstanden Kontakte zu palästinensischen und israelischen gewaltfreien Personen und Initiativen, die damals den IFOR-Zweig „Palestinians and Israelis for Nonviolence“ bildeten. 2002 war die Ehrenvorsitzende des Versöhnungsbundes, Hildegard Goss-Mayr, maßgeblich an der Initiierung einer solidarischen Pilgerreise christlicher Friedensorganisationen beteiligt, die aufgrund der 2. Intifada allerdings nur in kleiner Zahl stattfinden konnte. Aus dieser Initiative entstand eine intensivere Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt, wobei der österreichische Versöhnungsbund stets großen Wert auf seine gewaltfreie Grundposition und die Reflexion des Spannungsverhältnisses zwischen der eigenen österreichischen Geschichte (Mitschuld am Nationalsozialismus und am Holocaust) und seinem Engagement in Palästina und Israel legte. Auf diesen Grundlagen wurden anlässlich einer Vernetzungsveranstaltung 2009 u.a. folgende Grundsätze der Arbeit im palästinensisch-israelischen Konflikt formuliert:
Gewalt in ihren vielfältigen Formen (als direkte, strukturelle und kulturelle Gewalt) wird wahr- und ernstgenommen, was auch die Übernahme von Verantwortung für begangene Gewalt umfasst. Ausgangspunkt gewaltfreien Handelns ist das Leid der von Gewalt Betroffenen.
Gewaltfreier Widerstand gegen Unrecht, Unterdrückung und Verletzung von Menschenrechten, sowie der Dialog mit dem Gegenüber, Empathie und Einsatz für gemeinsame Lösungen sind die zwei Seiten gewaltfreien Handelns.
Eine Analyse von Gewalt und Unrecht aus der Kraft der Wahrheit und auf der Basis menschen- und völkerrechtlicher Prinzipien sowie bestehender Friedensverträge bildet die Grundlage für gewaltfreien Widerstand auf allen Seiten.
Ziel ist nicht der Sieg der einen über die andere Seite, sondern gemeinsame Sicherheit und friedliches Zusammenleben unter Anerkennung der Existenz beider/aller Konfliktbeteiligten in der Region.
Kein Platz für Feindbilder und Stereotype, für antisemitische, antiislamische, rassistische und andere Formen menschenverachtender Ideologien!
Aktive Gewaltfreiheit arbeitet daran, sowohl die Unterdrückten wie die Unterdrücker_innen, Opfer wie Täter_innen, zu befreien, weil beide unter Unrecht und Gewalt leiden und ihr Menschsein so nicht verwirklichen können.
Die konkreten Aktivitäten des österreichischen Versöhnungsbundes zur Förderung eines gerechten Friedens und ein Ende der Besatzung der palästinensischen Gebiete in den letzten Jahren umfassten u.a.:
die Organisation von zweiwöchigen Einsätzen bei der Olivenernte (2004 – 2013) in einer Region, wo palästinensischen Bauern und Bäuerinnen durch Schutzbegleitung und solidarische Teilnahme an der Ernte ermöglicht werden sollte, die Früchte ihres Landes ohne Beeinträchtigung einzubringen, sowie die Vorbereitung der Teilnehmer_innen darauf im Sinne eines gewaltfreien Einsatzes
die österreichische Beteiligung am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Weltkirchenrates seit 2009 (gemeinsam mit der Diakonie Austria und Pax Christi Österreich), in dem internationale Freiwillige für jeweils drei Monate im Westjordanland und in Jerusalem die Situation vor Ort beobachten, über Menschenrechtsverletzungen berichten und versuchen, ein besseres Verständnis der Situation in unseren Gesellschaften zu erreichen und für ein Ende der Besatzung eintreten
die Organisation mehrerer Vortragsreisen von israelischen und palästinensischen gewaltfreien Aktivist_innen in Österreich, bei denen sie gemeinsam für Möglichkeiten zur Beilegung des Konflikts und einem friedlichen Zusammenleben eintraten
die Mitorganisation von Vernetzungstreffen in Österreich, bei denen sich im Konflikt aktive, gewaltfreie Organisationen über ihre Arbeit austauschen und gemeinsame Aktionen planen konnten
gelegentliche Stellungnahmen und Eilaktionen zur politischen Unterstützung von Gewalt oder Vertreibung bedrohter Gemeinschaften (z.B. Beduin_innen im Negev, das Dorf Susiya) bzw. gewaltfreier Aktivist_innen (z.B. israelischen Wehrdienstverweigerer_innen)
für den Herbst dieses Jahres planen der Versöhnungsbund und Pax Christi gemeinsam eine zehntägige Solidaritätsreise nach Palästina und Israel, bei der noch einige Plätze verfügbar sind.
Link zur Webseite Versöhnungsbund-Österreich
Aktueller Hinweis: Am Donnerstag, den 19. Mai 2016, um 19 Uhr, berichtet Irene Benitez im Zentrum für Internationale Entwicklung (C3, Sensengasse 3, 1090 Wien) von ihrem „Einsatz für den Frieden“ in Hebron im Rahmen des EAPPI-Programms!